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05.08.1999
 
 
   
 

In Dreams
Ein Kubrick Fan im Fieberwahn

 
St. Stanley
     
 
 
 
 

Ach, ist das eine Gemeinheit. Jetzt haben wir den Film noch immer nicht gesehen. Und rüberfahren nach USA geht auch nicht, weil die da den Film in einer zensierten Fassung zeigen. Es sollen ja nackte Menschen drin vorkommen. Und um Sex geht es auch irgendwie. Vielleicht. Vielleicht war bei den Dreharbeiten ja aber auch zuviel Sex im Spiel, so daß man sich jetzt bei der Endschnittfassung etwas bedeckter halten wollte: Da soll doch glatt der virile Harvey Keitel bei einer Orgienszene ins Haar von Nicole Kidman abgesprizt haben; soviel Method-Acting ging dem Ehepaar Cruise entschieden zu weit, so daß statt des virilen Harvey der sexueller Hochleistungsakte unverdächtige Regierentner Sidney Pollack gecastet wurde.

Aber das ist ganz bestimmt nicht wahr, weil ja Warner Bros. Angst gehabt haben soll, daß Kubrick seinen Film noch im Jahr 2010 nicht fertiggestellt haben würde und es daher sinnvoll erschien, einen zweiten Regisseur als Aufpasser am Set zu haben, der notfalls EYES WIDE SHUT zu Ende drehen könnte bevor der Film budgetmäßig aus dem Ruder läuft. Warner Bros. konnte aber in Wahrheit gar keine Angst gehabt haben, weil Kubrick nach 15 Monaten reiner Drehzeit unter dem veranschlagten Budget geblieben war.

Also ist alles oben gesagte nur Gerücht, aber was soll man schon machen, wenn man alles über den Film und dessen Dreharbeiten mitteilen will und rein gar nichts weiß? Man liest hier etwas und erfährt von dritter, vierter, fünfter Seite dort etwas und weil man als kompetenter Berichterstatter mit Insiderkenntnissen glänzen will, verzichtet man gerne auf Formulierungen wie „es hieß“, „angeblich“ und „ich wünschte, es wäre wahr“.

Willkommen also in der Gerüchteküche! Ich behaupte jetzt einfach einmal, daß Sidney Pollack nur deswegen für Harvey Keitel gekommen ist, weil letzterer eine cameo appearance in EYES WIDE SHUT haben wollte: zu dieser Vermutung gibt das booklet des Film- Soundtracks Anlaß: da sind doch auf der Innenseite ein paar kleine Bilder abgedruckt und in einem davon unterhält sich Tom Cruise mit einem bärtigen Mann, der eine verdächtige Ähnlichkeit mit Harvey Keitel aufweist. Vielleicht. Vielleicht unterhält sich Cruise da aber mit dem Regisseur, welcher einen Arzt engagiert haben soll, der Nicole Kidman zeigte wie man sich richtig eine Heroinspritze setzt. Dumm nur, daß die Dame keine Drogen nimmt und im Film nur Pot geraucht wird.

Auch zum Sextherapeuten wurde keiner der Darsteller geschickt, weil diese Behauptung jetzt gerichtlich untersagt wurde. Also: Tom und Nicole waren nicht beim Orgasmuslehrer. Auch nicht Sidney Pollack. Der Fluch des Alters liegt ja darin, daß man dann meist weiß, wie es geht, aber nicht mehr in der Lage ist, es umzusetzen.

