14.02.2013
63. Berlinale 2013

Fahr zur Hölle, Berliner Schule!

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
Dietrich Brüg­ge­mann

Streit kann nerven, kann aber auch fruchtbar sein. Ohne Streit und Streit­kultur ist Film­kritik nicht denkbar. Wir freuen uns über einen sehr streit­baren, einen notwen­digen streit inten­si­vie­renden Gast­bei­trag von Dietrich Brüg­ge­mann. Brüg­ge­mann, für die wenigen, die es nicht wissen, ist selbst Berliner Film­re­gis­seur, aber auch ein span­nender Autor film­kri­ti­scher Texte, nicht zuletzt für das leider einge­stellte Magazin »Schnitt«. Wir freuen uns über seinen Text und werden die Debatte an dieser Stelle bestimmt fort­führen

(Rüdiger Suchsland)

Ein Gastbeitrag anläßlich der 63. Berliner Filmfestspiele

Von Dietrich Brüggemann

Gekün­s­telte Dialoge. Reglose Gesichter. Ausführ­liche Rücken­an­sichten von Leuten. Zäh zerdehnte Zeit. Will­kommen in der Welt des künst­le­risch hoch­wer­tigen Kinos, will­kommen in einer Welt aus quälender Lange­weile und bohrender Pein. Muss man das eigent­lich einfach so über sich ergehen lassen und fraglos akzep­tieren, dass es anschei­nend anders nicht geht?

Ich liebe das Kino in wirklich zahl­rei­chen Facetten, aber lasse mich ungern verar­schen. Wir hatten in Deutsch­land schon mal eine Zeit, in der Autoren­filmer ihr Publikum erst gequält und dann verjagt haben, danach kam eine Zeit, in der es nur boden­losen Unter­hal­tungs­müll gab, und jetzt? Hurra, jetzt haben wir beides gleich­zeitig. Als ich also gestern Thomas Arslans Gold absaß und mein Geist so unter­be­schäf­tigt war, dass ich permanent gegen den Drang ankämpfen musste, niveau­lose Zwischen­rufe zu machen, hatte ich auf einmal einfach keine Lust mehr. Dass der Schweiger-Schweig­höfer-Schrott Schrott ist, auch wenn Millionen Fliegen sich nicht irren können, das ist allge­meiner Konsens, dazu muss ich mich nicht auch noch äußern, aber wieso beschwert sich eigent­lich niemand mal über die soge­nannte Berliner Schule? Wieso sitzen da alle drin wie Schafe und sagen hinterher: Na ja, ich wusste ja, was mich erwartet? Kann mir bitte mal einer erklären, was daran toll ist, wenn hölzerne Schau­spieler hölzerne Dialoge hölzern aufsagen, das ganze in 80er-Jahre-Fern­seh­film-Ästhetik? Gele­gent­lich kommt eine Abblende, und man freut sich auf die Werbung, aber dann geht das gestelzte Elend weiter. Wenn ein Film mir zwei Stunden lang den Rücken zukehrt? Wenn Nina Hoss, die bestimmt eine wunder­bare Schau­spie­lerin ist, fünf Filme lang herum­laufen muss wie ein abge­schal­teter Roboter? Wenn ich mit keiner Frage, keinem Gefühl, keiner neuen Erkenntnis, keinem Dilemma aus dem Kino komme, sondern nur mit der Ahnung, dem Tod mal wieder zwei Stunden näher­gerückt zu sein, und dem drin­genden Impuls, mich irgendwo zu betrinken?

Was sind das für Regis­seure, die die ganze Film­ge­schichte gefressen haben, sich einen präten­tiösen Titel nach dem anderen ausdenken, aber nicht in der Lage sind, ein einziges echtes Gefühl auszu­lösen? Geschweige denn irgendwie glaubhaft von der Liebe zu erzählen? Wo genau liegt eigent­lich die künst­le­ri­sche Indi­vi­dua­lität, wenn hundert Filme alle gleich aussehen? Und was ist das überhaupt für eine dämliche Kultur, in der man diese Simu­la­tion von Kino gut finden muss, weil es ansonsten ja nur noch den gräss­li­chen Main­stream gibt? Die Leute, die kluge Unter­hal­tung konnten, die haben wir ja vor 80 Jahren alle raus­ge­schmissen, und aus ihren Arbeiten besteht die inter­es­san­teste Sektion dieser Berlinale [gemeint ist die Retro­spek­tive: »The Weimar Touch«]. Aber sind inzwi­schen keine nach­ge­wachsen? Oder konnten sie sich nicht entfalten und haben irgend­wann frus­triert aufgehört, weil in Deutsch­land ja alles entweder todernst und tonnen­schwer sein muss oder halt vor lauter Dämlich­keit stinken? Und weil sowieso niemand als Eremit Filme macht, sondern es eine Kultur braucht, in der man aufwächst?

