Eine wahre Geschichte – The Straight Story

The Straight Story

USA/F 1999 · 111 min. · FSK: ab 0
Regie: David Lynch
Drehbuch: ,
Kamera: Feddie Francis
Darsteller: Richard Farnsworth, Sissy Spacek, Harry Dean Stanton, Jane Galloway Heitz u.a.
Per Rasenmäher durch Amerika

Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

Die Kamera fährt auf eine ameri­ka­ni­sche Klein­stadt herab: in einem Garten hat es sich eine dicke Frau auf ihrer Liege bequem gemacht. Während sie mit einem Reflektor versucht, möglichst jeden Sonnen­strahl auf ihr Gesicht zu lenken, ißt sie Süßig­keiten – plötzlich gibt es einen lauten Knall, und Alvin Straight, der 73jährige Nachbar der dicken Frau, liegt der Länge nach am Boden seines Hauses. In einem anderen Film von David Lynch wäre Alvin jetzt tot oder er käme in ein Kran­ken­haus, während wir Zuschauer beob­achten würden, wie sein Sohn oder sein Enkel auf gar wunder­samen Wegen die Abgründe der Welt entdeckt. Aber in diesem Film ist Alvin Straight die Haupt­figur, und wir werden ihn dabei beob­achten, wie er von Iowa bis Wisconsin 600 Kilometer auf einem Rasen­mäher zurück­legt.

Der Grund für Alvins Sturz sind seine Hüft­pro­bleme, die ihn dazu zwingen, an zwei Stöcken zu gehen. Als er vom Schlag­an­fall seines Bruders erfährt, entschließt er sich, ihn, den er nach einem Streit seit Jahren nicht gesehen hat, zu besuchen. Da Alvin keinen Führer­schein hat und nur äußerst ungern auf die Hilfe anderer ange­wiesen ist, nimmt er seinen alten Rasen­mäher, befestigt daran einen Anhänger mit der nötigen Ausrüs­tung und macht sich auf den Weg. Der Film paßt sich dabei der Geschwin­dig­keit der Maschine an, und Lynch nutzt dieses gemäch­liche Tempo für einen wunder­baren Witz über Hollywood-Konven­tionen: die Kamera schwenkt von der Rück­an­sicht des fahrenden Alvin in den Himmel, verharrt dort für einige Zeit, um dann wieder zum Boden zurück­zu­kehren – doch statt am Horizont zu verschwinden, ist Alvin gerade mal ein paar Meter weiter­ge­kommen. Allein schon wegen der Geschwin­dig­keit dieses Unter­neh­mens ist The Straight Story eine klare Antithese zu fast allen anderen Road-Movies, natürlich auch zu Lynchs Wild at Heart, und nach dem visuell und atmo­s­phä­risch extrem düsteren Lost Highway ist Straight Story eine Liebes­er­klä­rung an Menschen, Land­schaften, Maschinen und Lang­sam­keit.

Doch formal ist The Straight Story trotzdem und im Gegensatz zu dem, was dieses Jahr aus Cannes zu hören war, lupen­reiner Lynch; jede Einstel­lung ist mit der Sorgfalt eines Malers kompo­niert und die typischen Bild­mo­tive reichen von der Garten­idylle bis zum bren­nenden Haus. In traum­schönen Bildern durch­quert Alvin die Korn­kammer der USA, unter­s­tützt wird die Atmo­s­phäre von den mini­ma­lis­ti­schen Country-Klängen Angelo Bada­l­a­mentis. Durch die häufig einge­setzten Über­blen­dungen geht oft eine Sequenz in der anderen auf. Neben einem stetigen Fluß der Bilder und wunder­voll vermischten Texturen entsteht so auch eine verbin­dende Darstel­lung von Natur und Zivi­li­sa­tion. Dies hat Lynch ästhe­tisch schon immer gereizt; wie er sagt, empfindet er keine Land­schaft als schön, solange keine Fabrik in ihr steht. Dement­spre­chend zeigt er auch keine Felder ohne Maschinen, und er unter­liegt damit nicht einer naiven Romantik, wie es Robert Redford bei seinen Pfer­de­flüs­te­reien geschehen ist. Noch deut­li­cher wird diese Verbin­dung der schein­baren Gegen­sätze als Alvin auf der Straße eine völlig verzwei­felte Frau trifft, die gerade wieder mit ihrem Auto – wie fast jeden Tag auf der gleichen Strecke – einen Hirsch über­fahren hat. Nach der Begegnung hat Alvin das Geweih des Hirsches, quasi als symbol­träch­tige Soli­da­ritäts­er­klä­rung, an den Anhänger seines Rasen­mähers montiert – bezeich­nen­der­weise handelt es sich bei dem Fahrzeug um ein Modell der Marke John Deere. Lynch baut somit keinen falschen Gegensatz zwischen Natur und Zivi­li­sa­tion auf, sondern einen tref­fenden zwischen Lang­sam­keit und Schnel­lig­keit, wobei er auch nicht die Vertre­terin der Geschwin­dig­keit verteu­felt. Aller­dings ist klar, wem seine Sympathie gehört.

