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Chinesen früh, Japaner spät
Notizen von der 48. Berlinale (1.Folge)

  19.02.1998
 
 
 
 
Eine riesengroße bunte pralle Kugel hängt über dem Zoopalast. Vielleicht ein Symbol für den Film, der ja irgendwie auch eine riesengroße bunte Kugel ist, die uns allen immer wieder Spaß bereitet ? Womöglich wird sie gleich platzen, und viele bunte Filmchen ausspucken ? Aber nein, es ist nur das Logo des Hauptsponsors, des Fernsehsenders SAT 1, das den Zoopalast erobert hat. "Filmfestspiele - die große Illusion" titelt der "Tagesspiegel", die eine der beiden Möchtegern-Hauptstadtzeitungen zum heutigen Beginn. Doch nicht der alljährlich fällige Selbstverriss der Filmhauptstadt folgt, sondern ein gediegenes Lob jener großen Illusionsmachiene namens Kino.

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Am Abend gab es dann die übliche Eröffnungsveranstaltung. Manfred Kanther, wahrscheinlich zum letzten Mal als Innenminister auf der Veranstaltung, sieht immer noch aus, wie ein Nazi in Hollywoodfilmen. Eberhard Diepgen, der ewig junge ewige Bürgermeister, lächelt wie immer, und eröffnet gnädig die Filmfestspiele. Nur an seiner Frau sieht man, wie alt Diepgen wirklich ist. Und Helmut Kohl ist auch da. Zumindest der Helmut Kohl der Berlinale, der hier Moritz de Hadeln heißt, Festivalchef ist, und mit dem Kanzler außer der Leibesfülle auch das Selbstbewußtsein und die special relationship zu den Medien teilt. Freilich: de Hadelns Charme ist weniger diskret als der des Pfälzers, und deswegen strahlt er in guten Momenten auch echten Glamour aus. Er ist einer der wenigen, den man sich auch in Cannes oder Hollywood vorstellen könnte, und wenn es nur nach ihm ginge, hätten auch die Filmfestspiele mehr Glamour.

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Nur für Eingeweihte zu entschlüsseln ist das Programm. Man möchte gar nicht wissen, wie jemand, der zum ersten Mal hier ist, und keine berlinaleerprobten Helfer hat, sich zurechtfinden soll. Gottseidank sind wir selbst richtig erfahrene Filmkritiker und schlendern cool wie Bogie durch den Gang des Intercontinental. Dort im Pressezentrum funktioniert mal wieder nichts, die Mitarbeiter sind nett, aber daß weder e-mail, noch Internetanschluß funktionieren, können auch sie nicht ändern. Bei der Telekom funktioniert wenigstens die e-mail, sogar kostenlos. Für das Fax erklärt die junge Frau am Schalter, braucht man eine nummerierte Karte, und die bekommt man, wenn man einen Vertrag mit der Telekom schließt, und seine Kreditkartennummer angibt. Aber ich will nur ein einziges Fax versenden, und es muß leider schnell gehen, weil gleich Redaktionsschluß ist. Außerdem habe ich keine Kreditkarte. "Die anderen Kollegen haben es auch so gemacht" sagt sie, und blickt stalinistisch unflexibel. Ich versuche freundlich zu bleiben, werde aber nervös, und überlege, ob sie überhaupt das Wort "Dienstleistung" buchstabieren kann, weiß, was ein Redaktionsschluß ist, und bin überdies sicher, daß sie "aus dem Osten" kommt. Da erscheint eine ältere Kollegin, mütterlich-professionell wie in einem kitschigen Hollywoodfilm. "Worum geht's ?" Ein Satz von mir, knapp wie Bogie. "Klar machen wir schnell", und nach 20 Sekunden ist das Fax durch, ohne Vertrag und ohne Kreditkarte. Alles filmreif, die Szene könnte aus einer netten deutschen Komödie stammen. Geld will sie auch nach zweimaligem Nachfragen nicht. Praktizierte Solidarität. Vielleicht kommt sie ja "aus dem Osten" ?

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Die Schreckensnachricht gleich zu Anfang: Robert de Niro ist in Paris verhaftet worden. "Kommt er oder kommt er nicht?", lautet von jetzt an die bange Frage. Denn immerhin ist de Niro gleich mit drei Filmen vertreten. "Kommt XY oder kommt XY nicht?" ist sowieso eine der beliebtesten Berlinale-Fragen. Beispielsweise Quentin Tarantino und Bridget Fonda. Tarantinos neuer Film, "Jackie Brown" läuft am Dienstag im Wettbewerb. Bridget Fonda spielt mit, und hat wunderbare gemeinsame Szenen mit de Niro. Das Selbstbewußtsein der Berlinale-Verantwortlichen ist so unerschüttert nicht, wie man hier gern tut. Deswegen braucht man die Stars, damit sich auch alle selber glauben, daß die Berlinale wirklich wichtig ist.

