15.09.2011
68. Filmfestspiele von Venedig 2011

»The time is out of joint...«

4:44 Last Day on Earth
Au weia: Abel Ferraras 4:44 Last Day on Earth
(Foto: Capelight)

Am Tag des Satans ist die Erde eine Scheibe, Chronik eines angekündigten Chaos, 1500 Dollar für ein Interview, die drei Tricks des Marco Müller, zwei Höllenfahrten, aus Russland und aus China

Von Rüdiger Suchsland

Venedig, 6.9.2011, siebter Tag – »Dieses Jahr sind die vom Teufel besessen.« meinte Kollegin Margret Köhler gestern in Bezug auf die Festi­val­lei­tung. Wie recht sie hatte, konnte sie da noch gar nicht ahnen – oder doch? Ist Margret etwa selbst mit Satan im Bunde? –, aber der heutige Festi­val­dienstag, der siebte Tag des Festivals, schien tatsäch­lich vom Teufel besessen. Man könnte natürlich auch sagen: Venedig war einmal wieder genau so, wie man sich Italien vorstellt.

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Viel­leicht lag ja alles an der Apoka­lypse und an Abel Ferrara. Dessen neuer Film 4.44 Last Day on Earth hatte Festi­val­chef Marco Müller offenbar zu einem Akt des Wahnsinns verleitet. Müller verlegte aus völlig schlei­er­haften Gründen die Pres­se­vor­füh­rung vom größten Saal (Palag­alileo), in dem norma­ler­weise sämtliche Wett­be­werbs­filme gezeigt werden, in den kleinsten, den Sala Pasinetti. Es war auch die einzige Vorfüh­rung am Dienstag, zwei weitere sollen am Mittwoch ebenfalls im Pasinetti statt­finden, und die offi­zi­elle Premiere wie immer im Sala Grande des Palazzo. Weil im Pasinetti nur rund 100 Leute Platz haben, im Palag­alileo fast 2000 war das Chaos vorpro­gram­miert. Manche entwi­ckelten schon kreative, aber auch erkennbar verzwei­felte Vorschläge: »Ich schließe mich viel­leicht einfach beim Film davor auf dem Klo ein«, meinte zum Beispiel die Redak­teurin einer Berliner Tages­zei­tung.
Aber wozu das Ganze? Wollte Müller damit nun einen seiner gewohnt will­kür­li­chen Hypes kreieren, oder musste hier ein Regisseur vor sich selbst gerettet werden?

Offenbar hat er sich dann später aber doch noch beraten lassen, und alle Pläne über den Haufen geworfen. Um 19.30 Uhr bekam man, jeden­falls die Besucher einer anderen Wett­be­werbs­vor­stel­lung, einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem sämtliche Pasinetti-Vorfüh­rungen abgesagt wurden. Statt­dessen setzte man für heute (!) 23 Uhr eine Vorfüh­rung im Palag­alileo an. Wer das nicht mitbekam oder nicht recht­zeitig umdis­po­nieren konnte, hatte halt Pech gehabt. Glück für Carlos vom BR, dass er mich anrief.

Die Italiener finden sich nun wahr­schein­lich wieder ungemein kreativ, nur weil sie vor dem selbst­an­ge­zet­telten Chaos noch die Flucht ergriffen hatten, indem sie ein anders anzet­telten. Alle anderen stöhnten nur: »Die Itali­e­nier! oder ›This godfor­saken festival.‹«

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Am Morgen des gleichen Tages wurde um neun der Film Sorpresa gezeigt. Auch so eine Spezia­lität Marco Müllers. Jedes Jahr gibt es einen solchen »Über­ra­schungs­film«, über dessen Titel oder Macher im Vorfeld nichts zu erfahren ist, außer hunderten von Gerüchten. Fast immer handelt es sich aller­dings um einen Film aus Asien. Auch diesmal. Diesmal war es People Mountain, People Sea vom Chinesen Cai Shangjun, der 2007 mit The Red Dawn ein sehr schönes Debüt präsen­tiert hatte. Auch der lief um neun im Pasinetti, auch hier standen hunderte von Kollegen an – mit dem kleinen Unter­schied aller­dings, dass es am Abend noch eine Pres­se­vor­füh­rung angesetzt war, diesmal im großen Palag­alileo. Das war auch ganz gut so, denn als die hundert Glück­li­chen es sich im Pasinetti bequem gemacht, und die anderen zwei-, drei­hun­dert frus­triert wieder gegangen waren – nach bestimmt 45 Minuten Wartezeit, wurde die Vorfüh­rung von People Mountain, People Sea nach wenigen Sekunden abge­bro­chen. Der Film hatte nämlich keine Unter­titel!

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Die hatte er dann, als er am Abend im prop­pe­vollen Palag­alileo gezeigt wurde. Trotzdem wurde der Abend noch lustiger, als die Vorfüh­rung am Morgen. Das lag gar nicht einmal an den überaus aufgeräumten Italie­nern, die warum auch immer bereits den dämlichen Festi­val­trailer und dann auch diverse Logos eupho­risch beklatschten. Sondern an der Vorfüh­rung selbst...