Fahr gefäl­ligst zur Hölle, Berliner Schule, auch wenn das Feuil­leton dir weiterhin zu Füßen liegt. Und weil das bürger­liche Publikum auf Auto­ri­täten hört, meinen dann ab und zu auch einige Leute, sie hätten was Gutes gesehen, aber noch viel mehr hört das Publikum in der Summe auf sein Herz (durchaus auch auf millio­nen­schwere PR-Kampagnen und am Ende doch auf sein Herz), und davon habe ich bei euch noch selten oder nie etwas gesehen. Von anderen Organen ganz zu schweigen. Es gibt nur den Kopf, der ist riesen­groß, hat alles gesehen und nichts verstanden, und auch der läuft nur auf einer Gehirn­hälfte. Seit 15 oder wieviel Jahren schaue ich mir das an, und ich will einfach nicht mehr. Fahr zur Hölle, Berliner-Schule-Berlinale-Wett­be­werbs-Kino, fahr endlich in den Abgrund, ruhe in Frieden und mach Platz für was neues.

Anmerkung:
Ein kleiner Haßmo­nolog in diese Richtung war anschei­nend mal fällig. Bevor jetzt aber das ausbricht, was Politiker immer als »Pogrom­stim­mung« bezeichnen, möchte ich ein bißchen diver­si­fi­zieren. Oder noch in ein paar mehr Rich­tungen austeilen. Ich will nämlich nicht am Ende noch Applaus bekommen von irgend­wel­chen entmenschten Münchner Groß­pro­du­zenten, die alles elimi­nieren wollen, was sie nicht kapieren.

Es wird gefragt: Kann man das so alles über einen Kamm scheren? Na klar kann man. Ich fand Die innere Sicher­heit toll, ich verehre Der Wald vor lauter Bäumen, ich fand Sie haben Knut grandios, und Der Räuber von Benjamin Heisen­berg war auch ein umwer­fender Film (auch wenn er das mit der Liebe genau­so­wenig hinge­kriegt hat wie alle anderen) (Filme). Ist das dann überhaupt noch Berliner Schule? Mir doch egal. Und solche persön­li­chen Geschmacks­dinger sind letzten Endes auch egal. Es geht um eine Kultur, die zu einer Mono­kultur geworden ist. Und zwar nicht nur bei uns.

Jedes europäi­sche Land produ­ziert einer­seits fürch­ter­lich spaß­be­freite Kunst­filme und ande­rer­seits wahn­sinnig plattes Unter­hal­tungs­kino. Dazwi­schen gibt es dann noch so wohl­mei­nendes Wellness-Arthouse für Brigitte-Lese­rinnen, denen man öfter mal mitteilen muss, dass das Leben bezau­bernd ist. Und das ist alles glei­cher­maßen beschissen. Es sei denn, es ist zur Abwechs­lung mal gut, und das ist es selten, denn all diese Filme entstehen und laufen im Rahmen eines Systems, das nur das Format sieht und für Qualität völlig blind ist.

Aber was wollen Sie denn dann, Herr Brüg­ge­mann, wenn Sie all das nicht wollen? Ganz einfach. Ich will nicht, dass das Kunstkino aufhört. Ich will, dass es besser wird. Es ist völlig legitim, dass es innerhalb einer Kunstform einen Zweig gibt, der sich nur an die Einge­weihten richtet. Dass es Filme gibt, die nur von Leuten geguckt werden, die sich selber profes­sio­nell mit Film befassen. Es gibt für diese Filme nur eine einzige Regel: Sie sollen bitte etwas machen, das noch kein anderer gemacht hat. Sie sollen bitte ihr eigenes Rad erfinden und daran drehen. Ein solcher Filme­ma­cher, den ich beispiels­weise auf Knien verehre, ist der Schwede Roy Andersson, den hier­zu­lande bezeich­nen­der­weise wieder keine Sau kennt. Solche Filme laufen, wenn überhaupt, dann in Cannes. In Berlin allen­falls mal aus Versehen.