Der Film ist also nicht ganz so gerad­linig wie es der Titel behauptet, denn letztlich spielt er doch im Lynchen Universum. Es ist vor allem der Blick­winkel auf diese Welt, der sich verändert hat, es ist nicht mehr die Sicht des jungen, bisweilen naiven, suchenden Mannes, sondern die des sturen und auch etwas weisen Alten. So trifft Alvin Straight nicht nur die Frau des serial bambi roadkill, sondern auch höchst »lynchesk« nicht-eineiige Zwillinge, die Alvins Gefährt repa­rieren und die er sehr elegant und verschmitzt davon über­zeugen kann, daß sie bessere Arbeit leisten würden, wenn sie sich nicht ständig streiten würden. Alvin Straight selbst könnte wohl auch von Lynch erfunden worden sein, wäre es nicht ein »wahre Geschichte«, die seinem Charakter zugrunde liegen würde. (Daß diese Tatsache eigent­lich völlig irre­le­vant für den Film und seine über­ra­gende Qualität ist, der Film aber vom deutschen Verleih diesen nichts­sa­genden Titel erhielt, wirft einmal mehr einen dunklen Schatten auf die kreativen Kompe­tenzen hiesiger Verleihe.) Kongenial umgesetzt werden die Charak­tere von den Schau­spie­lern: allen voran der fast 80jährige Richard Farns­worth, der 40 Jahre lang Suntman in Hollywood war, bevor er zum Darsteller wurde. Sissy Spacek als Alvins Tochter Rose und Harry Dean Stanton als Alvins Bruder Lyle stehen dem in nichts nach, wenn sie auch teilweise nur sehr wenig Zeit vor der Kamera haben.

Die Figuren führen zwar im Gegensatz zu Lynchs anderen Klein­stadt­sagas kein finsteres Doppel­leben, daß aber die Welt von Straight Story ihre dunklen Seiten besitzt, wird in wenigen Szenen deutlich: einmal unterhält sich Alvin mit einem Mann seines Alters in einer Bar über Kriegs­er­leb­nisse, und nur die Tonspur reflek­tiert die Erin­ne­rungen. Ein anderes Mal erfährt man von der tragi­schen Geschichte Alvins Tochter, und eine frühere Einstel­lung von einem kleinen Jungen, der einem Ball hinter­her­läuft, bekommt eine neue Bedeutung. In beiden Fällen werden die sehr unter­schied­li­chen Formen von Gewalt nicht visua­li­siert, sondern es wird fast beiläufig vom Schaden erzählt, der ange­richtet wurde. Der Film zeigt wie die Menschen damit leben und wie sie dabei ihre Würde bewahren können – Themen, die auch in Lynchs Der Elefan­ten­mensch von zentraler Bedeutung waren. Die Würde zu bewahren heißt in diesem Fall, einen langen beschwer­li­chen Weg auf sich zu nehmen, um im Angesicht der Vergäng­lich­keit des Lebens unaus­ge­tra­gene Konflikte zu beenden. Hier ist der Film gewis­ser­maßen ein Anti-Western: die Bewegung und das Ziel richtet sich gegen den Mythos der »last frontier«: Alvin fährt nach Osten in seine Vergan­gen­heit, nicht um zu erobern, sondern um Frieden zu schließen.

Der größte Moment der Irri­ta­tion entsteht in The Straight Story in einer Szene, in der Alvin einer von zu Hause ausge­ris­senen jungen Tramperin von den Vorzügen der Familie erzählt; mit der Familie verhalte es sich wie mit einem Ruten­bündel: erst die enge Verbin­dung macht sie stark und unzer­brech­lich. Nun haben helle Köpfe wie mein Kollege Thomas Willmann oder Kevin Jackson von Sight and Sound bemerkt, daß das Ruten­bündel (lat. fasces) das zentrale Symbol für den (italie­ni­schen) Faschismus ist. Ein zunächst verwir­render Zusam­men­hang. Jetzt kann man es sich einfach machen und einen Zufall unter­stellen. Oder hat Lynch etwa gewußt, welch vorbe­las­tete Symbolik er hier benutzt? Inter­pre­tiert man dies vor dem Hinter­grund gewisser Aspekte des Lynchen Werks, also vor dem Hinter­grund der mörde­ri­schen Mütter und Väter in Wild at Heart, Twin Peaks und den zwar sehr unter­schied­li­chen, nichts­des­to­trotz kaputten fami­liären Struk­turen in Dune und Eraser­head, dann kann man wohl nur zu dem Schluß kommen, daß Lynch hier die Ambi­va­lenz der Insti­tu­tion Familie drastisch betont. Wie alle dunklen Seiten der Straight Story tritt auch diese nur nicht so offen­kundig in den Vorder­grund der Erzählung.