19.02.2017
67. Berlinale 2017

Sound of Archi­tec­ture

STREETSCAPES
Jonathan Perel und John Erdman als Analytiker und Filmemacher in Emigholz' kongenialem Spielfilm Streetscapes [Dialogue]
(Foto: Filmgalerie 451)

Heinz Emigholz erfindet sich mit seinem Tetraptychon Streetscapes neu – und bleibt doch ganz der alte – Dunjas Berlinale, Teil 3

Von Dunja Bialas

Hatte er nicht gesagt, er wolle keine Archi­tek­tur­filme mehr machen? Von nun an nur noch Spiel­filme? Zumindest gönnt sich Heinz Emigholz, der seit vier Jahren pensio­niert ist, ein wenig mehr Verspielt­heit als früher, was sich schon in The Airstrip – Aufbruch der Moderne, Teil III (2014) angekün­digt hatte. Emigholz hat einen unver­wech­sel­baren Stil, er ist Meister der gekippten Linien, abfol­genden Schein-Stand­bilder und wortlosen Etüden zu den Bauwerken von Archi­tekten wie Adolf Loos, Bruce Goff oder jetzt Eladio Dieste und Samuel Bickels. Er reiste für sein Oeuvre um die ganze Welt. Maßgeb­lich ist die Strenge, die er in seinen unbe­wegten Bildern walten lässt – auf eine Kame­ra­fahrt oder einen Schwenk kann man bei Emigholz kaum hoffen – aber: die Strenge verwei­gert sich dem rechten Winkel. Seine verhält­nis­mäßig schnell geschnit­tenen Ansichten von Gebäuden und Räumen zeigen keine Menschen, und wenn doch, dann nur, wenn sie funk­tional dazu­gehören wie die Arbeiter zu einer Fabrik­halle. Tiere durch­queren oder durch­fliegen jedoch immer wieder die Bilder, als würden sie die Diago­nalen noch einmal neu vermessen. Und immer wieder schieben sich Bäume und Sträucher ins Bild und vor die Archi­tektur, als Zeugen der Drei­di­men­sio­na­lität der Welt. Immer werden auch die Straßen der Städte mitein­ge­fangen; Emigholz scheut sich nicht, neben der erhabenen Schönheit der präsen­tierten Archi­tektur auch die pulsie­rende Häss­lich­keit, den Schmutz und die Armut der Großs­tädte zu zeigen. Ob dies schon Dekon­struk­tion der Erha­ben­heit bedeutet, ist fraglich, zeigt aber bei aller Menschen­leere der Filme ein profundes Interesse am sozialen Gefüge.

Seinen großen Film­zy­klus unter­ti­telte Emigholz »Photo­gra­phie und jenseits«, und numme­riert ihn seitdem buch­hal­te­risch durch. Der Unter­titel nimmt Bezug auf seine ruhige Kame­ra­ar­beit, die die Photo­gra­phie tran­szen­diert: durch im Wind sich bewegende Zweige, durch die erwähnten Tiere, die das Bild durch­queren, durch ein Auto, das ins Bild fährt. Oder auch im Bild steht, Emigholz bereinigt augen­schein­lich nicht. Seit The Airstrip kommt eine weitere Dynamik in seine Filme: Emigholz spricht zu uns. Als Sprach­rohr seiner Gedan­ken­welt trägt die Schau­spie­lerin Natja Brunck­horst mit brüchiger Stimme kurze und knappe Sentenzen zu Archi­tektur, Globa­lität und Welt­ge­schehen vor, immer am Anfang eines neuen Film­ab­schnitts. Bevor der Film wieder still wird und die Gebäude für sich sprechen lässt.

Film = Archi­tektur = Musik = Film [Kreidler]

Jetzt zeigte Emigholz auf der Berlinale sein aus vier Kapiteln bestehendes Werk Street­scapes, »Photo­gra­phie und jenseits«, Teile 24-27. Jedes Kapitel ist auch eigen­s­tän­diger Film. Zwei der drei Kapitel, die ich vom Tetrap­ty­chon sehen konnte, sind – soweit ich das in Kenntnis nur eines Bruch­teils des umfang­rei­chen Emigholz'schen Werkes behaupten darf – bahn­bre­chende Neue­rungen und tran­szen­dieren die Archi­tek­tur­filme selbst noch einmal. Das erste, 2+2=22 [The Alphabet] über­ti­telte Kapitel ist eine Art Remake von Jean-Luc Godards One Plus One: Nicht die Rolling Stones, sondern die Düssel­dorfer Band Kreidler wird hier bei der Einspie­lung ihres Albums »ABC« im Studio gefilmt. Dieses befindet sich in Tiflis, die parallel zu den Studio­auf­nahmen in einem Stadt­por­trait einge­fangen wird. Das Tonauf­nah­me­studio offenbart eine in der Archi­tek­tonik sichtbare Akustik; daneben pulsieren die Straßen­züge, werden unschein­bare Straßenecken und bauliche Trou­vaillen gezeigt, glei­cher­maßen Chaos und Kosmos der Stadt. Sie ist der lebendige Gegenpol zu den an ihren Laptops arbei­tenden »Kraftwerk«-Erben Kreidler; die verschlun­genen Kabel am Boden und die ins Bild gerückten Mikro­phon­s­tänder greifen die Tele­gra­fen­masten und Strom­lei­tungen der Stadt auf. Emigholz verfährt in Analogie zum Kreidler-Album alpha­nu­me­risch, lässt die Buch­staben als Kapi­tel­struktur durch­laufen. Struk­tu­rie­rend sind auch seine Notiz­bücher, die nach den Buch­staben kurz in die Kamera gehalten werden: sorg­fältig colla­gierte Samm­lungen von Gedanken und Bildern, oft Fetzen von Reklame, meist Banales und Triviales, das in der Anordnung im Notizbuch zur Kunst erklärt wird. Natja Brunck­horst spricht jeweils ein kurzes Intro zu Anfang der Tiflis-Kapitel. Hier sammeln sich asso­zia­tive Begriffe zur meta­pho­ri­schen Anschau­ungs­kraft des Urbanen: Wege, Abwege, Straßen­züge, Gedan­ken­züge, Kreu­zungen, Durch­kreu­zung.

