MEX/DK/D/F/N 2016 · 98 min. · FSK: ab 16 Regie: Amat Escalante Drehbuch: Amat Escalante, Gibrán Portela Kamera: Manuel Alberto Claro Darsteller: Ruth Ramos, Simone Bucio, Jesús Meza, Eden Villavicencio, Andrea Peláez u.a. |
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Magischer Realismus des Unvorstellbaren |
Der mexikanische Regisseur Amat Escalante wurde einem größeren internationalen Publikum bekannt, als er 2013 für Heli, seinen dritten Film, den Regiepreis in Cannes erhielt. Er erregte über die mit diesem Preis verbundene künstlerische Anerkennung hinaus auch einiges Aufsehen aufgrund der schockierenden Bilder körperlicher Gewalt aus dem mexikanischen Drogenkrieg, die der Film enthält. So eilt Escalante der Ruf eines Provokateurs voraus, wenn jetzt sein neuer Film La región salvaje (internationaler Verleihtitel The Untamed) ins Kino kommt.
Nach der Premiere seines vierten Films bei den Filmfestspielen von Venedig 2016 ging die Rede um von einem sagenhaften Sexmonster, das in diesem Werk sein Unwesen treibt und an Isabelle Adjanis transgressive Affäre im legendären Possession von Andrzej Zulawski denken lässt. Herkömmliche Arthouse-Erwartungen weiß Escalante durchaus zu erfüllen, aber er unterzieht sie auch einem Belastungstest. Er könnte dazu in seiner Zeit als Regieassistent bei Carlos Reygadas' Eine Schlacht im Himmel (2005) angeregt worden sein, in dem für Arthouseverhältnisse ungewöhnlich explizite Sexszenen vorkamen.
Escalantes Flirt mit Elementen von Pulp oder Trash führte in The Untamed zu einem beeindruckenden Genrebastard aus sozialer Milieustudie, Melodram, Science-Fiction-Märchen und Horrorschocker.
Es wird zunächst das realistische Szenario einer bedrückenden Kleinstadtatmosphäre in der zentralmexikanischen Provinz Guanajuto und der dort herrschenden repressiven Sexual- und Familienmoral entworfen. Im Zentrum stehen Alejandra und ihr Mann Ángel, der den Prototyp eines aggressiven Machos darstellt. Dass er mit seiner betont chauvinistischen Attitüde seine geheimgehaltene Homosexualität kaschiert, ahnt seine Frau nicht. Dass er sie obendrein mit ihrem Bruder Fabián betrügt, ahnt sie noch weniger. Alejandra wird angesichts der Umstände ihres freudlosen Lebens immer verzweifelter: Die unberechenbaren, immer cholerischer werdenden Launen Ángels, der Haushalt, die zwei Kinder, die Arbeit bei Ángels Mutter, die überdies ihren Sohn Alejandra gegenüber ständig in Schutz nimmt, sobald sie anfängt, sich zu beklagen, all das drängt auf eine dramatische Eskalation zu.
Dass die Auflösung des festgezurrten Netzes, in das sich die Figuren hier ausweglos verstricken, dann den sorgfältig aufgebauten realistischen Rahmen gänzlich sprengt, hat mit ein paar kurzen phantastisch anmutenden Szenen vom Anfang des Films zu tun. Man hat sie mittlerweile fast vergessen, vielleicht auch verdrängt; sie wurden als erste Einstellungen dem Entwurf des bedrückenden Alltags in der Kleinstadt vorangestellt.
Man hat in ihnen einen kosmischen
Meteoriteneinschlag auf der Erde gesehen, man hat eine Frau gesehen, die sich vom Tentakel eines ansonsten unsichtbar bleibenden Wesens sexuell befriedigen lässt und die dann mit einer rätselhaften Wunde am Oberschenkel den Weg aus einer Hütte in einer abgelegenen Region zurück in die Zivilisation antritt.
Verónica, so heißt die Frau, lässt ihre Wunde, angeblich von einem Hundebiss, im Krankenhaus in Guanajuto behandeln, von Fabián, dem Liebhaber Ángels und dem Bruder Alejandras, der im Krankenhaus arbeitet. Verónica verschafft Fabián und dann auch Alejandra Zugang zu jenem Wesen, von dem sie anfangs des Films wegging und das alles unerfüllte Begehren zu stillen vermag.
