14.10.2010
Cinema Moralia – Folge 29

Das deutsche Kino kanni­ba­li­siert sich selbst

DIE LIEBE DER KINDER
Zum Verzweifeln: DIE LIEBE DER KINDER – nur eine Kopie, 1900 Zuschauer
(Foto: 2pilots Filmproduktion Flöter & Siepmann GbR / RFF Real Fiction Filmverleih eK)

Wer hat schuld? Das böse Publikum, die Verleiher, die Fernsender, der DFFF, die Mafia und andere Grausamkeiten

Von Rüdiger Suchsland

Inzwi­schen ist es einfach nur noch schreck­lich, was gerade passiert. Gemeint sind ausnahms­weise mal (noch) nicht die Kritiker und die Filme­ma­cher, sondern das Publikum. Das stellt sich derzeit ein Armuts­zeugnis nach dem anderen aus, denn es gibt doch ein paar gute Filme, aber viel zu wenig Leute gehen rein. Blicken wir mal auf die depri­mie­renden Zahlen der letzten Wochen (die Filmliste der soge­nannten »Arthouse-Filmhits«, wobei beide Worte nur als Euphe­mismus verstanden werden können:
Nur 70.000 Zuschauer in Jud Süss ist natürlich viel zu wenig, egal was man über Roehler denkt. Die Leute wollen »nicht schon wieder Nazis« sehen, heißt es dann. Mag ja sein. Aber warum wollen Sie Resident Evil: Afterlife sehen (1.039.517)? Und da dieser Film beim Film­fes­tival von Ludwigs­hafen in drei Vorstel­lungen über 2800 Zuschauer hatte, also statt 46 Zuschauern pro Kopie einen Kopi­en­schnitt von 950, liegt so ein Miss­erfolg viel­leicht auch ein wenig an unfähigen Kino­be­trei­bern und womöglich – sorry – falschem Marketing.)

Wieso Max Schm­elimng bei den ganzen Maske-Inter­views und 176 Kopien nur auf gerade 10.000 Zuschauer kommt, ist mir Uwe Boll hin oder her, auch schlei­er­haft. Oder die 1900 Zuschauer, die Die Liebe der Kinder bisher gewann, aller­dings mit nur einer Kopie.
Und keine 5000 Zuschauer in drei Wochen für Loong boonmee raleuk chat (Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben) vom Thailänder Apichat­pong Weer­a­set­hakul verstehe ich persön­lich zwar, weil ich den Film auch gähnend lang­weilig und gnadenlos über­schätzt fand, aber immerhin habe ich ihn gesehen. Sogar zweimal. Und es handelt sich um den Sieger der Goldenen Palme von Cannes. So ein abgrund­tiefes Desin­ter­esse? Warum? Oder gibt es einfach nur noch maximal 50.000 Menschen in Deutsch­land, die man überhaupt ernst nehmen kann, wenn wir über Kino reden – als Kritiker, wie als Filme­ma­cher

Viel schlimmer und depri­mie­render finde ich aber noch etwas anderes: Dass ihr alle – ja ihr, denn es sind nicht immer die anderen – immer dem Lautesten und Größten nach­he­chelt. Ein gutes Beispiel: Fast 90.000 Zuschauer für den schlech­testen Miyazake aller Zeiten (Ponyo...), der aller­dings mit 17 Zuschauern pro Kopie den hunds­mi­se­ra­belsten Kopi­en­schnitt hat, und nur 1616 Zuschauer für Summer Wars, einen groß­ar­tigen, genialen Anime, der viel besser ist, als Inception oder The Social Network. Hier geht’s ums gleiche Genre, gleiche Ziel­gruppe.

Es geht mir nicht um Masse, und im Grunde ist es egal, ob etwas vielen Leuten gefällt. Aber nicht egal ist, ob viele Leute neugierig sind. Ob sie offen sind.
Leute, so geht das nicht weiter! Wenn ihr bessere Filme sehen wollt, müsst ihr in die halbwegs guten reingehen.

