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Neorealismus
Eine karge Auswahl deutschen Filmguts bewarb sich um den Münchner Hypo-Preis

  09.07.1998
 
 
 
 


Nachdem die hiesige Filmbranche bei der Berlinale kaum repräsentiert war, und auch in Cannes niemand was von ihren Erzeugnissen wissen wollte, sollte nun endlich die große Stunde des deutschen Filmes ‘98 schlagen. Der Hypopreis, der alljährlich auf dem Münchner Filmfest vergeben wird, gilt als gutes Karrieresprungbrett, das Preisgeld wurde diesmal sogar noch um 20 Tausender auf 80000 Mark aufgestockt, aber selten war die Kandidatenrunde so schwach besetzt wie in diesem Jahr. Die Bewerberfilme erinnerten an eine Versuchsreihe aus dem Heimwerkerhandbuch „Wir basteln einen Genrefilm“.
Dabei mangelte es keineswegs an Selbstvertrauen. Ein schlimmes Beispiel von Selbstüberschätzung bot der Stuntman Hardy Martins, der gerne Bruce Willis sein möchte. Als Regisseur des Abenteuerfilms „Cascadeur“ zeigt er sich selbst auf der Jagd nach dem verschollenen Bernsteinzimmer. Die Filmfest-Leitung konnte sich in den Ankündigungen nicht verkneifen, Martins’ Film Indiana-Jones-Qualität zu bescheinigen. Dies ist eine äußerst sportliche These, denn, ganz abgesehen davon, daß der Vergleich mit Spielbergs verstaubter Filmserie kaum auf eine künstlerische Pionierleistung schließen läßt, übertrifft „Cascadeur“ trotz aufwendiger Radau-Sequenzen an keiner Stelle die dramatische Kraft eines Grundschulweihnachtsspiels. Mit tumben Dialogzeilen wie „Keine Angst, ich bin bei Dir.“ wird Hardy Martins filmische Zipfelschwingerei durch die geballte Blödheit nur zu einer halbwegs vergnüglichen Geschmacksverirrung.
Die anderen nominierten Filme waren zwar intelligenter, aber noch lange nicht preisverdächtig. Achim Bornhak verwechselte in seinem ansehnlichen Thriller „Operation Noah“ Action mit Hektik, René Heisigs „Pauls Reise“ nudelte nur Roadmovie- und Familienfilm-Klischees runter, und der zweite Teil von Ralf Huettners „Musterknaben“ war zwar saukomisch, wird es aber nach dem Flop des Erstlings kaum mehr in die Kinos schaffen. So wurden zum Hypo-Fest in der Muffathalle, wo sich die Vilsmaiers und Potentes des Landes einfanden, als Gewinner die zwei einzig würdigen Bewerber bekanntgegeben. Das Preisgeld teilten sich ein renommierter und ein Hochschulabschlußfilm. Hans-Christian Schmid, der vor zwei Jahren mit „Nach fünf im Urwald“ einen Überraschungserfolg hatte, bot mit dem Hackerkrimi „23“ die kinotauglichste Ware, doch der Ire Eoin Moore, der mit „plusminusnull“ die Ausbildung an der DFFB in Berlin beendete, galt bei den Filmfestbesuchern als die bemerkenswertere Entdeckung. Sein Film beschäftigt sich mit dem kauzigen Berliner Hilfsarbeiter Alex, der sich mit zwei Huren anfreundet. Die eine, Svetlana, will noch schnell viel Geld verdienen, bevor ihre Duldung beendet ist und sie wieder nach Bosnien zurück muß. Ihre Bitte, sie zu heiraten, damit sie in Deutschland bleiben kann, versucht Alex zu überhören, vor allem als er sich in Svetlanas Kollegin Ruth verliebt. Alle Pläne, sein verkorkstes Leben nochmal in die Hand zu nehmen, scheitern schließlich an seiner Unzuverlässigkeit. So geht jeder seiner Wege und Alex zieht weiter zum nächsten Gelgenheitsjob und zur nächsten Notunterkunft. Mit geringstem Aufwand und überragenden Schauspielern hat Eoin Moore ein nüchternes Portrait des Großbaustellen- und Stehausschank-Milieus entworfen. Sein Blick auf die Figuren ist nicht ohne Sympathie, dennoch verzichtet er auf Kleine-Leute-Kitsch und gefällige Auflösungen. Da hat sich ein Regisseur auf seine einfache Geschichte verlassen und sie nicht mit cooler Musik, angeberischen Großaufnahmen und anderem Inszenierungsschnickschnack zerstört. Bleibt zu hoffen, daß „Plusminusnull“ einen wirkungsvollen Verleih findet.

Dem Schaulauf der deutschen Filmprominenz vor den Münchner Festkinos zum Trotz hat sich Berlin zumindest als wichtigste Filmkulisse etabliert. Der Gangsterfilm „Dunckel“ von Lars Kraume und „Angel Express“ von Rolf Peter Kahl riskieren einen Blick darauf. Doch „Dunckel“, der episodisch von der Flucht dreier Brüder nach einem Banküberfall erzählt, fliegt als Sozialdrama spätestens bei dem gestelzten Satz „Du hast deine Autorität verloren, als du zu saufen angefangen hast“ aus der Kurve, während Kahl die Welt, die er für die eigene hält, mit durchgehend abgefucktestem Personal bevölkert. „Angel Express“ mit seinem inflationären Einsatz von City-Zombies ist bestenfalls Neonrealismus oder Ausdruck der neuesten Sachlichkeit, wenn Liebesbeziehungen mit „Du bist out“-Abgebrühtheit beendet werden: „Wenn du nicht mehr ficken kannst, dann ist die Affäre beendet.“ Das größte Problem des deutschen Filmes bleibt, daß man seine Wahrhaftigkeit so leicht überprüfen kann. Denn entweder gibt es die Welt von Kahl und Kraume nicht, oder ich war schon lang nicht mehr in Berlin.

Richard Oehmann

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