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Man muss das erlebt haben. Zuerst merkt man, während der Film etwa 45 Minuten alt ist, nur ganz unbewusst, »dass da etwas ist«. Dann denkt man an Gerüche, glaubt, den Film zu riechen, den Dreck und Ruß der Metropole Chongqing am Yangtse Fluß. Dann ist klar: Es brennt! Rauch­schwaden durch­ziehen sichtbar das Saalobere, und es stankt gehörig nach bren­nendem Holz. Innerhalb weniger Sekunden stehen viele im Saal auf, der Film läuft ungerührt weiter. Wir selbst bleiben ebenfalls ungerührt sitzen, verfolgen das Spektakel. Von der ersten Reihe aus kommt immer nochRauch.

Letztes Jahr hatte es sturz­bach­artig in den Pres­se­raum geregnet. Diesmal Feuer ohne Feuer­alarm. Marco Müller muss sich jeden­falls inzwi­schen auch schon blöd vorkommen. Und Venedig wird allmäh­lich seine eigene Parodie. Italien ist wirklich in der Krise. Dass heißt natürlich ande­rer­seits keines­wegs, dass wir jetzt lieber in Toronto wären...

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Um auch jenseits solcher Erleb­nisse zu verstehen, was das Festival von Venedig von dem in Cannes unter­scheidet, könnte man jetzt natürlich über vorge­führte Filme reden. Oder über die Festi­val­di­rek­toren, die bis 2005 fast jährlich wech­selten, während Marco Müller, der seit sechs Jahren amtiert, damit die längste Amtszeit aller Mostra-Direk­toren aufweist.

Man kann aber auch mal über die Namen der Vorführ­säle sprechen. In Cannes heißen sie seit Jahr­zehnten »Lumiere«, »Debussy«, »Bunuel«, »Bazin«. In Venedig wechseln die Namen fast immer. Vers­tänd­lich, wenn auch zu Miss­ver­s­tänd­nissen führend ist das bei dem ein paar tausend Zuschauer fassenden Kinozelt, in dem die Wieder­ho­lungs­vor­füh­rungen statt­finden, und das erst Pala BNL hieß, dann Pala TIM, 2005 einmal Area Alice. Heute nennt man es, weil man offenbar keinen Sponsor mehr gefunden hat, einfach PalaBi­en­nale. Schwerer wiegt es bei dem wich­tigsten und größten Kinosaal, einer ehema­ligen Frei­luft­arena, die in den späten 60ern mit Beton ausge­gossen und richtigen Kino­ses­seln sowie einem Holzdach versehen wurde. Jeder nennt ihn hier zwar Palag­alileo, wie er auch über das Jahr hin heißt, aber in manchen Jahren wurde er aus undurch­sich­tigen Gründen offiziell als Pala Lido geführt, in diesem Jahr als Pala Darsena – also »Saal des Hafen­be­ckens«, womöglich weil sich daneben ein kleiner Anle­ge­steg befindet. Viel­leicht aber auch, weil man es in Venedig mit einen Natur­wis­sen­schaftler wie Galilei nicht so gern hält, und weil Festi­val­boss Marco Müller die Erde wahr­schein­lich lieber als Scheibe betrachtet.

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Wie gesagt: Der Tag des Satans ist noch nicht zuende. Wer weiß, was noch kommt? Um 23.45 Uhr, kurz vor der Geis­ter­stunde erst einmal die Apoka­lypse... Und wenn die Erdscheibe dann wider Erwarten doch noch steht, und wir nicht alle am Rand herun­ter­ge­fallen sind, dann geht es danach wieder mehr um die Filme.

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Der letzte Akt des Tages kam nun also: Die Apoka­lypse des Abel, des Abel Ferrara. Vor dem Film, bevor wir uns in die Akkre­di­tierten-Reihe einreihen treffen wir Richard Lormand, einen der sympa­thi­schen inter­na­tio­nalen Pres­se­agenten. »This makes me sad« sagt Richard mit Hinblick auf die trotz später Stunde lange Schlange, »Why are you guys still supporting this man?« Ferrara habe doch seit mindes­tens 15 Jahren keinen guten Film mehr gemacht. Ich gebe ihm ein bisschen recht, vertei­dige Ferrara trotzdem, verweise auf New Rose Hotel, und muss all das knappe zwei Stunden später bitter bereuen. 4.44 Last Day on Earth wird zur bisher nerv­tö­tendsten Erfahrung dieses Festivals.

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Die Frage, von der Ferrara ausgeht, ist ja nicht unin­ter­es­sant: Was würden wir tun, wenn wir wüssten, dass morgen früh die Welt untergeht? Würden wir uns zum Beispiel einen Ferrara-Film angucken? Eher nicht.

Würden wir überhaupt, auch an Tagen, die schöner verlaufen, einen von Ferrara gedrehten Porno sehen wollen? Die Frage liegt nahe, weil 4.44 Last Day on Earth vor allem von zwei Leuten handelt, die in einem Appart­ment in der New Yorker Upper East Side wohnen. Sie sind unter sich, und Ferrara nutzt die Gele­gen­heit, seine Freundin Shanyn Leigh die zugleich die Haupt­rolle spielt, und das leider ziemlich unsäglich, ziemlich oft nackt oder halbnackt in Reiz­wä­sche herum­zu­laufen, oder ihren nackten Hintern in die Luft zu räckeln. Das muss wohl Liebe sein, bringt den Film aber nicht weiter. Auch sonst stra­pa­ziert der Film vor allem das Sitz­fleisch.