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Schuld an all dem sind natürlich die Verleiher. Die zu wenig Kopien zur Verfügung stellen, sie schlecht heraus­bringen, die falschen Filme einkaufen, kein Vertrauen zu ihren eigenen Filmen haben.
Schuld haben die Kino­be­treiber, die Filme schlecht vorführen, in deren Kinos es stinkt, die ihr Publikum nicht erziehen, die die falschen Filme buchen, selbst keinen Geschmack haben, und kein Vertrauen zu ihren eigenen Filmen.
Schuld hat der mit Steu­er­gel­dern finan­zierte DFFF, durch den einfach mal viel zu viel Filme entstehen, die sich gegen­seitig kanni­ba­li­sieren. Und die falschen. Und viel zu viel schlechte.

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»My theory was that the readers just thought they cared about nothing but the action.«
(Raymond Chandler)

Die Stadt ist der Abgrund. Sie ist auch das Paradies. Himmel und Hölle das trifft sich in Dominik Grafs Im Angesicht des Verbre­chens, so wie Kino­an­spruch und Fern­seh­rea­lität. Es gibt nämlich natürlich auch super­gutes Fernsehen, und ein Beispiel hierfür läuft seit letzter Woche auf der ARD: Ursprüng­lich als Acht­teiler für WDR/Arte produ­ziert, läuft die Serie nun als Zehn­teiler. Man darf hoffen, dass dies die Zuschauer annehmen und gespannt sein, wie es klappt. Denn zwei­fellos gehört Im Angesicht des Verbre­chens am Ende ins Kino. Dort, das zeigte sich bei der Premiere im Rahmen des Forums der Berlinale, funk­tio­niert sie blendend – ein Ereignis dessen Inten­sität sich die Zuschauer nicht entziehen konnten, gerade weil hier die üblichen Maßstäbe auch zeitlich gesprengt werden, und man zweimal je knapp fünf Stunden im Kino saß. Das ist auf TV-Ebene vergleichbar nur mit dem nun bald 20 Jahre zurück­lie­genden Die zweite Heimat von Edgar Reitz, der einen ähnlichen Sog entwi­ckelte.

Für Quoten inter­es­siert sich Graf dabei nicht: »Quoten­hits haben mit den wahren Schön­heiten von Filmen absolut gar nichts zu tun. ... Sollen wir jetzt alle Schwarz­wald­klinik drehen, weil die Quoten­päpste die Zuschauer womöglich nicht mehr beun­ru­higen wollen?« Graf spricht im Gespräch (auch auf artechock) von den zwei Gesich­tern des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens: »Es gibt Leute, die kämpfen wirklich an vorderster Front um das Best­mög­liche. Man glaubt gar nicht, wie ausdau­ernd und wie stark manchmal, und mit was für einem Willen, das Richtige zu tun. Ich glaube, in manchen Funk­ti­onären lebt beides, der Filmfan und der Appa­rat­schik neben­ein­ander. Man muss das bessere Ich des TV heraus­for­dern, immer wieder. Aber das deutsche Fernsehen war natürlich mal mit das Beste der Welt, so lange bis Zyniker es auf Teufel komm raus in Pfeil­rich­tung Quoten­stadel versuchten, umzubauen. Diese Entwick­lung muss revidiert werden sonst schafft sich das TV ja selbst ab.«

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»The police thriller is the only modern form of tragedy possible.«
Jean-Pierre Melville

Im Kino drängt sich der Vergleich mit ganz Großem auf: Coppolas Der Pate liegt schon deswegen nahe, weil auch dies eine Mafia­ge­schichte ist, Berto­luccis 1900 in dem epischen Ton, in dem hier erzählt wird, in der Ruhe mit denen sich Graf und sein Dreh­buch­autor Rolf Basedow Zeit lassen für Ellipsen, für Exkurse, ihrer Geschichte Zeit geben in die Breite zu schweifen, sich von sich selbst zu entfernen – und genau auf die Art zeigt sich das Leben selbst im Kinosaal.

Es sind fraglos unter anderem gerade diese Exkurse, in denen sich Grafs Meis­ter­schaft zeigt: Das Treffen etwa von ein West-Berliner Altgangster und einem ehema­ligen Sowjet­ge­neral, dessen Unter­ge­bene sich gerade Berlin unter den Nagel reißen: Sie reden über die alten Zeiten, und wie jene Madeleine in Prousts berühmtem Roman über die verlorene Zeit, erinnert man sich plötzlich wieder, dass dessen Westteil schon in den Zwan­zi­gern wegen der vielen russi­schen Emigranten »Char­lot­ten­grad« hieß, und daran, dass Berlin seinen Namen ursprüng­lich durch den russi­schen Namen für das Wort Sumpf bekam. Denn Berlin war ein Sumpf, und Graf zeigt, dass es das in gewisser Weise bis heute ist.