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Gekommen ist immerhin Curt Siodmak. Gemeinsam mit seinem verstorbenen Bruder Robert, wird der alte freundliche Herr in der Retrospektive geehrt. Irgendwie hat man den Eindruck, daß die beiden, Robert und Curt, ziemlich wenig gemeinsam haben, und ihre Rivalität viel größer war, als es das einträchtige Nebeneinander vermuten läßt. Robert, der ältere, hat bestimmt die besseren Filme gemacht. Aber sympathischer ist Curt, der verspielte, dandyhafte, der nicht nur die Werwolf-Figur fürs Kino erfunden hat, sondern auch einige wirklich witzige Science-Fiction Storys schrieb.

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Im Gegensatz zum letzten Jahr hört man diesmal kaum etwas von aufwendigen Premierenpartys. Die Filme sind scheinbar zu interessant, um die Zeit auf Partys zu verplempern, die außer kostenlosen Buffets selten Interessantes zu bieten haben. Und außerdem müssen wir alle früh, also vor drei Uhr ins Bett, damit wir am nächsten Morgen die Wettbewerbsfilme nicht verpassen. Die ersten Pressevorführungen beginnen spätestens um 9.30 Uhr. Meist sind es die Streifen aus Asien oder Lateinamerika, die dann laufen, während die Filme der Coen-Brüder, von Tarantino und aus Europa meist auf die attraktiveren Termine um 12 und um 15 Uhr gesetzt werden. Jacqueline, eine französische Kollegin, die seit 20 Jahren von der Berlinale berichtet, erzählt, daß sie schon manchen Preisträger verpaßt habe, weil sie erst zur zweiten Vorstellung hingegangen ist. Filme aus Japan, von denen in diesem Jahr viele in Berlin zu sehen sind, kommen hingegen oft in den letzten Vorstellungen, um 23 Uhr oder in den "Mitternachtsfilmen" im delphi-Kino, die Kultcharakter haben. "So spät halt ich keinen japanischen Film mehr aus" meint Christiane, die auch akkreditiert ist, zu den Anfangszeiten. Aber es hilft nichts: Chinesen früh, Japaner spät heißt der Rhythmus also diesmal, dazwischen Europäer und Amerikaner.

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"Die Japaner" sagte Moritz de Hadeln, "die Japaner haben ja offenbar ein anderes Verhältnis zu Sex und Gewalt". "Kichiku dai Enkai", auf deutsch etwa "Gelage der Unmenschen" hieß der Panorama-Film, zu dem der Berlinale-Chef und Hobby-Ethnologe eigens kurz vor Mitternacht erschienen war, nicht zuletzt um die Zuschauer vor "sadistischen Szenen" zu warnen, und allen, die jetzt gleich gehen mochten, ihr Geld zurück und einen Kaffee auszugeben. Natürlich wollte niemand gehen, spätestens als de Hadeln noch hinzufügte, "sogar beim Festival in Tokio" habe man den Film verboten - obwohl die Japaner ja bekanntlich... Gut das es die Berlinale gibt, und de Hadeln, der endlich einmal den Retter der Filmfreiheit geben konnte. Was nun folgte, war eine Art künstlerisch wertvoller Splatterfilm. Minutenlang pulsiert munter das Blut aus einem halb weggeschossenen Kopf, zwei Männer werden kastriert, und am Ende haben sich alle sieben Protagonisten auf ziemlich anstrengend-anspruchsvolle Art und Weise niedergemetzelt. Das alles vor einer riesigen japanischen Flagge und im Milieu einer linksradikalen Studentengruppe. Trotzdem schüttelt Regisseur Kazuyoshi Kumakiri auf entsprechende Nachfragen den Kopf und nimmt die Pose des coolen Desinteressierten ein, die unter jungen Gegenwartskünstlern so beliebt ist. Nein, nein, politisch sei sein Film ganz und gar nicht.