Die Bilder sind digital, sie wackeln und sind doch sehr unin­spi­riert herun­ter­ge­filmt. Im Hinter­grund hört man ein Grund­rau­schen. Das Paar im Zentrum, Leigh und der in derar­tigen Filmen inzwi­schen unver­meid­liche Willem Dafoe, hat eine Wohnung in der diverse Apple-Computer und mehrere Bild­schirme herum­stehen. Auf denen sind Nach­richten zu sehen, die vom bevor­ste­henden Welt­un­ter­gang handeln. »The world will end« sagt der Anchorman und verab­schiedet sich: »I will spend the last hours with my family.« Doku­men­tar­filme erzählen im Rückblick, wie es zu allem kam. Am Anfang war das Kyoto-Protokoll. Aus irgend­einem absurden Grund läuft auf einem Bild­schirm auch eine Sendung von 2009, in der Al Gore redet. Da kann der Dalai Lama nicht mehr weit sein, und tatsäch­lich taucht er bald auf. Auf einem anderen Programm leugnet ein buddhis­ti­scher Guru den Welt­un­ter­gang, schließ­lich ist ja auch dieser nur in unserem Kopf.

Man glaubt es nicht! Aber es kommt noch schlimmer: Ein asia­ti­scher Bestell­ser­vice bringt Essen – ob die bis zum Ende aller Dinge wirklich noch arbeiten? Was wollen sie mit dem Geld machen? Willem Dafoes Figur, der bestimmt ein bour­goiser Yuppie-Depp war, ist plötzlich großzügig mit den Armen der Welt, drückt dem asia­ti­schen Essen­boten ein paar Hunderter in die Hand und erlaubt ihm, auf seinem Apple mit der Familie in China zu skypen. Viel­leicht soll das alles eine Komödie sein? Schön wär’s. Shanyn Leigh fängt nämlich plötzlich an, in Dripping-Technik Bilder zu malen. Denn wenn morgen die Welt unter­ginge, würden wir heute natürlich noch ein Kunstwerk schaffen. Oder auch nicht...

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Au weia! 4.44 Last Day on Earth wirkt wie ein Achtern­busch-Film, der in New York spielt. Wobei der Unter­schied darin besteht, dass es Ferrara ernst meint.
Ferrara gönnen wir ja den erneuten Auftritt auf einem A-Festival, aber allmäh­lich muss man ihn wirklich nicht mehr finan­zieren. Denn für jeden schlechten Film, der hier läuft, wurde ein guter abgelehnt – außer viel­leicht bei den italie­ni­schen Filmen. Aber das Haupt­pro­blem bleibt natürlich die Tatsache, dass jeder Film, den ich schlecht finde, für jemand anderen ein Meis­ter­werk ist – und umgekehrt.

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Es gibt viele Gründe Marco Müller, den Leiter des Film­fes­ti­vals von Venedig zu kriti­sieren. Ein paar haben wir hier schon genannt, auf andere werden wir noch kommen. Es gibt aber auch gute Gründe ihn zu bewundern. Wofür man Müller gar nicht genug bewundern kann, ist seine Fähigkeit, zu program­mieren. Damit sind jetzt nicht etwa jene auf die Dauer etwas abge­nutzten Tricks gemeint, über die wir hier bereits geschrieben haben. Sondern einfach Müllers Begabung durch die Abfolge oder das Neben­ein­an­der­stellen Bezie­hungen zwischen Filmen herzu­stellen, eine Art imaginären Dialog der Filme zu provo­zieren. Das fällt einem in Venedig irgend­wann immer auf, und bald danach erinnert man sich auch, dass das in Cannes, Berlin oder an anderen Orten eben nie so funk­tio­niert, wie hier.

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Ein der Öffent­lich­keit kaum bekanntes Faktum ist, dass man als Bericht­erstatter, auch für seriöse Medien, keines­wegs ein Interview »einfach so« bekommt, jeden­falls nicht auf Festivals wie diesen. Natürlich ist es selten schwierig, das Filmteam zu Filmen der Neben­reihen zu treffen, oder Regis­seure aus Asien und Latein­ame­rika. Alles andere aber wird von inter­na­tio­nalen PR-Agenturen verwaltet, und oft genug verhin­dert. Als zusätz­li­cher Stör­faktor wirken hier oft noch die jewei­ligen Agenturen der deutschen Verleiher. Als Kritiker muss man von ihnen »nominiert« werden, das heißt, die eigene Bewerbung um ein Interview muss vom deutschen Verleih abge­segnet werden. Gibt es keinen deutschen Verleih, ist es schwer, überhaupt ein Interview zu bekommen.

Vor allem aber werden für bekann­tere Regis­seure und Darsteller von diesen Agenturen zum Teil horrende Geld­summen verlangt. Das gilt zumindest für die Filme der ameri­ka­ni­schen Major-Studios. So wird die Öffent­lich­keit durch Ökonomie kolo­nia­li­siert. Ohne ihr Wissen natürlich. Bezahlt werden müssen diese Summen idea­ler­weise von den Medien selbst. Weil das glück­li­cher­weise jeden­falls in Deutsch­land meistens nicht geschieht, zahlen die Verleiher. So kostete Madonna in Venedig 1500 Dollar pro Interview. 600 Dollar waren für Steve McQueen zu bezahlen, 250 für Andrea Arnold. So ist das Ganze natürlich auch eine Börse, die – noch präziser, als später die Preis­ver­lei­hung – den aktuellen Marktwert der Regis­seure wieder­spie­gelt.