Eine andere jener in sich geschlos­senen Neben-Episoden ist die, in der der von Max Riemelt gespielte Held, ein junger Polizist namens Gorsky, der in einer Spezi­al­ein­heit die Russen­mafia jagt, und nebenbei immer noch den Mord an seinem Bruder, der selbst deren Mitglied war, aufklären will, die ehemalige Freundin seines Bruders trifft. Sie lebt im fernen deutschen Osten, ist dort verhei­ratet und will von der Erin­ne­rung nichts wissen. Aber die hat sie noch ganz im Griff. Und wie Graf und seine junge Darstel­lerin in einer einzigen Szene in wenigen Minuten ihr ganzes Leben und den ganzen Menschen erzählen, ist einfach großartig. Oder die Figur einer jungen Barfrau in einer Russen­dis­ko­thek, die sich einer­seits in einen Gangster verliebt hat, ande­rer­seits um die Gefahren des Milieus weiß – im wenigen großartig gespielten und insze­nierten Szenen wird sie ganz prägnant.

Nicht weniger meis­ter­lich sind die Action­szenen. Man hat so etwas, auch im deutschen Kino lange nicht gesehen: Überfälle, Razzien, Schlä­ge­reien, Verfol­gungs­jagden… Das ist lustvoll und doch nie Selbst­zweck. Aber Graf weiß, dass es im Kino eben am Ende nicht um Plots und »human factor« geht, sondern nur um das, was man sieht, und dann um das, was man auch noch sieht, um visuellen Mehrwert und die Kunst der Über­schrei­tung im Sinne Batailles, um Verschwen­dung im ästhe­ti­schen Sinn.

Im Zentrum aber steht die Geschichte einer Familie, ihres Schick­sals und ihrer Verzwei­gungen. Verbre­chen und Strafe gibt es in ihr, Krieg und Frieden, Poli­zisten und Gangster. Es ist auch wichtig darauf­hin­zu­weisen, dass diese Familie deutsch ist, aber aus Lettland emigriert, dass sie jüdisch ist, und nicht nur einst verfolgt wurde, sondern im Großen Vater­län­di­schen Krieg der Sowjet­union auf deren Seiten stand – große Geschichte im Kleinen, auch dafür ist »Im Angesicht des Verbre­chens« ein Muster­bei­spiel. Der Film handelt am Ende in vielen seiner Figuren davon, worum es immer geht: Wie sich ein Einzelner und seine Freiheit behaupten können in einer Welt, die für Freiheit wenig Sinn hat, und den Platz des Einzelnen vor allem über seine Herkunft und seine Gruppe definiert.
Durch diese Familie und in ihr wird ein Stück aus dem Unterleib der Stadt Berlin und ihrer Gegenwart erzählt, das ganz wahr ist und treffend, und das doch so noch nie erzählt wurde.

Bewun­derns­wert ist, wie wuchtig und dicht das alles ist: An Altman erinnert Grafs Kunst der Vernet­zung, seine dutzenden von Cliff­han­gern, er arbeitet zwischen­durch mit Split­screens und versteht es jederzeit, den Überblick zu behalten, und ihn auch seinen Zuschauern zu geben. Ein Meis­ter­werk des Krimi­nal­films.

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Je mehr ihnen der Wind ins Gesicht bläst, um so dreister werden die deutschen Fern­seh­sender, was uns an diesem Ort schon deshalb inter­es­sieren muss, weil sie die Haupt­pro­du­zenten des deutschen Kinos sind. Neuestes Beispiel: Der deutsche Fern­seh­preis. Der wurde am letzten Wochen­ende in Köln verliehen, und es gab mal wieder Ärger, und zwar sehr berech­tigten.

Unter der schönen Über­schrift »Frag­wür­diger Deutscher Fern­seh­preis« schimpfte – etwas spät aber immerhin – am Tag vor der Verlei­hung der »Bundes­ver­band der Fernseh- und Film­re­gis­seure« über die frag­wür­digen neuen Preis-Kriterien. Denn das Reglement wurde in diesem Jahr völlig umge­krem­pelt, mit eindeu­tiger Ziel­rich­tung: Fernsehen möchte als seriell wahr­ge­nommen werden, darum sind Fern­seh­filme den Machern ein Dorn im Auge, die Ausnahme von der Regel.

