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Eine riesengroße bunte pralle Kugel
hängt über dem Zoopalast. Vielleicht ein Symbol für den Film, der ja
irgendwie auch eine riesengroße bunte Kugel ist, die uns allen immer
wieder Spaß bereitet ? Womöglich wird sie gleich platzen, und viele
bunte Filmchen ausspucken ? Aber nein, es ist nur das Logo des
Hauptsponsors, des Fernsehsenders SAT 1, das den Zoopalast erobert
hat. "Filmfestspiele - die große Illusion" titelt der
"Tagesspiegel", die eine der beiden Möchtegern-Hauptstadtzeitungen
zum heutigen Beginn. Doch nicht der alljährlich fällige
Selbstverriss der Filmhauptstadt folgt, sondern ein gediegenes Lob
jener großen Illusionsmachiene namens Kino.
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Am Abend gab es dann die übliche Eröffnungsveranstaltung. Manfred
Kanther, wahrscheinlich zum letzten Mal als Innenminister auf der
Veranstaltung, sieht immer noch aus, wie ein Nazi in
Hollywoodfilmen. Eberhard Diepgen, der ewig junge ewige
Bürgermeister, lächelt wie immer, und eröffnet gnädig die
Filmfestspiele. Nur an seiner Frau sieht man, wie alt Diepgen
wirklich ist. Und Helmut Kohl ist auch da. Zumindest der Helmut
Kohl der Berlinale, der hier Moritz de Hadeln heißt, Festivalchef
ist, und mit dem Kanzler außer der Leibesfülle auch das
Selbstbewußtsein und die special relationship zu den Medien teilt.
Freilich: de Hadelns Charme ist weniger diskret als der des
Pfälzers, und deswegen strahlt er in guten Momenten auch echten
Glamour aus. Er ist einer der wenigen, den man sich auch in Cannes
oder Hollywood vorstellen könnte, und wenn es nur nach ihm ginge,
hätten auch die Filmfestspiele mehr Glamour.
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Nur für Eingeweihte zu entschlüsseln ist das Programm. Man möchte
gar nicht wissen, wie jemand, der zum ersten Mal hier ist, und
keine berlinaleerprobten Helfer hat, sich zurechtfinden soll.
Gottseidank sind wir selbst richtig erfahrene Filmkritiker und
schlendern cool wie Bogie durch den Gang des Intercontinental. Dort
im Pressezentrum funktioniert mal wieder nichts, die Mitarbeiter
sind nett, aber daß weder e-mail, noch Internetanschluß
funktionieren, können auch sie nicht ändern. Bei der Telekom
funktioniert wenigstens die e-mail, sogar kostenlos. Für das Fax
erklärt die junge Frau am Schalter, braucht man eine nummerierte
Karte, und die bekommt man, wenn man einen Vertrag mit der Telekom
schließt, und seine Kreditkartennummer angibt. Aber ich will nur
ein einziges Fax versenden, und es muß leider schnell gehen, weil
gleich Redaktionsschluß ist. Außerdem habe ich keine Kreditkarte.
"Die anderen Kollegen haben es auch so gemacht" sagt sie, und
blickt stalinistisch unflexibel. Ich versuche freundlich zu
bleiben, werde aber nervös, und überlege, ob sie überhaupt das Wort
"Dienstleistung" buchstabieren kann, weiß, was ein Redaktionsschluß
ist, und bin überdies sicher, daß sie "aus dem Osten" kommt. Da
erscheint eine ältere Kollegin, mütterlich-professionell wie in
einem kitschigen Hollywoodfilm. "Worum geht's ?" Ein Satz von mir,
knapp wie Bogie. "Klar machen wir schnell", und nach 20 Sekunden
ist das Fax durch, ohne Vertrag und ohne Kreditkarte. Alles
filmreif, die Szene könnte aus einer netten deutschen Komödie
stammen. Geld will sie auch nach zweimaligem Nachfragen nicht.
Praktizierte Solidarität. Vielleicht kommt sie ja "aus dem Osten" ?
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Die Schreckensnachricht gleich zu Anfang: Robert de Niro ist in
Paris verhaftet worden. "Kommt er oder kommt er nicht?", lautet von
jetzt an die bange Frage. Denn immerhin ist de Niro gleich mit drei
Filmen vertreten. "Kommt XY oder kommt XY nicht?" ist sowieso eine
der beliebtesten Berlinale-Fragen. Beispielsweise Quentin Tarantino
und Bridget Fonda. Tarantinos neuer Film, "Jackie Brown" läuft am
Dienstag im Wettbewerb. Bridget Fonda spielt mit, und hat
wunderbare gemeinsame Szenen mit de Niro. Das Selbstbewußtsein der
Berlinale-Verantwortlichen ist so unerschüttert nicht, wie man hier
gern tut. Deswegen braucht man die Stars, damit sich auch alle
selber glauben, daß die Berlinale wirklich wichtig ist.