Für einen Verleih kommen dann schnell höhere fünf­stel­lige Beträge zusammen. Auf meine Frage: »Lohnt sich das denn?« antwor­tete die Vertre­terin eines gar nicht so schlecht gestellten deutschen Verleihs: »Wenn wir das immer fragen würden, dann könnten wir gleich aufhören.« Bleibt noch die Frage: Wer kassiert das Geld eigent­lich? Die Agenturen? Die Studios? Oder die Stars selber?

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Für einigen Verdruss unter den deutschen Jour­na­listen sorgte in diesem Jahr der grund­sätz­lich hoch­sym­pa­thi­sche Münchner Verleih Prokino, im Prinzip unbedingt einer der erfolg­reichsten Parti­sanen fürs Autoren­kino. Dieser Verdruss hing zum einen mit einer Sache zusammen, die eigent­lich unter Margi­na­lien fällt. Prokino veran­stal­tete ein Abend­essen für Jour­na­listen, zu dem doch recht viele, die hier vor Ort sind, auch für vermeint­lich »wichtige« Medien, keine Einladung erhielten. Nun ist dies das gute Recht von Verlei­hern oder Welt­ver­trieben, einzu­laden, wen sie wollen, oder eben nicht. Da aber das Verhältnis zwischen Verlei­hern und Film­kritik immer ein Geben und Nehmen ist, und ein Verleih wie Prokino früher oder später wieder mehr als dankbar sein wird, wenn ein wichtiger Filmstart mit Inter­views flankiert wird, kann man auch dieje­nigen Kollegen verstehen, die sich etwas mehr Groß­zü­gig­keit wünschen. Nur fürs Protokoll: Auch ich war nicht einge­laden – hätte aber aufgrund des dichten Film­pro­gramms und Marco Müllers auto­ri­tärer Program­mie­rung auch so wenig kommen können, wie zum Empfang der Film­stif­tung NRW, zu dem ich vorab zugesagt hatte, und von den zahlreich erschie­nenen Kollegen nur Gutes hörte: Zum Beispiel über das Kleid von Jessica Schwarz und über Hannelore Elsners uner­schöpf­li­chen Redefluss.

Um noch einmal auf Prokino zurück­zu­kommen: Da ging es natürlich nicht nur um erwähntes Abend­essen, sondern noch viel mehr um die Proble­matik der oben beschrie­benen Nomi­nie­rungs­po­litik. So hörte man von den Kollegen der ARD, dass man im Venedig-Bericht der Sendung »ttt« am Sonntag sehr gern über Steve McQueens Film Shame berichtet hätte. Prokino aber wollte »ttt« außer zwei unge­eig­neten Szenen auch auf mehrfache Nachfrage dann keine verwert­baren Ausschnitte geben. Angeblich mit der Begrün­dung, es passe nicht in die Strategie des Verleihs, man wolle alle Presse lieber für den Kinostart aufheben, und sei erst dann an einem »ttt«-Beitrag inter­es­siert. Das ist selbst­ver­s­tänd­lich ein völlig untrag­bares Verhalten, mit dem der Verleih mittel­fristig auch die eigene Festi­val­an­we­sen­heit kaputt macht. »Wir sind doch kein Umschlag­platz für den Vertriebs­start« hörte man von den ARD-Kollegen, die überaus sauer waren. Für zusätz­li­chen Ärger sorgte, dass die Pres­se­frau von Prokino den ganzen Dienstag tele­fo­nisch nicht zu sprechen war, sogar mindes­tens einmal bei einem ARD-Anruf einfach auflegte. So wird es nun keinen Shame-Beitrag in »ttt« geben. Ob Prokino wirklich so einfach auf 2 Milionen TV-Zuschauer verzichten kann?

Natürlich müsste »ttt« jetzt auch konse­quent genug sein, und wirklich auch zum Filmstart keinen Beitrag bringen – so lange sie das nämlich nicht tun, wird sich an solchem Verhalten der Verleiher nichts andern – auch wenn sie bei nächster Gele­gen­heit gern über das Desin­ter­esse der Presse klagen.

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Wieder im Kino. Der erste Gedanke: Das kann ja heiter werden. Da geht ein Mann eine Straße entlang, von rechts nach links. Ein paar Autos kommen ihm entgegen, als sie weg sind, geht er noch immer, und man sagt zu sich selbst: Wenn er jetzt auch noch nach links aus dem Bild geht, ohne das geschnitten wird, ist das Schlimmste zu befürchten. Tut er aber nicht. Sondern Cai Shangjun schneidet immer genau dann, wenn es richtig ist. Und so gelingt dem 1967 geborenen Chinesen in seinem zweiten Spielfilm einer der besten Filme des Wett­be­werbs.

People Mountain People Sea war der Über­ra­schungs­film, über dessen widrige Vorführ­um­s­tände ich am Mitt­woch­früh schon geschrieben hatte. Aber nicht über den Film selbst, und das war gut so, denn zwei Tage des Nach­den­kens haben gezeigt, dass dies dein Film ist, »der bleibt«, der in einem weiter­ar­beitet, und den man nicht vergisst. Eher im Gegenteil.
People Mountain People Sea hat alles, was man sich im Kino wünschen kann: Unge­wöhn­liche, oft unge­se­hene, wohl­kom­po­nierte Bilder. Spannung. Mensch­liche Abgründe.

