Ach, ist das eine Gemeinheit. Jetzt haben wir den Film noch immer
nicht gesehen. Und rüberfahren nach USA geht auch nicht, weil die
da den Film in einer zensierten Fassung zeigen. Es sollen ja nackte
Menschen drin vorkommen. Und um Sex geht es auch irgendwie.
Vielleicht. Vielleicht war bei den Dreharbeiten ja aber auch zuviel
Sex im Spiel, so daß man sich jetzt bei der Endschnittfassung etwas
bedeckter halten wollte: Da soll doch glatt der virile Harvey
Keitel bei einer Orgienszene ins Haar von Nicole Kidman abgesprizt
haben; soviel Method-Acting ging dem Ehepaar Cruise entschieden zu
weit, so daß statt des virilen Harvey der sexueller
Hochleistungsakte unverdächtige Regierentner Sidney Pollack
gecastet wurde.
Aber das ist ganz bestimmt nicht wahr, weil ja Warner Bros. Angst
gehabt haben soll, daß Kubrick seinen Film noch im Jahr 2010 nicht
fertiggestellt haben würde und es daher sinnvoll erschien, einen
zweiten Regisseur als Aufpasser am Set zu haben, der notfalls EYES
WIDE SHUT zu Ende drehen könnte bevor der Film budgetmäßig aus dem
Ruder läuft. Warner Bros. konnte aber in Wahrheit gar keine Angst
gehabt haben, weil Kubrick nach 15 Monaten reiner Drehzeit unter
dem veranschlagten Budget geblieben war.
Also ist alles oben gesagte nur Gerücht, aber was soll man schon
machen, wenn man alles über den Film und dessen Dreharbeiten
mitteilen will und rein gar nichts weiß? Man liest hier etwas und
erfährt von dritter, vierter, fünfter Seite dort etwas und weil man
als kompetenter Berichterstatter mit Insiderkenntnissen glänzen
will, verzichtet man gerne auf Formulierungen wie „es hieß“,
„angeblich“ und „ich wünschte, es wäre wahr“.
Willkommen also in der Gerüchteküche! Ich behaupte jetzt einfach
einmal, daß Sidney Pollack nur deswegen für Harvey Keitel gekommen
ist, weil letzterer eine cameo appearance in EYES WIDE SHUT haben
wollte: zu dieser Vermutung gibt das booklet des Film- Soundtracks
Anlaß: da sind doch auf der Innenseite ein paar kleine Bilder
abgedruckt und in einem davon unterhält sich Tom Cruise mit einem
bärtigen Mann, der eine verdächtige Ähnlichkeit mit Harvey Keitel
aufweist. Vielleicht. Vielleicht unterhält sich Cruise da aber mit
dem Regisseur, welcher einen Arzt engagiert haben soll, der Nicole
Kidman zeigte wie man sich richtig eine Heroinspritze setzt. Dumm
nur, daß die Dame keine Drogen nimmt und im Film nur Pot geraucht
wird.
Auch zum Sextherapeuten wurde keiner der Darsteller geschickt,
weil diese Behauptung jetzt gerichtlich untersagt wurde. Also: Tom
und Nicole waren nicht beim Orgasmuslehrer. Auch nicht Sidney
Pollack. Der Fluch des Alters liegt ja darin, daß man dann meist
weiß, wie es geht, aber nicht mehr in der Lage ist, es
umzusetzen.
Oder der Fluch kann darin bestehen, daß man zu jung und zu
beschäftigt ist, um alles auszuprobieren. So mußte Jennifer Jason
Leigh feststellen, daß man bei einem Kubrick-Film seine persönliche
Karriere für die kommenden Jahre lieber nicht planen sollte;
leider, leider aber ging die mit mindestens 20 Filmen noch
vollkommen unerfahrene Schauspielerin irrtümlich davon aus, bei
Kubrick gäbe es nach 120 Wiederholungen pro Szene die Möglichkeit
eines Nachdrehs nicht mehr. Und plötzlich - nachdem jedes Wort,
jeder Blick von ihr auf soviel Zelluloid gebannt war, daß man
dieses locker ein paarmal um den Erdball hätte wickeln können -
wollte/mußte Jennifer dann bei einem anderen Film mitspielen. Keine
Zeit für Nachdrehs und damit Ausszeit für Jennifer.