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Gekommen ist immerhin Curt Siodmak. Gemeinsam mit seinem
verstorbenen Bruder Robert, wird der alte freundliche Herr in der
Retrospektive geehrt. Irgendwie hat man den Eindruck, daß die
beiden, Robert und Curt, ziemlich wenig gemeinsam haben, und ihre
Rivalität viel größer war, als es das einträchtige Nebeneinander
vermuten läßt. Robert, der ältere, hat bestimmt die besseren Filme
gemacht. Aber sympathischer ist Curt, der verspielte, dandyhafte,
der nicht nur die Werwolf-Figur fürs Kino erfunden hat, sondern
auch einige wirklich witzige Science-Fiction Storys schrieb.
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Im Gegensatz zum letzten Jahr hört man diesmal kaum etwas von
aufwendigen Premierenpartys. Die Filme sind scheinbar zu
interessant, um die Zeit auf Partys zu verplempern, die außer
kostenlosen Buffets selten Interessantes zu bieten haben. Und
außerdem müssen wir alle früh, also vor drei Uhr ins Bett, damit
wir am nächsten Morgen die Wettbewerbsfilme nicht verpassen. Die
ersten Pressevorführungen beginnen spätestens um 9.30 Uhr. Meist
sind es die Streifen aus Asien oder Lateinamerika, die dann laufen,
während die Filme der Coen-Brüder, von Tarantino und aus Europa
meist auf die attraktiveren Termine um 12 und um 15 Uhr gesetzt
werden. Jacqueline, eine französische Kollegin, die seit 20 Jahren
von der Berlinale berichtet, erzählt, daß sie schon manchen
Preisträger verpaßt habe, weil sie erst zur zweiten Vorstellung
hingegangen ist. Filme aus Japan, von denen in diesem Jahr viele in
Berlin zu sehen sind, kommen hingegen oft in den letzten
Vorstellungen, um 23 Uhr oder in den "Mitternachtsfilmen" im
delphi-Kino, die Kultcharakter haben. "So spät halt ich keinen
japanischen Film mehr aus" meint Christiane, die auch akkreditiert
ist, zu den Anfangszeiten. Aber es hilft nichts: Chinesen früh,
Japaner spät heißt der Rhythmus also diesmal, dazwischen Europäer
und Amerikaner.
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"Die Japaner" sagte Moritz de Hadeln, "die Japaner haben ja
offenbar ein anderes Verhältnis zu Sex und Gewalt". "Kichiku dai
Enkai", auf deutsch etwa "Gelage der Unmenschen" hieß der
Panorama-Film, zu dem der Berlinale-Chef und Hobby-Ethnologe eigens
kurz vor Mitternacht erschienen war, nicht zuletzt um die Zuschauer
vor "sadistischen Szenen" zu warnen, und allen, die jetzt gleich
gehen mochten, ihr Geld zurück und einen Kaffee auszugeben.
Natürlich wollte niemand gehen, spätestens als de Hadeln noch
hinzufügte, "sogar beim Festival in Tokio" habe man den Film
verboten - obwohl die Japaner ja bekanntlich... Gut das es die
Berlinale gibt, und de Hadeln, der endlich einmal den Retter der
Filmfreiheit geben konnte. Was nun folgte, war eine Art
künstlerisch wertvoller Splatterfilm. Minutenlang pulsiert munter
das Blut aus einem halb weggeschossenen Kopf, zwei Männer werden
kastriert, und am Ende haben sich alle sieben Protagonisten auf
ziemlich anstrengend-anspruchsvolle Art und Weise niedergemetzelt.
Das alles vor einer riesigen japanischen Flagge und im Milieu einer
linksradikalen Studentengruppe. Trotzdem schüttelt Regisseur
Kazuyoshi Kumakiri auf entsprechende Nachfragen den Kopf und nimmt
die Pose des coolen Desinteressierten ein, die unter jungen
Gegenwartskünstlern so beliebt ist. Nein, nein, politisch sei sein
Film ganz und gar nicht.