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Nach der Auftakt­szene folgt diese Sequenz: Der Mann geht durch ein Dorf. Er trifft einen anderen Mann, man redet ein bisschen, raucht eine Zigarette, dann fährt der Ankömm­ling mit dem anderen auf dessen Motorrad mit. Es geht eine Weile durch bergige Straßen. An einem Stein­bruch mit fast gleißend weißen Kalk-Steinen machen sie Halt. Der Mitfahrer stellt sich zur Pinkel­pause in eine Ecke. Als er die Hose öffnet, fällt dein langes Messer heraus, und nun ahnt man schon, was kommen muss: Nachdem er sich wieder auf den Rücksitz des Motorrads gesetzt hat, und der Fahrer gerade wieder losfahren will, trifft ihn ein wohl­ge­setzter Stich in der Nieren­ge­gend. Er wehrt sich kurz, beide fallen zu Boden, verliert er das Bewusst­sein. Der Täter schleift sein Opfer in eine Ecke des Stein­bruchs, lässt ihn da liegen, fährt allein mit dem Motorrad los. Sein Messer bleibt zurück, und während man sich als Zuschauer noch unwill­kür­lich in die Rolle des Täters versetzt, und überlegt: Will er nicht das Messer mitnehmen? Ist der sicher, dass das Opfer tot ist? Warum beraubt er ihn nicht? – geschieht genau das und man sieht eine Szene, die von Bresson stammen könnte: Die Kamera bleibt ohne Schwenk ein paar Sekunden auf dem leeren Tatort stehen. Dann hört man von Links neben dem Bild Geräusche. Stöhnen, ein Scharren. Offenbar lebt das Opfer noch! Dann hört man von rechts das Geräusch eines heran­fah­renden Motorrads. Offenbar kommt der Täter zurück!! Er parkt das Motorrad. Hebt das Messer auf, und geht in Richtung des Opfers. Jetzt schwenkt die Kamera mit ihm mit nach links. Der Täter sticht noch zweimal zu, wieder in die Nieren­ge­gend, und wird zum Mörder.

Jetzt erst setzen die Anfangs­credits ein, und man sieht die schroffe weiße Stein­land­schaft, und eine rote Plas­tik­tüte, die markant an den Felsen herun­ter­fällt. Tolle Bilder und ein toller Anfang.

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Sehr grob zusam­men­ge­fasst erzählt People Mountain People Sea von dem Bruder des Opfers, der um der Fami­li­en­ehre willen auf eigene Faust den Mörder sucht. Dieser Trip wird zu einer Höllen­fahrt. Es geht vom Land in die Metropole Chongqing am Yangtse Fluß und später weiter in die Berg­werks­re­gion des Nord­wes­tens. Der Held heißt Tai, ist in der Stadt geschei­tert und verschuldet. Auf der Reise besucht er einen alten Freund. Der ist hero­in­süchtig und betrügt ihn irgend­wann um das wenige Geld, das er noch besitzt. Dann trifft er seine Ex-Frau. Die ist neu verhei­ratet, der gemein­same Sohn muss ins Heim. Dann arbeitet er in einer Kohle-Mine, weil er dort den flüch­tigen Täter gefunden hat. »Your life is your only capital.« wurde Tai ziemlich zu Beginn gesagt. Am Ende setzt er es in einer Weise ein, mit der man noch Sekunden vorher nicht rechnen konnte.

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Insze­niert ist das alles mit kühler Lakonie, eine gute, coole Erzähl­weise. Jederzeit ist absolut alles möglich. Unter anderen Umständen hätte der Regisseur viel­leicht sagen können »my name is Cai Shangjun, and I make Western.« (wie einst ein anderer »my name is John Ford, and I make Western.«). Die Kamera beob­achtet genau mit leichter Bewegung, zeigt unglaub­lich viel. Eine der vielen glanz­vollen Szenen ist eine eine gute Minute lange unge­schnit­tene Bergab­fahrt mit dem offenem Fahrstuhl der Bergleute.

People Mountain People Sea, eine maois­ti­sche Formu­lie­rung, die auf die Kraft des vereinten Volkes rekur­rierte, das so unbe­siegbar und stark ist wie ein Berg oder ein Meer, ist ein ebenso groß­ar­tiges, wie abgrün­diges, zugleich nie pole­mi­sches Portrait des zeit­genös­si­schen China: Eine Welt, die in ihrer Primi­ti­vität ans europäi­sche 19. Jahr­hun­dert erinnert, so düster ist, wie aus einem Dickens-Roman. Darüber, wie es dort zugeht, muss man sich keinen Illu­sionen hingeben.
Das wird vor allem gezeigt. Sätze wie »only money can buy infor­ma­tion. Today’s reality.« ergänzen das nur.

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Venedig, 7.9.2011, achter Tag – Venedig hat viele Probleme, und über ein paar davon haben wir an dieser Stelle schon geschrieben. Eines der größten Probleme heißt natürlich Toronto. Das kana­di­sche Festival ist viel besser orga­ni­siert, für die Teil­nehmer billiger, hat viel Geld, und vor allem den Markt, für den in Venedig keine Infra­struktur existiert. Die Folge für Venedig: Nach dem ersten Wochen­ende beginnt die Festi­val­ka­ra­wane, vor allem die Händler, nach Kanada weiter­zu­ziehen.

Es sind drei Tricks, die Marco Müller auf Lager hat, um sein daher zur Halbzeit notorisch erschöpftes Festival noch einmal aufzu­put­schen. Die ersten beiden haben wir hier vor zwei Tagen schon beschrieben: Der erste ist der Pasinetti-Trick: Man nehme einen Wett­be­werbs­film mit halbwegs bekannten Namen, und zeige ihn nur im kleinsten Saal des Festivals. Alle, die ihn dadurch nicht sehen können, glauben, sie hätten ausge­rechnet den wich­tigsten Film des Festivals verpasst, reagieren hyste­risch und fertig ist der Hype.