Denn was das Kunstkino dann doch noch vom Main­stream unter­scheidet: Main­stream darf forma­tiert sein. Es ist okay, wenn die Filme sich hier ähneln. Auch das kusche­lige Pseudo-Arthouse, ohnehin das gräß­lichste aller Genres, darf meinet­wegen gern forma­tiert sein. Aber in den Wett­be­werben der großen Festivals erwarte ich mehr. Dieses Segment, die Speer­spitze unserer Kunst, hat seine Exis­tenz­be­rech­ti­gung komplett verloren, wenn es zum Genre verkommt. Wenn es reicht, mit einem Film ein paar Klischees zu bedienen, um als »Kunst« durch­ge­reicht zu werden. Entspre­chend wütend werde ich, wenn ich mir von Jahr zu Jahr anschauen muss, wie genau das passiert. Wie man jedes Jahr einen Film nach dem anderen anschaut und sich fragt: Waren das wirklich die besten Filme dieses Jahrgangs? Oder haben sie die besseren abgelehnt? Die, die in kein Raster passten? Die mit einer eigenen, indi­vi­du­ellen Stimme sprechen? Über die Jahre kriegt man dann mit: Letzteres ist der Fall. Es gibt sie, die wahn­sin­nigen, genia­li­schen Filme, die große Aufmerk­sam­keit verdient hätten, selbst wenn sie nicht rund und perfekt sind. Hier ein paar Worte von Rüdiger Suchsland über einen dieser Filme, der in Ober­hausen lief und dann nirgends mehr: »Wie das im Kino konkret aussehen könnte, zeigte der beste und unge­wöhn­lichste Film im deutschen Wett­be­werb: Die Finanzen des Großher­zogs Radikant Film des Berliner Film­stu­denten Max Linz unter­schied sich radikal von dem übrigen Dutzend mehr oder weniger braver Studen­ten­filme? Die Antwort eines jungen Filme­ma­chers auf eine Situation, in der die Regie eines „Tatorts“«als höchstes Glück gilt und junge Talente vor der Wahl stehen, entweder die rebel­li­schen Gesten der Alten nach­zu­ahmen oder beim allge­meinen Verblö­dungs­be­trieb mitzu­ma­chen: In Deutsch­land werden die dümmsten Ideen mit dem größten Aufwand betrieben.
Mit einer Chuzpe, die man sich von vielen Filmen wünschte, gelingt Linz eine erfri­schend arrogante Farce zur geistigen Situation der Bundes­re­pu­blik, ein Spiel mit Versatz­stü­cken, das ganz offen die Nouvelle Vague und den Neuen Deutschen Film zitiert. Manchmal nerv­tö­tend und etwas langatmig, erinnert der Film in seinen besten Momenten an den Godard der späten sechziger Jahre. So darf man nach herr­schender Meinung heute keine Filme mehr drehen, aber genau darum muss man sie machen. In diesem Kurz-Epos über den Stand der Dinge im filmisch-indus­tri­ellen Komplex ist das Kino einmal das, was es öfters sein sollte und zurzeit viel zu wenig, in Ober­hausen aber immer wieder ist: eine intel­lek­tu­elle Heraus­for­de­rung, ein Rätsel, das nur durch Wissen zu entschlüs­seln ist. (Rüdiger Suchsland, 12.05.2011)

Statt­dessen sieht man an den Film­hoch­schulen und in den Nach­wuchs­sek­tionen der Festivals hunderte von Lang­wei­lern, die gern Christian Petzold wären.
Wird sich in den Köpfen der Verant­wort­li­chen von selber etwas ändern? Nicht, solange niemand an die Tür hämmert und laut schreit. Und sowas passiert tenden­ziell nur als Grup­pen­ak­ti­vität. Die Leute, die den wirklich span­nenden Kram machen, neigen nun leider nicht dazu, sich zu irgend­wel­chen »Schulen« zusam­men­zu­schließen, weil sie nämlich jeweils ihren eigenen Kopf haben. Aus demselben Grund kommt auch kein Jour­na­list auf die Idee, da eine »Bewegung« herbei­zu­schreiben. Daher haben sie keine Lobby und gehen irgend­wann frus­triert zugrunde oder ins Fernsehen. Dabei gibt es sie, die Leute, die hier­zu­lande in der Lage sind, aufre­gendes, böses, präch­tiges, unver­schämtes Kino herzu­stellen. Einige rotten sich gerade in meinem Freun­des­kreis zusammen, viel­leicht schreiben wir demnächst ein Manifest oder nageln ein paar Thesen irgend­wohin. Viel­leicht ist dieser Text auch schon unser Grün­dungs­ma­ni­fest.
Ende der Durchsage.