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Unzweifelbar politisch sind dagegen die beiden Wettbewerbs-Filme aus Irland. Jim Sheridans "The Boxer" scheut nicht vor Pathos zurück. Eine dynamisch erzählte, gute Geschichte und mit Emily Watson eine bezaubernde Hauptdarstellerin, der ihre Rolle auf den Leib geschnitten scheint. Und hochpolitisch, denn sie schildert die inneren Nöte und Kämpfe der Belfaster IRA-Aktivisten. Auch Neil Jordan erzählt in "The Butcher Boy", der auch eine Komödie ist, in erster Linie eine erschütternde Geschichte. Das tragische Schicksal eines Jungen in den frühen 60ern. Die alte Frage fällt einem wieder ein: Braucht man erst Not und Gewalt, damit Kunst nicht nur um sich selbst kreist, sondern sich ihrer eigenen Zeit annimmt ? Es scheint so.

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Eine neue Langsamkeit breitet sich im Gegenwarts-Kino aus. Die Dynamik des letzten Jahrzehnts scheint mit einem Mal passé. Ob bei Neil Jordan ("The Butcher Boy"), bei Quentin Tarantino ("Jackie Brown") oder bei den Coen Brüdern ("The Big Lebowski"): alles dauert und dauert, es wird viel, oft zuviel geredet ohne das etwas passiert, und letztlich könnte man aus allen diesen jeweils fast dreistündigen Filmen eine halbe bis eine Stunde herausschneiden.
Wer dann noch die Siodmak-Retrospektive besucht, und sieht, wie viel sich in knapp 90 Minuten erzählen läßt, mit welcher Intensität und epischen Kraft das geschieht, dem kommen die neuen Filme oft ausgeleiert vor. Als ob da die Regisseure kein Ende finden, selbstverliebt und undiszipliniert noch jede nette Idee in den Film einbauen. Diese zweifellos bisher besten Filme im Wettbewerb, wirken dann in ihren Geschichten auch entsprechend dünn. Bei Tarantino und den Coens sind sie fast reine Vorwände, um skurile Figuren und coole Situationen vorzuführen.

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"Quality seems to be where the action is" – so steht es jedenfalls im Programmheft zum Film: "Blood Guts Bullets & Octane". Ein schöner Titel. Leider ist das auch schon alles, denn Regisseur Joe Carnahan hat sich offenbar das "Handbuch zum Gewinn eines Sundance Filmfestivalpreises" gekauft (im Sonderangebot bei Amazone für 20$), und dann etwa 100g Rodriguez mit 50g Tarantino und einer Prise Oliver Stone zu einer zähen, wahnsinnig geschwätzigen Masse verrührt. Etwa die Hälfte der Zuschauer hat keine Lust sich das bis zum Ende anzuschauen, soviel hat man selten im delphi-Kino aus einem Film gehen sehen. "Quality seems to be where the action is". Yeah, but where's the action ?

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Die Japaner haben offenbar nicht nur ein anderes Verhältnis zu Sex und Gewalt, sondern auch zu den Filmfestspielen. Wo alle anderen Stars ausbleiben, und Robert de Niro sich sogar in Paris verhaften läßt, um vielleicht dem Trip nach Berlin doch noch zu entgehen, sind Regisseure und Schauspieler aus Japan zu Hauf erschienen. Ganz wie man es sich vorstellt, haben viele von ihnen kleine Kameras dabei, mit denen sie andauernd fotografieren. Regisseur Sabu fotografierte sogar sich selbst vor seinem Publikum. Ob er das nun nur deswegen tat, weil Japaner halt so nett und kauzig sind, und ein anderes Verhältnis zu Sex und Gewalt haben, oder weil er mit der Berlinale-Teilnahme in Japan gut Werbung machen kann, lassen wir einmal für heute dahingestellt.

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Tarantino ist natürlich nicht gekommen, Bridget Fonda leider auch nicht, und so müssen wir uns mit Marianne Sägebrecht begnügen. Das klingt jetzt negativer, als es ist, aber Bridget Fonda wäre natürlich schon... Sei's drum. Der Wettbewerb läuft weiter, ohne das ein klarer Favorit in Sicht wäre. Taktisch gesehen könnte es ein Chinese werden, "hoffentlich nicht" sagt Jacqueline, denn sie hat zweimal verschlafen. Die Chance, alles wieder gut zu machen, gibt es schon morgen: "Xiu Xiu" läuft dann, von Joan Chen, die einst in Twin Peaks mitgespielt hat. Die Augenringe werden dicker, heute Abend bekommt Catherine Deneuve ihren goldenen Bären, und wir schauen uns dazu "Der Ekel" an. "Endlich mal kein Japaner" sagt Christiane.

(Fortsetzung folgt)

Rüdiger Suchsland

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