Der zweite Trick ist der Sorpresa-Trick: Ein Über­ra­schungs­film, der als solcher früh­zeitig angekün­digt, in allen übrigen Details aber streng geheim gehalten wird. Alle speku­lieren, um was es sich wohl handeln könne, Dutzende von Namen wabern tagelang durchs Festival, und viele bleiben schon deshalb noch länger vor Ort. Denn wer weiß... Fertig ist der zweite Hype, und das Festival hat einen Tag länger seine Schlag­zeilen.

Der dritte Trick ist der Mittwochs-Trick: Man program­miere einen Altmeister mit bekanntem Namen auf den Festi­val­mitt­woch­abend. Norma­ler­weise wären viele schon abgereist, aber den einen Film wollen sie noch sehen. Bei diesem Namen weiß man schließ­lich nie... Auch wenn er seine beste Zeit eigent­lich schon hinter sich hat... Aber er hat auch seine Fans... Über den Film schreiben kann man dann erst am Donnerstag, das heißt: Es steht erst Freitag in der Zeitung – die Festi­val­woche ist gesichert. So geschehen in den letzten Jahren zum Beispiel mit David Lynch oder Peter Greenaway. In diesem Jahr kam der Mitt­wochs­film von Alek­sander Sokurow

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»Ist er ein Verrückter?« – »Nein, ein Russe!« (Dialog­zeile aus Faust)

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Dann am Abend der lang­erwar­tete Faust von Alek­sander Sokurow. Zwei­fellos ein Highlight im Programm, von manchen wie der Messias des Kinos erwartet, und von manchen, wie Guiseppe Rapido, schon vor Beginn des Festivals zum sicheren »besten Film« des Festivals ausge­rufen.

Gedreht wurde der Film im fast quadra­ti­schen Format alter Stumm­filme – die erste, aber längst nicht letzte Anspie­lung auf das große Vorbild Murnau und dessen Faust-Film von 1926. Sokurov zeigt von der ersten Sekunde an, als der Film im Himmel beginnt, Mut zum Digitalen. Wie bei einem verrückt gewor­denen Peter Jackson stürzt sich die Kamera in ein digitales Tal, ein digitales Dorf, um in einem Kurio­si­tä­ten­ka­bi­nett zu landen. Alles sieht Mittel­erde viel zu ähnlich, und bis zum Schluss denkt man immer mal wieder, hier habe man es mit einem Nach­lass­werk von Tolkien zu tun: »Der kleine Hobbit, Zweiter Teil«. Zumal die Kamera, das gibt denen, die cden Film noch nicht kennen, eine Ahnung, von Bruno Delbonnel stammt, der zuvor unter anderem »Amelie« und »Harry Potter and the Half-Blood Prince« bild­ge­staltet hatte.

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Der Anfang ist trotzdem inter­es­sant, weil uner­wartet, ein bisschen Gothic-Novel, Faust als Fran­ken­stein, der an Leich­namen forscht, Toten ihre Einge­weide entnimmt. Doch statt im Ekel-Horror weiter­zu­ma­chen wird’s bald ein dikta­to­ri­scher Autoren­film aus vergan­genen Zeiten: Ein Film, wie er kaum noch möglich scheint, nur wenn ihn ein Russe macht: Idio­syn­kra­tisch, schwer­blü­tigst, völlig humorlos. Faust ist sehr verquas­selt, pausenlos schwappen Wort­kas­kaden über die Leinwand – gut, dass man nicht auch noch die Unter­titel lesen muss, denn obwohl das ein russi­scher Film ist, wird Deutsch gespro­chen. Der Ton aller­dings ist nach­syn­chro­ni­siert und klingt wie ein Hörspiel. Von diesem Regisseur würde man nun eher einen Malstrom aus Bildern erwarten, als aus Worten. Die Bilder aber sind langsam und träg, breiig, milchig, so unscharf, wie in den David-Hamilton-Filmen der Spät­sieb­ziger, zugleich ist das ein sehr dunkler Film, in dem Grau, braun und Grünlich domi­nieren. Manchmal wurden die Bilder noch bewusst verzerrt, und man fürchtet, der Vorführer habe sich in der Ratio vergriffen. Sokurov-Forscher, wenn es sie denn geben sollte, können in den folgenden Jahr­hun­derten versuchen, im Einsatz dieser schrägen Bilder ein System zu entdecken – time is out of joint kann man natürlich immer sagen.

Das Produc­tion-Design drängt sich auch hier wieder in den Vorder­grund. Faust ist vor allem anderen eine Ausstat­tungs­orgie, billig zwar, aber voller Über­trei­bung. Gedreht wurde in der tsche­chi­schen Republik, wo es offenbar in manchen Orten immer noch so aussieht, wie im deutschen Märchen. Gerade zu Beginn läuft pausenlos Musik. Aber was für welche? Romantik, nicht Klassik denkt man, Manie­rismen, 19. Jahr­hun­derts. Mal Schubert, mal Mahler. Puste­ku­chen: Alles selbst­ge­macht von Andrey Sigle. Auch hier also: Romantik aus zweiter Hand, die sich als Klassik ausgibt.

