Der Ruf dieses Filmemachers eilt ihm meilenweit voraus —
zumindest in bestimmten Kreisen, jedoch mit unterschiedlichen
Konnotationen. Er ist die Ikone des zeitgenössischen deutschen
Horrorfilms, sofern dieser überhaupt existiert, der Schrecken (oder
das Vergnügen?) der Staatsanwälte und Möchtegernzensoren von
Norwegen bis Indonesien und deswegen einer der Lieblinge des
Werkstattkinos. Kennt man seinen Namen nur von Filmplakaten,
Artikeln und Gesprächen über seine Filme, setzen sich Bilder des
nekrophilen Splatter-Overkills zu einer geheimnisvollen Aura
zusammen. Ich kenn' den Bruder, dessen Schwester hat 'nen Freund,
der früher 'mal 'nen Buttgereit-Film gesehen hat. Oder so ähnlich.
Kurzum, dieser Mythos besteht zu großen Teilen aus Texten über ihn.
Denn die Filme von Jörg Buttgereit wurden noch nie professionell
verliehen, und so erreichten sie bis jetzt nur sehr wenige
Kinogänger. Von NEKROMANTIK, der 1987 auf 16mm gedreht und seit
1988 gespielt wurde, existiert erst seit kurzem eine 35mm-Kopie,
die bis dato dreimal vorgeführt wurde.
Sieht man dann zum ersten Mal NEKROMANTIK oder SCHRAMM, so wie
das letzten Donnerstag im Cinerama möglich war, wundert man sich.
Über die Filme, die Zensoren und die Erwartungen. Die inneren
Bilder des Ekels und Schreckens sind oft stärker und größer als die
Filme, auch wenn der Regisseur Buttgereit heißt.
NEKROMANTIK handelt von der Liebe eines Pärchens zu Leichen und
deren Resten. Robert Schmadtke arbeitet bei "Joe's
Säuberungsaktion", einer Firma, die Tote von Straßen und aus
Vorgärten entfernt und dabei mehr an eine Müllabfuhr als an ein
Beerdigungsunternehmen erinnert. Durch diesen Job gelingt es Robert
immer wieder die Objekte seiner Begierde nach Hause zu schmuggeln.
Verblüffend ist zunächst, daß der Film sichtbar mit geringsten
finanziellen Mitteln produziert wurde. NEKROMANTIK wartet nicht mit
einer Orgie von Spezialeffekten auf, und man bekommt nur eine
eindeutige Splatter-Szene zu sehen. So erinnert der Film nicht
allein durch seine Musik an eine andere Legende des Splatter-Films,
der auch keiner ist: THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE. Beide Filme
könnte man wohl eher als experimentellen Horror bezeichnen, ohne
deren Parallelen überzustrapazieren, denn TEXAS CHAINSAW MASSACRE
erzählt seine Geschichte mit sicherem Stilwillen. Die streckenweise
unsichere Kameraführung und die Darstellungen der Schauspieler in
NEKROMANTIK erinnern an Bewerbungsfilme für Hochschulen, was nicht
abwertend sein soll, sondern nur die Ebene der Produktion
verdeutlicht: Hier haben einige enthusiastische Amateure und
Autodidakten viel Arbeit investiert, ohne dabei monetären Lohn
erhalten zu haben. (Artechock, ick hör' dir trappsen!) Dies
verleiht dem Film, fast zwangsläufig, Charme und eine gewisse
Selbstironie, auch wenn Buttgereit sagt, er wollte sich keinen Jux
machen. Aber das vermittelt NEKROMANTIK ebenso. Vor allem in
Szenen, die von anderen Begierden und der Nähe von Sexualität und
Tod erzählen: Wie die Freundin von Schmadtke mit der Leiche
verkehrt, von einem Metallstab unterstützt, oder Schmadtke über
eine Prostituierte herfällt, nachdem er sie ermordet hat.
Besonders ernsthaft wird es allerdings, wenn sich Buttgereit als
Bilderstürmer versucht und er Schmadtke eine Jesusfigur ans Kreuz
nageln läßt. Von allen Fesseln des Katholizismus befreit, hüpft
Schmadtke dann fröhlich über Wiesen, um sich danach ein Messer in
den Bauch zu rammen. Sterbend, in einem monströsen Orgasmus,
verspritzt er Sperma und Blut in größeren Mengen - alles sehr
katholisch und gleichzeitig ein 'französisches' Bild für den
sexuellen Höhepunkt: "der kleine Tod". Die Naivität, mit der alles
gezeigt wird, ist erstaunlich, hier ist Buttgereit wirklich mutig -
oder war da nicht doch ein ironisches Grinsen?
