Zwei Tage, eine Nacht

Deux jours, une nuit

Belgien/F/I 2014 · 95 min. · FSK: ab 6
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Drehbuch: ,
Kamera: Alain Marcoen
Darsteller: Marion Cotillard, Fabrizio Rongione, Pili Groyne, Simon Caudry, Catherine Salée u.a.
Brechtsche Versuchsanordnung

Alltags­welten an einem Woche­n­ende

Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. – Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. – Das muß aufhören.– Das Leid dieses Menschen erschüt­tert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe.
(Bertolt Brecht, Das epische Theater, 1935/36)

Es ist eine Versuchs­an­ord­nung fast wie im Lehr­theater Brechts: Ein Arbeit­geber stellt die 16 Ange­stellten seiner kleinen Firma vor die Wahl: entweder sie bekommen 1000 Euro Prämie und nehmen dafür die Entlas­sung einer Mitar­bei­terin in Kauf oder es gibt keine Prämie und dafür darf die Mitar­bei­terin bleiben. Die kapi­ta­lis­ti­sche Bruta­lität steht am Anfang und ist gesetzt. Nur zwei Arbeiter stimmen gegen die Prämie. Als die Leid­tra­gende, Sandra, von ihrer Entlas­sung erfährt, erwirkt sie beim Chef eine neue Abstim­mung und hat nun ein Woche­n­ende Zeit, eine Mehrheit für ihr Verbleiben in der Firma zu finden.

Sandra (Oscar­preis­trä­gerin Marion Cotillard) ist eine fragile Person. Sie leidet an Depres­sion, nimmt starke Medi­ka­mente, sucht in der Familie und Ehe neu ihren Platz und kommt nach längerer krank­heits­be­dingter Abwe­sen­heit in ihre Firma zurück, als sie vor dieser schier ausweg­losen Situation steht. Allein auf sich gestellt würde sie wohl sofort resi­gnieren, aber die Mutter zweier Kinder wird intensiv unter­s­tützt von ihrer Arbeits­kol­legin und Freundin Juliette (Catherine Salée) und ihrem Mann Manu (Fabrizio Rongione). Diese treiben sie immer wieder an, das Unmög­liche zu versuchen und die Kollegen im direkten Gespräch zu überz­eugen.

Die belgi­schen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, Regis­seure und Dreh­buch­au­toren in einem, leuchten in ihren Filmen soziale Milieus aus und erzeugen dabei eine teilweise doku­men­ta­risch anmutende, eher nüchterne Atmo­s­phäre, die hier fast ohne Musik auskommt, es sei denn, sie kommt aus dem Radio oder anderen natür­li­chen Quellen. Auch gibt es außer Groß­auf­nahmen kaum filmäs­t­he­ti­sche Kabi­nett­s­tück­chen und origi­nelle Kame­ra­ein­stel­lungen. Die Handlung wird linear erzählt, so dass wirklich alles auf die Geschichte und die Darsteller ankommt. Es ist faszi­nie­rend, dass sie sich dabei immer wieder auf Schau­spieler verlassen können, ob Stars wie Marion Cotillard und Cécile de France oder Talente wie Jérémie Renier (L’enfant), die mit ihrer Präsenz vollauf überz­eugen können und die Charak­tere zum Leuchten bringen.

Auch die Geschichte in ihrer Klarheit und Einfach­heit trägt. Der Zuschauer folgt Sandra und ihrem Mann quer durch die Stadt, läuft ihr oft hinterher. Es entfalten sich, am Anfang etwas schlep­pend, aber einen zunehmend in den Bann ziehend, Alltags­welten an einem Woche­n­ende: Kinder öffnen die Tür, eine Kollegin lässt sich verleugnen, ein Kollege ist auf dem Fußball­platz und trainiert die D-Jugend, ein anderer muss im Zweitjob Kisten tragen. Und alle werden mit der knall­harten Frage konfron­tiert: Hilfst du mir, meinen Job zu behalten oder nimmst du die 1000 Euro?

Sie müssen es ihr ins Gesicht sagen. Es kommt zu berüh­renden Begeg­nungen der Soli­da­ri­sie­rung und Reue, aber auch zu kompro­miss­losen Konfron­ta­tionen (»Du willst mir meine 1000 Euro stehlen!«). Fast ideal­ty­pisch werden alle ethischen Posi­tionen der Dilem­ma­si­tua­tion durch­ge­spielt, so dass genug Zeit bleibt, sich zu fragen, wie man selbst reagieren würde.

Natürlich bleibt der Fokus stets auf Sandra, ihrem aufop­fe­rungs­vollen Mann und der Seite der „Guten“, aber selten werden die Arbeits­kol­legen, die sich gegen Sandra und für die Prämie entscheiden, als gefühls­kalte Ekel darge­stellt, weil alle das Geld bitter nötig haben und die Entschei­dung allen Betei­ligten viel abver­langt.

Marion Cotillard spielt die junge Frau in der Krise zurück­ge­nommen, aber intensiv und nuanciert, so dass die Einfüh­lung in die drama­ti­schen Höhen und Tiefen des Selbst­wert­ge­fühls Sandras leicht fällt. Wie lange kann man für sich selbst kämpfen, ohne seinen Stolz zu verlieren? Wo beginnt und endet das eigene Recht auf Soli­da­rität der Kollegen? Und die Frage aus der umge­kehrten Perspek­tive: Für wie viel Geld bin ich bereit, den Arbeits­platz meines Kollegen zu opfern?

Unbequeme mensch­liche Fragen, die die Brüder Dardenne noch mehr inter­es­sieren als die Perspek­tive der Macht, dem eigent­li­chen Ursprung dieser inhumanen Wahl­mög­lich­keit zwischen Prämie und Mitar­beiter. Was wäre bei aller emotio­nalen Erschüt­te­rung hier der poli­ti­sche Ausweg, der Bertolt Brecht inter­es­sieren würde? Ein Streik?

Durch den Zeit­faktor – Abstim­mung am Montag – und die auf einen Gleich­stand zulau­fenden Überz­eu­gungs­ver­suche Sandras spitzt sich zum Ende des Filmes die Handlung drama­tur­gisch zu. Jede Stimme zählt und die Hoffnung auf ein gutes Ende wächst.