Jedes Jahr das gleiche Spiel: Viele Filmfreunde haben
genug von den austauschbaren, atavistischen Machwerken der
kalifornischen Traumfabrik. Noch einmal die „Nackte Kanone",
Teil 17, noch einmal „Batman", Version, 7,5? Nein, dann doch
lieber zum zwölften Münchner Dokumentarfilmfestival (25.04-4.05.).
Es lebe die Realität! Schluß mit den eskapistischen Eskapaden!
Wenn man dann aber das Festival-Programm durchblättert, fühlt
man sich regelrecht erschlagen von der unüberschaubaren Fülle
des Materials. 135 Filme buhlen um die Gunst der Cineasten.
Was soll man sich ansehen, was nicht? Tja, normalerweise hält
man sich in solchen Fällen an die Vorauswahl der Presse, aber
auch die ist eindeutig überfordert. Kein Journalist hat vor
Festival-Beginn die Möglichkeit, alle Filme zu sehen, und
wenn er die Möglichkeit hätte, fehlte ihm die Zeit. Allein
das Motto des Festivals, „Streunen in Raum und in der Zeit",
ist an Beliebigkeit kaum zu überbieten. Überdies sind die
Filme im Programm nicht nach Themenbereichen geordnet, sondern
nach den Kinos, in denen sie laufen. Das Festival bleibt also
auch in diesem Jahr recht unübersichtlich; die Veranstalter
unterscheiden nur zwischen „Internationalem Programm", „Neue
Filme aus Bayern" und „Werkschau des St. Petersburger Dokumentarfilmstudios".
Noch Fragen? Willkommen zum großen Roulette-Spiel! Nichts
schützt die Gemeinde der Film-Hasardeure vor der Gefahr, im
Festivalbüro (Ignaz-Günther-Haus, St.Jakobs-Platz, 1. Stock,
Tel 089-26 2 25) eine Niete zu ziehen, - abgesehen natürlich
von unseren Artechock-Tips:
Einer der Höhepunkte des Festivals ist MEMORIA (siehe auch
Filmkritik), ein Film über italienische Zeitzeugen des Holocausts.
Memoria-Regisseur Ruggero Gabbai hat sich zum Ziel gesetzt,
die Erfahrungen der italienischen Überlebenden des Holocausts
zu dokumentieren, bevor ihre Erinnerungen für die Nachwelt
verloren sind. Insofern ähnelt sein Projekt Spielbergs Shoa-Dokumentation,
die aus dem Spielfilm „Schindlers Liste" hervorging, Memoria
setzt den 8500 italienische Juden, die zwischen 1943 und 1945
in Vernichtungslager deportiert wurden, ein Denkmal. Etwa
800 von ihnen überlebten. 93 sind heute noch am Leben und
waren bereit, vor der Kamera von ihren Eindrücken zu berichten.
Dabei ist ein Dokumentarfilm entstanden, der mit hoher Sensibilität
die Opfer zu Wort kommen läßt, ohne ihnen in ihrem Schmerz
zu nahe zu treten. Memoria ist deshalb so herausragend, weil
Gabbai den Zuschauer mit historischen Details verschont, die
man lieber in Geschichtsbüchern nachliest. Weitere Filme zum
Thema: „Schwarze Sonne -Mythologische Hintergründe des Nationalsozialismus"
(Deutschland 1997), und „Exil Shanghai", ein Film über europäische
Juden in China, der wegen seiner Länge (über vier Stunden)
allerdings nur Marathon-Cineasten anzuraten ist.
Unser zweiter Tip: DECKNAME ‘DENNIS’, eine grandiose Satire
über die bizarren Eigenheiten der Deutschen. Thomas Frickels
Films gehört zu den Dokumentationen des Festivals, die sich
mit aktuellen, politischen Entwicklungen auseinandersetzen.
Frickels raffinierte Idee: Er zeigt Deutschland aus der Sicht
eines Amerikaners, der sich im Auftrag des Geheimdienstes
mit der Stimmung in Deutschland vertraut machen soll. Da sich
die deutschen Filmemacher als amerikanisches Kamerateam ausgeben,
antworten die Befragten mit verblüffender Leutseligkeit. Wir
erfahren zum Beispiel, daß der erste GRÜNE ein Gartenzwerg
war, daß es in Deutschland vier Kuckucksuhren-Besitzer gibt,
von denen jeder behauptet, seine Uhr sei die größte der Welt,
daß in Leipzig Mielkes Goldfisch namens „Klassenfeind" für
250 Mark versteigert wurde, daß man in einer deutschen Gastwirtschaft
vier Meter Wurst bestellen kann, daß die NPD vom Vierten Reich,
die Schlesier von der Heimat und die Burschenschaften von
Ehre, Freundschaft und Vaterland träumen. Einer der Höhepunkte
des Films: Der Chef der Autofahrerpartei behauptet allen Ernstes:
„Wir haben hier in Deutschland KZs für Autofahrer, der Autofahrer
ist der moderne Jude." Der amerikanische Reporter versteht
die Welt nicht mehr, denn die Deutschen, so seine Schlußfolgerung,
fahren Auto, nicht um sich fortzubewegen, sondern um für ihre
Bürgerrechte einzutreten, sie fahren Rad, um sich für Bäume
einzusetzen. „Die Deutschen essen nicht, um satt zu werden,
sondern um zu zeigen, daß sie was vom Essen verstehen." Augenzwinkernd
zeigt Frickel die monströs-groteske Absurdität des deutschen
Alltags.
Übrigens: Auch von den restlichen 133 Filmen sind sicher
einige sehenswert. Nur welche das sind, das müßt ihr schon
selbst rausfinden. Da hilft nur das in zahlreichen Tierversuchen
getestete „Trial-and-Error"-Verfahren.
Dominik Eichmann
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