Oder der Fluch kann darin bestehen, daß man zu jung und zu beschäftigt ist, um alles auszuprobieren. So mußte Jennifer Jason Leigh feststellen, daß man bei einem Kubrick-Film seine persönliche Karriere für die kommenden Jahre lieber nicht planen sollte; leider, leider aber ging die mit mindestens 20 Filmen noch vollkommen unerfahrene Schauspielerin irrtümlich davon aus, bei Kubrick gäbe es nach 120 Wiederholungen pro Szene die Möglichkeit eines Nachdrehs nicht mehr. Und plötzlich - nachdem jedes Wort, jeder Blick von ihr auf soviel Zelluloid gebannt war, daß man dieses locker ein paarmal um den Erdball hätte wickeln können - wollte/mußte Jennifer dann bei einem anderen Film mitspielen. Keine Zeit für Nachdrehs und damit Ausszeit für Jennifer. Glücklicherweise aber hatte Stanley Zeit; soviel Zeit, daß er den Film nochmal drehen konnte. Ohne Leigh, dafür mit Ersatzkraft Marie Richardson, die aus Schweden kommt und keiner kennt; Kubrick sah, daß es gut war und filmte weiter gegen unendlich.

Aber ich übertreibe. Mehr als 100 Takes pro Einstellung waren selten drin, auch wenn es heißt daß Kubrick mit 150 Wiederholungen für eine einzige Szene einen neuen persönlichen Rekord augestellt hat.
Solche künstlerische Sorgfalt vertragen manche gesundheitlich besser als andere. Während Nicole Kidman auch nach der zigsten Wiederholung noch um einen weiteren Take bat – was für Kubrick eine völlig neue Erfahrung war – bekam Gatte Tom schon nach nur ca. 12-monatiger Drehzeit ein Magengeschwür.

Dabei sollten die Dreharbeiten doch der reinste Spaß werden; ja, es sollte so lustig zugehen, daß ursprünglich Steve Martin die Rolle von Tom Cruise übernehmen sollte. Kubrick aber hatte es sich wohl in den Kopf gesetzt, ein echtes Schauspielerehepaar für die Hauptrollen zu casten. Da der männliche Part des in Betracht kommenden Ersatzpärchens Kim Basinger/Alec Baldwin einen bedrohlichen, filmästhetisch stark hinderlichen Bauchansatz zeigte und Bill und Hilary Clinton gerade der staunenden Weltöffentlichkeit eine Eigenproduktion präsentierten, blieb dem Regiegott nichts anderes übrig, als auch den kränkelnden Tom Cruise zu casten.

Aber Toms Magengeschwür paßt ganz gut zum Film, weil Cruise ja einen Arzt spielt, doch eben leider keinen Veterinär, so daß er den Tod von Kubricks Lieblingskatze während der Dreharbeiten nicht verhindern konnte. Trotzdem durfte er im Film den Namen eines kernigen Hollywood-Veteranen tragen, wohl weil der Name seiner Figur aus der Traumnovelle, Fridolin, eher einen Darsteller wie Martin Short nahegelegt hätte. So wurde Tom Cruise zum verdichteten Harrison Ford und heißt im Film nun Harford. Jäger der verlorenen Unschuld. Oder so.

Zu denken gibt uns auch, daß Kubrick offenbar sämtliche Derrick-Folgen geguckt haben muß, denn er hat doch glatt den deutschen Film-Beau Sky Dumont gecastet, den Horst Tappert mehrmals als Verdächtigen totseufzen durfte. Sky Dumont darf mit Nicole Kidman tanzen, diabolisch grinsen wie Jack Nicholson in SHINING und über den Höhepunkt seiner bisherigen Karriere, zumindest bis zum deutschen Filmstart im September, aus vertraglichen Gründen kein Wort verlieren.

Und vielleicht ist das auch gut so in einer Zeit, in welcher man einfach seinen Mund nicht mehr halten kann und drauflosplappert, egal ob es Sinn macht oder nicht.
Stanley Kubrick wußte das natürlich, und ich hatte letzte Nacht einen Traum, in dem er sich diabolisch die Hände rieb und sich über die ohne sein Zutun überkochende Gerüchteküche köstlich amüsierte. „In Wahrheit“, sagte er mir, „war die Sache mit Harvey Keitel nämlich so...“
Und dann bin ich eyes wide open aufgewacht.

Thomas Schmid

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