Dokumentarfilme haben es nicht leicht in den fixen 90ern.
Wer will sich schon in Zeiten von Infotainment und TV-Zapping
eineinhalb Stunden lang mit dem Tagesablauf von beispielweise-
einer Bäuerin in Kirgisien beschäftigen, oder das fünfeinhalbstündige
Portrait einer afrikanischen Hauptstadt über sich ergehen
lassen ? Dokumentarfilme können stinklangweilig sein, aber
auch ungemein spannend. Und weil man möchte es kaum glauben-
auch Dokumentarfilmer daran interessiert sind, nicht nur jene
5 Hardcorefans im Programmkino zu erreichen, die sich sowieso
einfach alles anschauen, sondern ein breiteres Publikum zu
gewinnen, haben die allermeisten von ihnen längst jene gepflegte
Langeweile und andere Stilmittel des Schulfunks abgelegt,
die noch vor Jahren die meisten Dokumentarfilme geprägt hatten.
Kein Zweifel: Nach langen Jahren des Dahinsichens erlebt der
Dokumentarfilm derzeit einen Boom in vergleichsweise bescheidenem
Rahmen zwar, aber unverkennbar.
Wie spannend Dokumentarfilme sein können, läßt sich in der
kommenden Woche in München verfolgen. Hier findet zum 13.Mal das
"Internationale Dokumentarfilmfestival" statt, mit 150 Filmen eines
der größten Europas, und neben Amsterdam und Marseille das
wichtigste des Kontinents. Ein reiches, vielfältiges Themenspektrum
prägt das Programm. Zur Eröffnung wird "The Big One" gezeigt, ein
Doku-Road-Movie, das auf einer Reise durch die USA die kleinen
Wahrheiten hinter dem großen Wunder des Kapitalismus entdeckt. Sehr
sehenswert im Internationalen Programm ist auch "War Zone", ein
besonders provokatives Projekt: Mit versteckter Kamera beschreibt
Maggie Hadleigh-West die alltäglichen Belästigungen, denen Frauen
in der Männerwelt ausgesetzt sind.
Im Wettbewerb und der Internationalen Reiche laufen nahezu alle
wichtigen Produktionen des vergangenen Jahres. 23 Produktionen sind
im Wettbewerb zu sehen, sie wetteifern gleich um zwei Preise: den
mit 20.000 DM dotierten Preis des Bayerischen Rundfunk und den
Preis für den "besonderen Dokumentarfilm (5.000 DM). Zu den
Wettbewerb-Highlights dürfte auch "A Place called Chiapas" gehören,
der vom brüchigen Frieden in der rebellischen Südprovinz Mexicos
erzählt, sowie "Blue Note", eine Geschichte des Modern Jazz.
Besonders interessant zu werden versprechen zwei biographische
Einblicke in sehr verschiedene Formen von Macho-Heldentum: Jean
Labib schildert in "Yves Montand 'Tu vois, je n'ai pas
oublié...'" wie der Schauspieler/Sänger sein Leben zwischen Frauen,
Filmen und politischem Engagement auf die Reihe bekam ein Märchen
aus dem vergehenden 20.Jahrhundert. Postheroischer ist da "Wild Man
Blues". Barbara Kopple begleitete Woody Allan während einer
Europatournee seiner Jazzband. Hier stimmt der Werbespruch: Woody
Allen wie er noch nie zu sehen war. Eine abgrundtiefe
Selbstentblößung, oder vielleicht auch nur eine andere Art von
Heroismus.
Die Reihe "Neue Filme aus Bayern" stellt traditionell das
Schaffen der hiesigen Regisseure vor. Hier kann man viele
engagierte Projekte entdecken. Beispielsweise "Münchner Freiheit",
der auch schon auf der Berlinale gezeigt wurde. Hier beobachtet der
Münchner Regisseur Harald Rumpf das Leben von 6 Münchner
Obdachlosen über einen Zeitraum von 12 Jahren.
Aber dies alles kommt in Kino, oder wird in den nächsten zwei
Jahren auf arte zu sehen sein. Eine notfalls auch lange- Reise
wert ist das Festival aber in jedem Fall wegen der diesjährigen
Retrospektive. Sie widmet sich dem cubanischen Dokumentarfilm seit
der Revolution. Der Titel "Jenseits der Inselmythen" zeigt die
Absicht der Veranstalter, mit all jenen Vorurteilen aufzuräumen,
durch die die cubanische Realität zwischen verklärter "Zuckerinsel"
einerseits und "komunistischer Hölle" andererseits aus dem Blick
gerät. Vierzig Jahre cubanischer Dokumentarfilm sprechen da eine
andere Sprache: Sie zeugen von einer reichen und toleranten
Filmkultur, die zwischen Avantgarde und Realismus, Sozialkritik und
Propaganda für viele Facetten Platz läßt. Fast 70 Filme werden in
der nächsten Woche gezeigt werden, darunter auch Werke bekannter
Spielfilmregisseure wie Tomás Gutiérrez Alea, Humberto Solas und
Octavio Cortázar.
Es paßt ganz gut zur Möglichkeit, mit Vorurteilen aufzuräumen,
daß das diesjährige Motto "Schauprozesse" heißt. Denn natürlich
soll man das vor allem hintersinnig verstehen: es geht nicht um
irgendwelche Abrechnungen und Vergangenheitsbewältigungen, sondern
um diejenigen Prozesse, die sich in den Zuschauerköpfen
ereignen.
Rüdiger Suchsland
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