20.05.2007
60. Filmfestspiele Cannes 2007

Advokaten des Teufels

No Country for Old Men
Bitterböser Coup der Coen-Brüder:
No Country for Old Men
(Foto: Universal Pictures)

Raumschiff Cannes: Böse gute Filme von Coen, Fincher, Assayas, Schroeder, die Schönheit des Sinnlosen, Türen ohne Schlüssel und Föten aus Marzipan

Von Rüdiger Suchsland

Cannes ist ein Raum­schiff, und das ist jetzt längst aus dem Orbit heraus­ge­treten und befindet sich im schwe­re­losen Raum, ohne ein Oben und Unten. Es gibt kein Film­fes­tival der Welt, an dem man so sehr das Gefühl hat, am richtigen Ort zu sein, wie hier. Alles was überhaupt passiert, passiert hier und jetzt, und die Welt könnte unter­gehen um einen herum. Da nutzt es gar nichts, zu wissen, dass es sich um eine Illusion handelt. Denn wir haben zuviele Filme gesehen, um noch zu glauben, es gäbe ein Leben jenseits des Kinos, um zu denken irgend­eine Wirk­lich­keit wäre weniger illu­si­onär als die elek­tri­schen Schatten der Leinwand.
Dass ist das Cannes-Gefühl und zu ihm gehören die drei Veran­stal­tungen, die gerade parallel statt­finden, während man die vierte besucht – und es ist immer die falsche. Man müsste überhaupt mal einen Text nur über alles das schreiben, was man verpasst hat, was gerade für einen nicht statt­ge­funden hat.

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Zum Beispiel die Pres­se­kon­fe­renz heute morgen. Ich war noch im Bett, als Chacun son cinéma lief, eine aus Anlass des 60. Jubiläums gedrehte Kurzfilm-Kompi­la­tion. 35 Regis­seure waren beteiligt, und zwar Theo Ange­lo­poulos, Olivier Assayas, Bille August, Jane Campion, Youssef Chahine, Chen Kaige, Michael Cimino, Ethan & Joel Coen, David Cronen­berg, Jean-Pierre & Luc Dardenne, Manoel De Oliveira, Raymond Depardon, Atom Egoyan, Amos Gitai, Hou Hsiao Hsien, Alejandro Gonzalez Iñarritu, Aki Kauris­maki, Abbas Kiaros­tami, Takeshi Kitano, Andrei Koncha­lovsky, Claude Lelouch, Ken Loach, Nanni Moretti, Roman Polanski, Raoul Ruiz, Walter Salles, Elia Suleiman, Tsai Ming Liang, Gus Van Sant, Lars Von Trier, Wim Wenders, Wong Kar Wai, Zhang Yimou. Klingt allemal hübsch, und ich will ihn nachholen. Die Pres­se­kon­fe­renz aber, wie gesagt, hab ich verpasst. Da waren nicht alle 35, aber unter anderem Roman Polanski, und bei der dritten oder vierten dummen Frage redete er sich in Rage und schimpfte auf die blöden Kritiker, die nur noch aus dem Internet abschreiben und man solle doch besser essen gehen. Und ging. Viel­leicht essen. Viel­leicht unter­zu­ckert. Viel­leicht auch nur über­for­dert von der Aussicht neben einem Dutzend anderer Genies nicht genügend zur Geltung zu kommen. Nicht, dass er völlig Unrecht hätte. Aber ganz recht doch auch nicht. Zumindest gibt es auch blöde Regis­seure, die nur nach­ma­chen, was die Kollegen vorge­macht haben, und wir müssen es dann anschauen.
Ich wäre natürlich gern mit Polanski essen gegangen, war aber wie gesagt gar nicht da. Ich wäre auch gern, zumindest für einen Tag, mal Polanski. Denn Polanski darf alles. Außer in die USA einreisen.

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Zum Cannes-Gefühl gehört die Freund­lich­keit der Festi­val­mit­ar­beiter, die noch Stil haben, wo sie irgend­eine völlig sinnlose „ordre“ durch­ex­er­zieren und sich nie wirklich und eben doch ein klein bisschen anmerken lassen, wie unsinnig sie sie selber finden. Dazu gehören die feucht­ge­spritzten Straßen am Morgen, der Weg entlang der Croisette ins Kino, die Zeit­schriften, die man sich unterwegs schnappt. Darin stehen zum Beispiel die aktuellen Kritiken und Kriti­ker­spiegel.