Während­dessen durch­zieht der Beat von Kreidler den Film, kommt immer wieder auf sich selbst zurück – nicht voran­schrei­tend und doch voran­ge­trieben durch das Alphabet. Eine kraftvoll pulsie­rende Liebes­er­klärung an die geor­gi­sche Stadt und die Musik von Kreidler, in der sich alles zuein­ander verhält: der Film zur Archi­tektur, die Archi­tektur zur Musik, die Musik zum Film, der Film zur Musik. Die Verdich­tung aller Ebenen zeigt der Trailer zu 2+2=22 [The Alphabet], der für sich genommen ein eigen­s­tän­diges Musik­video ist, ein weiteres nach den bereits sieben Videos, die Emigholz mit und für Kreidler gemacht hat.

Regisseur = Schau­spieler = Archi­tektur [Emigholz]

Teil 2 der Street­scapes [Dialogue], den ich leider nicht sehen konnte, widmet sich dem Kibbuz-Archi­tekten Samuel Bickels. Er heißt schlicht Bickels [Socialism] und gibt allein vom Titel her schon viel Ahnung über seinen Inhalt. Samuel Bickels, Erbauer sozia­lis­ti­scher Kibbuz-Sied­lungen, bildet das Scharnier zum nächst­fol­genden und über­ra­schendsten Teil. Er heißt Street­scapes [Dialogue], dadurch program­ma­tisch ins Zentrum des Tetrap­ty­chons gesetzt. In ihm tritt der argen­ti­ni­sche Filme­ma­cher Jonathan Perel als Schau­spieler auf. Perel wiederum hat einen streng mathe­ma­ti­schen Film über argen­ti­ni­sche Sozi­al­sied­lungen, aller­dings aus den Jahren der Diktatur gemacht: Toponimia. Derart mit Emigholz im Geiste verwandt, spielt er in Street­scapes [Dialogue] einen Psycho­ana­ly­tiker, der einen Filme­ma­cher (gespielt von John Erdman) aus einer schweren Sinn- und Schaf­fens­krise begleitet. Alles dies spielt sich in den Häusern, auf den Terrassen oder vor den Fassaden der Bauten der urugu­ay­ischen Archi­tekten Eladio Dieste und Julio Vilamajó ab.

Wie Emigholz insgesamt »Archi­tektur als Auto­bio­gra­phie« begreift, ist auch Street­scapes [Dialogue] auto­bio­gra­phisch. Emigholz setzt sich aller­dings diesmal selbst ins biogra­phi­sche Zentrum: Sein Film bezieht sich auf die eigene Schaf­fens­krise. Da es jedoch, wie wir von den Notiz­büchern wissen, bei Emigholz kein Außerhalb der Kunst gibt, hatte er seinen Psycho­ana­ly­tiker, den israe­li­schen Trauma-Spezia­listen Zohar Rubin­stein, gebeten, ein Tran­skript der fünf­tä­gigen Mara­thon­sit­zung anfer­tigen zu dürfen. Aus diesem entstand das Skript für den Spielfilm, über einen Filme­ma­cher in der Krise. Im Zuge der Gespräche wird das Vorhaben zu dem Film, den wir gerade sehen, entworfen; alles ist also hoch­gradig selbst­re­flexiv. Der Konzept­film hinter­fragt in Sinn­fragen-Manier dabei stets auch sich selbst und seine eigenen Mittel und führt wie auf einem Möbi­us­band in die Fiktion hinein und aus ihr hinaus – ein hoch­amü­santes und intel­lek­tu­elles Vergnügen.

Nach diesem absoluten Höhepunkt kehrt bei Emigholz wieder Ruhe ein. Der vierte Teil der Street­scapes, Dieste [Uruguay], ist ein Film »nach der Schaf­fens­krise«: Emigholz kehrt zurück zu seinen stillen Ansichten von Archi­tektur, mit den gekippten Linien und den Blättern der Bäume und Sträucher, die sich ins Bild schieben. Sich selbst wieder­finden kann, wenn wir den Zyklus als gelungene Fiktion von Aufbruch, Krise und Ankunft nehmen, fast schon wieder schade sein: Der verspielte Heinz Emigholz hatte sich selbst in den Schatten gestellt.