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Die Story ist bekannt: Faust ist frus­triert durch die Grenzen des mensch­li­chen Geistes, und sucht Hilfe bei höheren Mächten. Da weicht Sokurov nicht ab, ist nur unprä­ziser als Goethe, Murnau, die anderen. Die inter­es­san­teste Frage ist: Warum? Was immer er auch zeigt, Sex zeigt er dann nicht. Dafür ein Platsch ins Wasser – wie meta­phern­reich. Und Gesichter in Groß­auf­nahme und Zeitlupe, dann noch Fausts Gesicht vor blondem Schamhaar, dann Zombies – ja wirklich!

Sokurows Mephisto heißt übrigens nicht Mephisto, sondern Maurizius »Der Dunkle«. Diese Figur ist die Proble­ma­tischste von allen. Mit anderen Mephisto-Versionen hat er auch sonst wenig zu tun. Er ist ein Pfand­leiher, klein, schmierig, körper­lich defekt, nahe an Gollum alles in allem. Er ist auch höchst unchar­mant. Dieser Teufel ist kein Verführer, keine ästhe­ti­sche Figur. Und redet gele­gent­lich jiddisch – und immer deut­li­cher wird: Es ist die Ikono­gra­phie des Anti­se­mi­ti­schen, derer sich Sokurow hier bedient.

Sokurov enthält uns alles vor, was wir aus dem Faust kennen: Kein Oster­spa­zier­gang, kein Pudel der sich verwan­delt, kein »zwar weiß ich viel, doch will ich alles wissen.«, kein Hexen­sabbat... Warum es überhaupt einen Teufels­pakt gibt, das wird nie klar. Man weiß auch am Ende nicht, wer dieser Faust ist, und was er sucht, was ihn bewegt. Freiheit irgendwie. Und die Seele sei nicht mehr wichtig. Irgendwie. Dieser Faust ist mehr eine Behaup­tung des Faus­ti­schen.

Es ist eher ein Vorwand für ein Kurio­si­tä­ten­ka­bi­nett. Die üblichen Verdäch­tigen unter den deutschen Darstel­lern, die leicht defekt oder irgendwie kränklich aussehen, sind daher dabei: Antoine Monod als feister Mönch, Lars Rudolph als hell­stimmig lispelnder Wirt und Andreas Schmidt hat dann noch gefehlt. Alle drei sind dreimal im Bild, haben je drei Sätze. Und so hat auch Georg Friedrich, der immer Spaß macht, selbst als Wagner bei Sokurov, seinen Auftritt: Irgend­wann hat er ein Marme­la­den­glas in der Hand, quasselt von Humun­culus, »der Über­mensch, der von Menschen­hand geschaf­fene Mensch«, dann rutscht ihm das Marme­la­den­glas aus der Hand und unten liegt ein blutender, sabbernder Glib­ber­fötus in Marzi­pan­farben, der sehr erinnert an das Bild von abge­trie­benen Kind in »4,3,2«, jenem angeb­li­chen Meis­ter­werk aus Rumänien. Das Festival wird also Gothic – das ist der gute Teil der Nach­richten aus Sokurovs Mittel­erde.

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Irgendwie ist das ein affek­tierter Schmarren, aber trotzdem muss man es ganz anders ernst nehmen, als etwa Ferrara. Als Schluss­stein der Trilogie über Hitler, Lenin, Hiroitho hat es etwas zusätz­lich Präten­tiöses. Sokurov, so lächer­lich man das auch finden kann, will Deutsch­land vor Hitler retten, und damit auch die Faus­ti­sche Pose, die dichb unrettbar vom Faschismus konta­mi­niert ist. Dazu ringt er mit den Göttern und mit dem Deutschen Geist. Das ist die dikta­to­ri­sche Pose dieses Kinos, sein Größen­wahn. Es ist aber auch sein Reiz. Es ist auch, ganz uniro­nisch gemeint, gut, das es solche Filme gibt.

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Was die Menschen reden, ist übrigens nicht immer Goethe. Zum Beispiel: »Hier stehe ich und kann nicht anders. Gott helfe mir Amen!« Das ist nicht Faust – sondern genauso bekannt: Luther. Don Quixote kommt auch vor, und gegen Ende liegen drei Männer in Rüstungen auf einer Anhöhe. Wer ist das? Die Heiligen Drei Könige, viel­leicht entlaufen aus Albert Serras Film Honor de Cavaleria (2006).

Das Ende ist überhaupt das Beste an diesem Film. Es spielt in Island, Geysire blubbern und spucken meterhohe Heiß­was­ser­fon­tänen – das sind mal Bilder! Aber da ist es längst zu spät. Und einmal gibt es doch Lacher. Als Mephisto, pardon: Maurizio tatsäch­lich gestei­nigt wird. »Nochmal, nochmal, nochmal« ruft dabei der Teufel, und man erinnert sich sofort an Das Leben des Brian: »Jehova, Jehova, Jehova...«

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Was Sokurov tatsäch­lich tut: Er bietet Betrach­tungen eines Unpo­li­ti­schen. Die natürlich nie wirklich unpo­li­tisch sind. Also Gegen­auf­klärung. Feier des Mittel­al­ters, Affekt gegen Zivi­li­sa­tion. Anti-Hegel. Anti-Kracauer. Post­mo­derne. Die Geschichte soll zurück­ge­dreht werden, durch Hitler hindurch vor Hitler zur halb­her­zigen Unschuld eines Murnau zurück. Also das Gegenteil von »Von Caligari zu Hitler«: Von Hitler zu Caligari, besser zu Murnau. Dann darf man mit Gott ringen und mit Klages den Geist als Wider­sa­cher der Seele begreifen, mit Spengler vom Faus­ti­schen reden, und in Faust der Sucher UND Mate­ria­listen begreifen. Dann darf man auch wieder Juden-Stereo­typen benutzen, ohne Antisemit zu sein. Das wird auch niemand Sokurov unter­stellen. Einen fahr­läs­sigen Umgang mit filmi­schen Zeichen dagegen schon. Sokurov will alles predigen und nichts zeigen. Zugleich verlegt er sich auf die Geste des Naiven. Da mögen die inter­na­tio­nalen Kritiker in ihrer Mehrheit – Applaus!