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Apoka­lypse im Grenzland zwischen den USA und Mexiko, ein Seri­en­killer in Kali­for­nien, Abtrei­bung in Rumänien, Frauen die alles tun, nicht nur für Geld, und Männer, die frus­triert sind, trotz vielerlei Reich­tümer, böse Kapi­ta­listen und Folter­lager, Anwälte des Terrors – auf den ersten Blick herrscht die Hölle in Cannes, doch cine­as­tisch ist man nahe am Himmel­reich. Denn dem Kino nutzt es, wenn es in Grenz­be­reiche der Seele und der Moral vordringt, Exzesse auslotet, Unge­se­henes zur Erschei­nung bringt.
Düstere Geschichten und um so heller strah­lende künst­le­ri­sche Glanz­lichter prägen die ersten Tage der Film­fest­spiele: Das gilt für David Fincher und die Coen-Brüder aus den USA glei­cher­maßen wie für die Franzosen Olivier Assayas und Barbet Schroeder, wie für ein paar Asiaten an Neben­schau­plätzen und für den welt­be­kannten Foto­grafen Anton Corbijn, der hier als Regie­de­bü­tant auftritt.

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Bisher nur Filme, die es zumindest wert waren, gesehen zu werden. Kein einziges Mal bisher das Berlinale-Gefühl: Selbst wenn die Filme gut sind, sind sie irgendwie unnötig und man könnte auch gut auf sie verzichten. Enttäuscht hat bisher nur Michael Moore. Und obwohl ich sie nur äußerst ungern in einem Atemzug nenne, stellt sich auch Wong Kar-wais Eröff­nungs­film My Blueberry Nights je länger er her ist, als eine gelinde Enttäu­schung heraus – noch eine äußert angenehme. Fast immer enttäuscht werden aller­dings alle Vorab-Erwar­tungen, denn fast allen bishe­rigen Filmen gemeinsam ist, dass sie frühere Werke ihrer Macher gewis­ser­maßen demen­tieren.

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Das beste Beispiel ist No Country for Old Men, der neueste Film der Coen-Brüder. In den letzten zehn Jahren drehten sie nur Komödien, die überdies zunehmend seichter wurden, und auch in ihrem Welt­erfolg Fargo domi­nierte ironische Distanz über eine ober­fläch­lich brutale, aber doch in erster Line witzig und gagori­en­tiert erzählte Geschichte. Nun aber zeigen die Coens ihr wohl düsterstes Werk seit ihrem Debüt mit Blood Simple vor immerhin 22 Jahren – und es ist ihr bester Film seit Fargo. Zurück­zu­führen ist das wohl auch auf den Autor der Buch­vor­lage, Cormac McCarthy, den ausge­mach­testen Apoka­lyp­tiker der US-Literatur und einen der besten Schrift­steller der Welt. No Country for Old Men ist hoch­karätig besetzt – unter anderem mit Tommy Lee Jones und Javier Bardem –, spielt in Texas und erzählt von den Folgen eines miss­glückten Drogen­deals. Ein präzis und ohne Manie­rismen und Effekt­ha­scherei insze­niertes, lako­ni­sches, stoisches Panorama der Sinn­lo­sig­keit, in dem man sich auf nichts verlassen kann, außer dass nicht viele Charak­tere das Filmende erleben werden. Mord und Totschlag in der Prärie, mensch­liche Destruk­ti­vität in einem Ausmaß, das man zunächst einmal darüber staunte, wie lange es dauerte, bis die Mehrheit im Saal merkte, dass sie jetzt besser nicht lachen würde, dass das jeden­falls nicht zum Lachen gemacht war. Alles in allem ein ausge­zeich­neter Film, dem man allen­falls einen latenten Zynismus vorwerfen könnte – aber Zyniker sind bekannt­lich unter der coolen Maske Hoch­sen­sible.