Glücklicherweise aber hatte Stanley Zeit; soviel Zeit, daß er den
Film nochmal drehen konnte. Ohne Leigh, dafür mit Ersatzkraft Marie
Richardson, die aus Schweden kommt und keiner kennt; Kubrick sah,
daß es gut war und filmte weiter gegen unendlich.
Aber ich übertreibe. Mehr als 100 Takes pro Einstellung waren
selten drin, auch wenn es heißt daß Kubrick mit 150 Wiederholungen
für eine einzige Szene einen neuen persönlichen Rekord augestellt
hat. Solche künstlerische Sorgfalt vertragen manche
gesundheitlich besser als andere. Während Nicole Kidman auch nach
der zigsten Wiederholung noch um einen weiteren Take bat – was für
Kubrick eine völlig neue Erfahrung war – bekam Gatte Tom schon nach
nur ca. 12-monatiger Drehzeit ein Magengeschwür.
Dabei sollten die Dreharbeiten doch der reinste Spaß werden; ja,
es sollte so lustig zugehen, daß ursprünglich Steve Martin die
Rolle von Tom Cruise übernehmen sollte. Kubrick aber hatte es sich
wohl in den Kopf gesetzt, ein echtes Schauspielerehepaar für die
Hauptrollen zu casten. Da der männliche Part des in Betracht
kommenden Ersatzpärchens Kim Basinger/Alec Baldwin einen
bedrohlichen, filmästhetisch stark hinderlichen Bauchansatz zeigte
und Bill und Hilary Clinton gerade der staunenden
Weltöffentlichkeit eine Eigenproduktion präsentierten, blieb dem
Regiegott nichts anderes übrig, als auch den kränkelnden Tom Cruise
zu casten.
Aber Toms Magengeschwür paßt ganz gut zum Film, weil Cruise ja
einen Arzt spielt, doch eben leider keinen Veterinär, so daß er den
Tod von Kubricks Lieblingskatze während der Dreharbeiten nicht
verhindern konnte. Trotzdem durfte er im Film den Namen eines
kernigen Hollywood-Veteranen tragen, wohl weil der Name seiner
Figur aus der Traumnovelle, Fridolin, eher einen Darsteller wie
Martin Short nahegelegt hätte. So wurde Tom Cruise zum verdichteten
Harrison Ford und heißt im Film nun Harford. Jäger der verlorenen
Unschuld. Oder so.
Zu denken gibt uns auch, daß Kubrick offenbar sämtliche
Derrick-Folgen geguckt haben muß, denn er hat doch glatt den
deutschen Film-Beau Sky Dumont gecastet, den Horst Tappert mehrmals
als Verdächtigen totseufzen durfte. Sky Dumont darf mit Nicole
Kidman tanzen, diabolisch grinsen wie Jack Nicholson in SHINING und
über den Höhepunkt seiner bisherigen Karriere, zumindest bis zum
deutschen Filmstart im September, aus vertraglichen Gründen kein
Wort verlieren.
Und vielleicht ist das auch gut so in einer Zeit, in welcher man
einfach seinen Mund nicht mehr halten kann und drauflosplappert,
egal ob es Sinn macht oder nicht. Stanley Kubrick wußte das
natürlich, und ich hatte letzte Nacht einen Traum, in dem er sich
diabolisch die Hände rieb und sich über die ohne sein Zutun
überkochende Gerüchteküche köstlich amüsierte. „In Wahrheit“, sagte
er mir, „war die Sache mit Harvey Keitel nämlich so...“ Und
dann bin ich eyes wide open aufgewacht.
Thomas Schmid
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