Die Staatsanwaltschaft konnte jedenfalls nicht mehr lachen und
zog den Film vor ein paar Jahren ein. Buttgereit ging vor Gericht
und gewann. Was er sich vor allem dadurch erklärt, daß er selbst
den Film von Beginn an, ohne den Umweg über die Freiwillige
Selbstkontrolle, als nicht jugendfrei indizierte. Eine Gefährdung
der Jugend lag also nicht vor.
Buttgereit erzählte, daß eine der Ausgangsideen für den Film
darin bestand, zu versuchen wie weit man gesellschaftliche Grenzen
der Moral überschreiten kann. Er hat das nicht getan, indem er eine
derbe Szene an die andere reiht, sondern er versucht mit seiner
Geschichte, dem Publikum Verständnis für die abnormen Figuren
abzuringen. Mit NEKROMANTIK ist Buttgereit vielleicht gescheitert,
bei SCHRAMM gelang es ihm besser. In jedem Fall sollte die
Gesellschaft dieser Zeit aufgeklärt genug sein, um ihre Grenzen
kritisch zu reflektieren. Natürlich sind Konflikte mit den
herrschenden Institutionen programmiert, aber in diesem Fall
stellte sich heraus, daß die Vertreter dieser Institutionen doch
nicht immer so undemokratisch handeln, wie man das oft annimmt.
Solange aber bestimmte Filme nicht aufgeführt werden dürfen, bleibt
die Quasizensur in einem Land ohne offizielle Zensur weiter ein
umstrittenes Thema.
SCHRAMM wurde von der deutschen Kritik und Staatsanwaltschaft
wohlwollender aufgenommen. Der 1992 für 40.000 Mark produzierte
Film spiegelt die (Innen-)Welt des Serienmörders Schramm wieder.
Handwerklich ausgereifter, thematisiert der Film wieder die
Grenzüberschreitung. Der Serienmörder ist nicht das Monster,
sondern der Mann von nebenan, mit mehr Halluzinationen als die
anderen, abstrusen Kastrationsängsten, aber auch sympathischen
Seiten - offensichtlich mag er keine Missionare der Zeugen Jehovas.
Schramm verliebt sich in seine Nachbarin, eine Prostituierte, und
beide hätten zu einem Paar werden können, daß Bonnie und Clyde in
den Schatten stellt. Aber Schramm kann sich ihr nicht offenbaren
und so nimmt alles seinen tragischen Verlauf. Insgesamt vermittelt
der Film eine Atmosphäre, die mehr an ERASERHEAD von David Lynch,
als an einen Serienmörderfilm erinnert.
Buttgereit erläuterte, eine Motivation, SCHRAMM zu drehen, war
seine Reaktion auf DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER. In Jonathan Demmes
Film sah Buttgereit vor allem eine Werbung für das FBI und eine
Diskriminierung der Homosexuellen als Perverse. So wurde der Film
auch von der amerikanischen Homosexuellenbewegung interpretiert,
die dann ihre Kritik am Film für die Schwulendebatte
instrumentalisierte. Meines Erachtens machten sie es sich mit ihrer
Interpretation zu einfach - genauso wie Buttgereit. (Für
Interessierte an diesem Diskurs: Janet Staiger: Taboos and Totems:
Cultural Meanings of The Silence of the Lambs, in: Collins u.a.:
Film Theory goes to the Movies, 1993, Routledge) Daß DAS SCHWEIGEN
DER LÄMMER auf mehrere, sehr unterschiedliche Weisen interpretiert
werden kann, läßt sich in Klaus Theweleits hervorragendem Aufsatz
"Sirenenschweigen, Polizistengesänge" nachlesen. (In: Andreas Rost
(Hrsg.): Bilder der Gewalt, 1994, Verlag der Autoren - siehe auch
die "Reden über Film"-Rubrik in Artechock)
Jörg Buttgereit erscheint ein wenig wie der Zauberer von Oz: Der
Mythos ist viel größer als er und seine Filme. Dazu haben nicht nur
Medien- und Gerichtsrummel, sondern auch die Filme beigetragen.
Aufzufallen ist nicht die schlechteste Strategie, wenn man sich mit
ein paar Filmkopien, gegen die Massenfilmstarts der großen
Verleihe, Gehör und Auge verschaffen muß. Das garantiert jedoch
keinen Erfolg. Für den sehr persönlichen Kurzfilm MEIN PAPI hat
Buttgereit zwar mittlerweile seinen ersten Filmpreis erhalten,
trotzdem ist die Finanzierung seiner neuen Projekte noch nicht
geklärt.
Max Herrmann
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