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Das gilt nicht minder für David Fincher. Zodiac haben wir gestern zwar schon bespro­chen, aber im Gegensatz zu My Blueberry Nights wird er im Nach­wirken immer besser. Was auch am extremen Zuschau­er­ver­blüf­fungs­ta­lent des Regis­seurs liegt. Und daran, dass es Fincher immer gelingt, ins Herz der jewei­ligen Epoche zu treffen, irgend­einen grund­sätz­li­chen Aspekt seiner Gegenwart anzu­spre­chen, seine Zeit in filmische Erschei­nung zu fassen. Fincher macht es, mit anderen Worten, niemals unter seinem Niveau.
Mit Zodiac ist Fincher ein Film gelungen, der alle Erwar­tungen demen­tiert. Wie Preminger in Anatomy of a Murder legt der Film die Indizien auf den Tisch und sieht den Deco­die­rern dann bei der Arbeit zu. Im Zweifel für den Ange­klagten, also für die Wahrheit, gegen die schnelle Gewiss­heit. Im Zentrum stehen diese Deco­dierer, die Fähr­ten­leser, die Jäger des Killers, die Polizei und die Medien. Sie sind so verschieden wie ihre Darsteller, wie Jake Gyllen­haal, Robert Downey Jr., Mark Ruffalo – als Inspektor Toschi, das reale Vorbild für die Michael-Douglas-Figur in „Die Straßen von San Francisco“ –, Anthony Edwards aus „ER“.
Der Film erzählt von Spuren, die kalt werden. Er tut das im Stil des Film Noir: Coole Gesten, heiße Herzen, Männer­welten, kalter Kaffee, wache Nächte, zuviel Drinks und zuwenig Liebe. Zodiac ist ein philo­so­phi­scher Essay und es ist die Praxis der Ernüch­te­rung, von der Zodiac handelt, also von dem, was der Westen gerade erlebt. Er zeigt, dass der Gang in die Biblio­thek eben nicht immer, wie in Se7en, Aufklärung bringt, dass die Welt kein Text ist, der sich in jedem Fall dechif­frieren lässt. Manche Türen haben keinen Schlüssel. Fincher wird mit diesem Film zum Sokrates des Gegen­warts­kinos: Er weiß, dass er nichts weiß.

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Zodiac und den Coen-Film eint insgeheim, dass beide Filme sich den Wünschen der Zuschauer nach Antwort verwei­gern, dass sie Zuschau­er­er­war­tungen nicht bedienen.

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Inter­es­sant, wenn auch nicht völlig über­ra­schend ist die Tatsache, dass der rumä­ni­sche Abtrei­bungs­de­pres­si­ons­film 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile von Cristian Mungiu auch am Sonntag noch die erwähnte Film­kri­tiker-Rangliste anführt, natürlich nur die der inter­na­tio­nalen. Die Franzosen, die bekann­ter­maßen mehr Geschmack haben, favo­ri­sieren geschmacks­si­cher No Country for Old Men.

»Der Regisseur meint den Mist auch noch bitter­ernst.« sagt Dana aus den Nieder­landen, Redak­teurin der Monats­zei­tung „De Filmkrant“, einer der besten Film­zeit­schriften des Landes über den rumä­ni­schen Film. Sie hat ein Interview mit Mungiu gemacht und ist überzeugt, der Regisseur sei ein „pro life“-Anhänger und der Film als entspre­chendes Statement gedacht. Violeta aus Barcelona, auch Kriti­kerin, speku­liert derweil, aus welchem Material wohl das Fötus­mo­tell gemacht war, das die Kamera am Filmende bedeu­tungs­voll anstarrt. »Es sieht aus, wie aus Marzipan. Und viel­leicht haben sie es nach Dreh­schluss dann gegessen.«
Man sieht: Der Film wirkt immerhin nach. Hoffent­lich aber nicht 4 Monate, 3 Tage und 2 Stunden.

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Ein sicherer Preis­kan­didat wäre auch Olivier Assayas, würde sein neuer Film nicht außer Konkur­renz laufen. Wieder so ein Film, der die Geister spaltet, wieder einer, der 80 Prozent der Zuschauer wütend macht, wieder ein Film, wie man sie nur auf einem Festival wie diesem sehen kann, nur auf diesem Festival – wir müssen darauf noch ausführ­li­cher zurück­kommen. Jetzt nur soviel: Boarding Gate erzählt eine Liebes­ge­schichte zwischen Paris und China, spielt in den Welten der Gangster und Kapi­ta­listen, die sich kaum über­ra­schend zum Verwech­seln ähneln, und ist getragen von einer groß­ar­tigen Asia Argento. Lost in Trans­la­tion mit Knarren und Sex, und bis zum Schluss versteht Assayas' Kino der Poesie und Wildheit zu über­ra­schen.