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Unzweifelbar politisch sind dagegen die beiden Wettbewerbs-Filme
aus Irland. Jim Sheridans "The Boxer" scheut nicht vor Pathos
zurück. Eine dynamisch erzählte, gute Geschichte und mit Emily
Watson eine bezaubernde Hauptdarstellerin, der ihre Rolle auf den
Leib geschnitten scheint. Und hochpolitisch, denn sie schildert die
inneren Nöte und Kämpfe der Belfaster IRA-Aktivisten. Auch Neil
Jordan erzählt in "The Butcher Boy", der auch eine Komödie ist, in
erster Linie eine erschütternde Geschichte. Das tragische Schicksal
eines Jungen in den frühen 60ern. Die alte Frage fällt einem wieder
ein: Braucht man erst Not und Gewalt, damit Kunst nicht nur um sich
selbst kreist, sondern sich ihrer eigenen Zeit annimmt ? Es scheint
so.
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Eine neue Langsamkeit breitet sich im Gegenwarts-Kino aus. Die
Dynamik des letzten Jahrzehnts scheint mit einem Mal passé. Ob bei
Neil Jordan ("The Butcher Boy"), bei Quentin Tarantino ("Jackie
Brown") oder bei den Coen Brüdern ("The Big Lebowski"): alles
dauert und dauert, es wird viel, oft zuviel geredet ohne das etwas
passiert, und letztlich könnte man aus allen diesen jeweils fast
dreistündigen Filmen eine halbe bis eine Stunde herausschneiden.
Wer dann noch die Siodmak-Retrospektive besucht, und sieht, wie
viel sich in knapp 90 Minuten erzählen läßt, mit welcher Intensität
und epischen Kraft das geschieht, dem kommen die neuen Filme oft
ausgeleiert vor. Als ob da die Regisseure kein Ende finden,
selbstverliebt und undiszipliniert noch jede nette Idee in den Film
einbauen. Diese zweifellos bisher besten Filme im Wettbewerb,
wirken dann in ihren Geschichten auch entsprechend dünn. Bei
Tarantino und den Coens sind sie fast reine Vorwände, um skurile
Figuren und coole Situationen vorzuführen.
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"Quality seems to be where the action is" – so steht es
jedenfalls im Programmheft zum Film: "Blood Guts Bullets &
Octane". Ein schöner Titel. Leider ist das auch schon alles, denn
Regisseur Joe Carnahan hat sich offenbar das "Handbuch zum Gewinn
eines Sundance Filmfestivalpreises" gekauft (im Sonderangebot bei
Amazone für 20$), und dann etwa 100g Rodriguez mit 50g Tarantino
und einer Prise Oliver Stone zu einer zähen, wahnsinnig
geschwätzigen Masse verrührt. Etwa die Hälfte der Zuschauer hat
keine Lust sich das bis zum Ende anzuschauen, soviel hat man selten
im delphi-Kino aus einem Film gehen sehen. "Quality seems to be
where the action is". Yeah, but where's the action ?
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Die Japaner haben offenbar nicht nur ein anderes Verhältnis zu
Sex und Gewalt, sondern auch zu den Filmfestspielen. Wo alle
anderen Stars ausbleiben, und Robert de Niro sich sogar in Paris
verhaften läßt, um vielleicht dem Trip nach Berlin doch noch zu
entgehen, sind Regisseure und Schauspieler aus Japan zu Hauf
erschienen. Ganz wie man es sich vorstellt, haben viele von ihnen
kleine Kameras dabei, mit denen sie andauernd fotografieren.
Regisseur Sabu fotografierte sogar sich selbst vor seinem Publikum.
Ob er das nun nur deswegen tat, weil Japaner halt so nett und
kauzig sind, und ein anderes Verhältnis zu Sex und Gewalt haben,
oder weil er mit der Berlinale-Teilnahme in Japan gut Werbung
machen kann, lassen wir einmal für heute dahingestellt.
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Tarantino ist natürlich nicht gekommen, Bridget Fonda leider auch
nicht, und so müssen wir uns mit Marianne Sägebrecht begnügen. Das
klingt jetzt negativer, als es ist, aber Bridget Fonda wäre
natürlich schon... Sei's drum. Der Wettbewerb läuft weiter, ohne
das ein klarer Favorit in Sicht wäre. Taktisch gesehen könnte es
ein Chinese werden, "hoffentlich nicht" sagt Jacqueline, denn sie
hat zweimal verschlafen. Die Chance, alles wieder gut zu machen,
gibt es schon morgen: "Xiu Xiu" läuft dann, von Joan Chen, die
einst in Twin Peaks mitgespielt hat. Die Augenringe werden dicker,
heute Abend bekommt Catherine Deneuve ihren goldenen Bären, und wir
schauen uns dazu "Der Ekel" an. "Endlich mal kein Japaner" sagt
Christiane.
(Fortsetzung folgt)
Rüdiger
Suchsland
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