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Sukurow wäre demnach der klas­si­sche FIPRESCI-Preis-Gewinner, und wir nehmen uns einmal die Freiheit, vorher­zu­sagen, dass der Film diesmal diesen Preis gewinnen wird. Den Preis der unab­hän­gigen Film­kritik, den Bisato d’Oro bekam übrigens der Haupt­dar­steller Johannes Zeiler.

Andere Kritiker sehen es natur­gemäß anders: Die schwe­di­sche Kollegin Ingella spricht mich direkt nach dem Film darauf an, was ich davon hielte, dass Deutsch­land als Film­för­derer Zahl­meister Europas ist. Zum Film sagt sie: »Ich will ihn gut finden, aber ich finde ihn nicht gut.« Conxita aus Spanien sagt es noch viel schöner: »niebla intellec­tual«.

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Am nächsten Morgen – und da sind wir wieder bei Marco Müllers Program­mier­genie – haut William Friedkin dann diese ganze Absur­dität mit ein paar wohl­ge­setzten Hieben zusammen. Es dauert viel­leicht zehn, fünfzehn Minuten, bis genau zu dem Moment, an dem Matthew McCo­n­aughey zum ersten Mal im Bild ist, bis man wieder weiß, dass Friedkin, nun auch schon 75 Jahre alt ist, bessere Bilder macht, als 90 Prozent aller ameri­ka­ni­schen Regis­seure.

Killer Joe erzählt von einer White-Trash-Familie in Texas. Der Vater ist einer dummer Auto­me­cha­niker, Sohn Chris ein Tauge­nichts mit Spiel­schulden bei Geld­ver­lei­hern, und einer festen Arbeit als Drogen­dealer. Seine Stief­mutter arbeitet beim örtlichen Pizza­bä­cker als Servie­rerin, die Tochter Dottie ist eine hübsche Unschuld vom Land mit Loli­taap­peal, bei der man nicht recht weiß, ob sie zurück­ge­blieben ist oder nur eine Trai­ler­park-Cinde­r­ella. Weil er dringend Geld braucht, hat Chris den Plan, seine getrennt lebende Mutter ermorden zu lassen – sie hat nämlich eine fette Lebens­ver­si­che­rung abge­schlossen, die auf Dottie ausge­stellt ist. Weil Chris sich seiner Grenzen bewusst ist, heuern sie Killer Joe an. Der ist Polizist, und im Neben­beruf Auftrags­killer. McCo­n­aughey spielt ihn als Bedrohung in Person, aus einem Film Noir entstiegen, dabei mit großer Ironie, die diesen ganzen Film auszeichnet, bei dem man nie weiß, wie ernst das alles gemeint ist.

Was in jedem Fall Spaß macht, sind die Dialoge. Etwa zwischen Joe und Chris: »This is serious business« – »I am aware of that.« – »I don’t think, you are. Our conver­sa­tion is finished. we've never met.« Oder zwischen Joe und Dottie: »Do you trust me?« – »Not quite.« – »Good.« Und später, beim Abend­essen: »How are you coming along with killing my mum?« – »This is not an appro­priate dinner conver­sa­tion.« – »Unless you poison her.« Die Geschichte geht dann nämlich so: Joe will Vorkasse, die böse Familie hat kein Geld, solange Mami nicht tot ist. Also verlangt Joe ein Pfand, und dies ist Dottie, auf die er von Anfang an ein Auge geworfen hat. Als der Mord ausge­führt ist, geht die Versi­che­rung aber an jemand anderen. Was geschieht nun mit dem Pfand?

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Das mag sich im ersten Moment banal anhören, ist aber nicht nur ungemein witzig, sondern auch eine abgrün­dige Analyse Amerikas und der Seele des Westens, die dieser auch längst dem Teufel verkauft hat.
Ist Killer Joewirklich eine schwarze Komödie, wie Variety schreibt? Oder eher eine weiße Tragödie? Man kann an die Coen-Brüder denken, ich habe aber eher an David Lynch gedacht, an Blue Velvet.

Der Film ist in jeder Hinsicht das Gegenteil von Faust. Ironisch, mit klaren Bildern, ein Kino, das zeigt, und nicht predigt. Keine Symbole, keine Gewißheit, dafür Pathos und Irri­ta­tion. Keine Thesen und Antworten am Ende, sondern Fragen. Wo Sokurow naiv ist, ist Friedkin senti­men­ta­lisch.

Auch diese Program­mie­rung selbst – Friedkin auf Sokurow, »Killing Joe« auf Faust – kann Müller nur ironisch gemeint haben. Zumal Friedkin schließ­lich auch mal einen Exorcist gedreht hat. Nachdem der Wett­be­werb für einen knappen Tag eine Drehung ins Absurde, Kaputte, Idio­syn­kra­ti­sche bekommen hatte, treibt ihm Friedkin den Teufel wieder aus.