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Genau das kann man leider von Michael Moore nicht sagen: In Sicko, der vom maroden US-Gesund­heits­system handelt, passiert genau das, was bei Moore immer passiert: Reiche beuten arme Menschen aus, die Linke ist gut und die Kapi­ta­listen böse. Mag ja alles stimmen, nur ist bei Moore alles derart vorher­sehbar, das man den Film nicht braucht. Und statt etwas politisch ernst zu meinen, dient alles in erster Linie als Anlass für billige Lacher.
Wirklich deutlich wird die Plattheit der Moore­schen Agitation im Kontrast zu Barbet Schroe­ders L’avocat de la terreur. Diese grandiose Doku­men­ta­tion rekon­stru­iert das Leben von Jacques Vergès, jenem Anwalt, der zu de Gaulles-Resis­tance gehörte, und später alge­ri­sche Atten­täter, dutzende afri­ka­ni­scher Dikta­toren, Pol Pot, PLO-Terro­risten, aber auch den Nazi-Schlächter Klaus Barbie vertei­digte – immer auf der Seite derje­nigen, die keinen Fürspre­cher mehr haben, aber auch von einer geheimen Faszi­na­tion für Gewalt und Geheim­nisse getrieben – die Schroe­ders sensa­tio­neller Film überaus präzise spiegelt. Und damit zugleich zeigt, was Doku­men­ta­tionen jenseits von Moore leisten können: Das Unvor­her­seh­bare sichtbar machen, einer Faszi­na­tion visuelle Gestalt geben, Geheimes enthüllen – wie gute Spiel­filme auch.

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Inter­views in Cannes sind begehrt. Die Verleiher müssen die wenige Plätze – Slots sagt man hier, wie Start­fenster am Flughafen – beim Welt­ver­trieb teuer einkaufen. Und jeder von uns Jour­na­listen, der hier ein Interview macht, weiß dass der Verleih für ihn eine vier­stel­lige Dollar­summe bezahlt hat – kann man dann eigent­lich noch ein kriti­sches Interview veröf­fent­li­chen. Oder gar keins, weil der Star – „Talent“ sagt man hier auch noch wenn es sich um Robert de Niro handelt, und manchmal ist das sogar die zutref­fende Bezeich­nung – indis­po­niert war? Und wenn das Band kaputt gegangen ist, muss man dann das Geld zurück­zahlen, oder macht man den Tom Kummer und „erschafft“ das Interview neu?
Fragen über Fragen. Vor diesem Hinter­grund ist aber eine andere Geschichte besonders inter­es­sant, die Dana erzählt: Der nieder­län­di­sche Verleiher des Tarantino-Films Grind­house hatte vier Cannes-Slots zur Verfügung. Zwei gab er größeren Zeit­schriften, die beiden anderen hat er meist­bie­tend auf dem Markt angeboten. Mindest­gebot: 1500 Dollar.
»Das gab’s bisher noch nie.« meint Dana, und auch wir finden, dass diese Geschichte schon deshalb Verbrei­tung verdient, damit der Verleiher eines Tages in der Hölle schmort. Und weil sie wahr­schein­lich die Zukunft ist. Darüber sollte Michael Moore mal einen Film machen: Flicko

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Auf der Toilette nach dem Film traf ich dann Fatih Akin. Relaxed, gelassen, mit dem ruhigen Charisma, an dem man Leute erkennt, die hier gewinnen können. »Toller Film« war auch sein Fazit und als ich mich wunderte, dass er überhaupt noch Zeit fürs Film­gu­cken hat, meinte er: »Vorher is viel Zeit, nur hinterher nicht mehr.« Akin genießt Cannes ganz offen­sicht­lich. Und verab­schiedet sich mit einem »Hau rein!« Tun wir. Jetzt gleich.