Was ja alles schön und gut ist, nur sollte dann die Förderung von Fern­seh­filmen einfach mal ebenso radikal umge­krem­pelt werden. Sprich: Keine Gelder vorab gegen Mitsprache. Sondern die Verpflich­tung für öffent­liche, also geför­derte Sender, die geför­derten Filme zu kaufen, und ange­messen, sprich: Zur Primetime, zu zeigen. Und wenn dann alle Sat-1 und anderen Mist gucken? Werden sie nicht. Aber sollen sie doch. Wie gesagt: Masse ist wurscht.

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Beim Deutschen Fern­seh­preis 2010 wurden die bisher üblichen Einzel­aus­zeich­nungen, etwa für Regie, Drehbuch, Musik etc. abge­schafft. Prämiert werden sollen künftig Personen in Teams. Bei Fern­seh­filmen und Mehr­tei­lern werden dies gemeinsam sein: der Produzent, der Regisseur, Autor, Kame­ra­mann, Cutter, Komponist, Ausstatter und stell­ver­tre­tend für das Schau­spieler-Ensemble die Haupt­dar­steller. Außerdem sind Sender­ver­ant­wort­liche hinzu­ge­kommen: der Redakteur und manchmal die Redak­ti­ons­lei­tung. Mit anderen Worten: Wenn schon Preise, dann möchte man sie sich doch selber geben.
Dafür entfernte man im Bereich der Serie den wich­tigsten Gestalter, den Regisseur, aus dem auszeich­nungs­fähigen Team.

Klar wird dabei: Die Sender wollen zentrale Urhe­ber­leis­tung margi­na­li­sieren.
BVR-Geschäfts­führer Jürgen Kasten stellte dazu die Frage: »Auf welcher Grundlage und nach welchen Kriterien urteilt die Jury? Das dürfte ihr Geheimnis bleiben oder einem von den Sendern defi­nierten Auszeich­nungs- oder Popu­la­ri­täts­pro­porz geschuldet sein«.

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Bereits einen Tag vorher gab es den »Hessi­schen Filmpreis«. Bei dem gewannen gleich zwei Produk­tionen der ZDF-Redaktion »Das kleine Fern­seh­spiel« die immer wieder beweist, dass auch unter ungüns­tigen Bedin­gungen noch gute Filme möglich sind. Ausge­zeichnet wurden Burhan Qurbanis Shahada (Redaktion Burkhard Althoff), der den mit 35.000 Euro dotierten Hessi­schen Filmpreis für den besten Spielfilm bekam, und Baran Bo Odars Das letzte Schweigen (Redaktion Christian Cloos), an den der Preis für die »Beste Inter­na­tio­nale Lite­ra­tur­ver­fil­mung« 2010 ging.

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Die »Deutsche Film- und Medi­en­be­wer­tung« (FBW), die ja schon öfters auf sehr merk­wür­dige Urteile kam, zeichnet Goethe! von Philipp Stölzl mit dem »Prädikat besonders wertvoll« aus. Nun gut, da kann man anderer Meinung sein, aber was solls? Nur: Muss man dann wirklich behaupten, Stölzl schaffe »es in seiner Film-Biografie, die Sturm- und Drang­jahre des jungen Goethe perfekt auf die Leinwand zu bringen.« Perfekt? Geht’s nicht besser. Viel­leicht haben sie die Autoren da vom Sturm und Drang inspi­rieren lassen, aber trotzdem: Man muss doch nur mal fünf Histo­ri­en­filme angucken, um zu wissen, was noch alles geht, und warum »perfekt« einfach ein bisschen hoch gegriffen ist. Und die FBW schreibt es ja selbst: »Natürlich kann der Film die poli­ti­sche Dimension der ›Sturm- und Drang‹-Bewegung nicht histo­risch genau zeichnen.« Warum ist das jetzt natürlich? Aber immerhin: Ein Defizit. Gibt es Perfek­tion mit Defiziten.

Es ist diese aufplus­ternde Sprache, diese Super­la­tive, die Stölzls Film wie solche Stel­lung­nahmen so unsym­pa­thisch machen. Oder sollen wir in Zukunft die FBW auch nur noch mit Ausru­fe­zei­chen schreiben?

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.