Das Wesen ist die Ausgeburt eines Imaginären, das sich gleichermaßen aus barock-katholischen
Erbsünde-Alpträumen, schauerromantischen Gothic-Phantasmagorien, fiebrig-überreizter Science-Fiction-Fantasy und delirierenden Wunschvorstellungen des Unbewussten speist: ein nur aus Tentakeln bestehendes Alien, das der totalen sexuellen Befriedigung dient.
Es entstammt einer kosmischen Mutation und befindet sich in der Obhut eines Paars von Althippies, die noch damit experimentieren, wie sich dieses Wesen für eine Art Sex-Wellness-Therapie einsetzen lässt. Wobei ab
und zu einiges schiefgeht, wenn sie Probanden in die Hütte zu ihm lassen. Verónica scheint noch einmal davongekommen zu sein, für andere verläuft die Begegnung jedoch fatal.
Mit diesem fleischgewordenen Phantasma, in dem Eros und Thanatos verschmelzen, schafft Escalante mehr als eine Allegorie des Sexes als ambivalenter Kraft, die Verzückung und Zerstörung zu bewirken vermag. Er verschränkt Pulp und Metaphysik zu einem magischen Realismus des Unvorstellbaren, wie er nur im Kino
möglich ist.
Riesige Steine fliegen schwerelos und überaus langsam irgendwo herum. Im Weltraum? Dann ein Schnitt: Eine junge hübsche Frau sitzt nackt vor einem Bambusstamm, offenbar in einer Holzhütte. Sie schwitzt und stöhnt sanft, man glaubt erst, dass sie sich selbst befriedigt. Dann, als die Kamera langsam an ihrem makellosen Körper heruntergleitet, sieht man kurz eine Art Tentakelarm zwischen ihren Schenkeln herausgleiten, und seitwärts verschwinden...
Es folgt ein kurzer Dialog: »You
should leave.« – »Let me stay a little longer, por favor.« Dann verlässt sie, wieder angezogen in Jeans und weißer Jacke die Holzhütte, geht weg durch eine morgenfeuchte, nebelumtauchte Wald- und Wiesenlandschaft. Sie blutet aus der Hüfte, besteigt ein Motorrad. Die Kamera ist dabei subjektiv, der Sound und die disharmonischen Klänge der Musik erinnern an Horror und Science-Fiction. Man kann den zweiten Teil dieser ersten Szene im Netz ansehen.
»It hurt her«, sagt ein altes Paar. Die sind offenbar so etwas wie die Gastgeber hier, oder eine seltsame Art von Forschern: An der Wand finden sich Bilder von Schädeln, Wesen aus der Urzeit, Schlangen und ähnlichem Getier.
Was für ein Film! Er lässt den Betrachter erst einmal allein mit der Wucht dieses Auftakts, die sich nur langsam legen wird. Die aber uns, den Zuschauern, auch sofort das Gefühl gibt: Hier nimmt uns ein Filmemacher an der Hand, hier können wir uns den Bildern überlassen. Hier weiß einer ganz unbedingt, was er tut. Mal sehen, was das wird – aber wie schön, dass wir es jetzt sehen werden.
Ein Traum? Eine Art Traum? So darf man sich eine kurze Weile trösten, als im nächsten Bild eine andere junge Frau aufwacht. Alejandra (Ruth Ramos). Neben ihr ein Mann (Jesús Meza), schlechter Sex am Morgen, der Alltag eines Ehepaares. Danach steht sie unter der Dusche, befriedigt sich, bis sie von den Kinder gestört wird. Zwei Jungs, einer ist allergisch gegen Schokolade.
Der Film ist The Untamed, stammt von Amat Escalante, dem Mexikaner, der seit Sangre und Heli, einem Thriller über die Machenschaften der Drogenmafia, so bewundert wie berüchtigt ist für sein kompromissloses Filmemachen. Hier zwei Kurzfilme des Regisseurs.
Danach
sehen wir die Frau vom Anfang, sie heißt Verónica (Simone Bucio), im Krankenhaus. Ihre Wunde wird versorgt von einem Krankenpfleger: Er heißt Fabián (Eden Villavicencio), ist nett, hübsch, lustig. Sie hat erzählt, die Wunde sei von einem Hundebiss – da warnt er sie vor Tollwut.
Escalantes neuer Film, der bei den Filmfestspielen von Venedig 2016 mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde, zielt noch direkter als seine Vorgängerfilme ins Unbewusste, in das diffuse Terrain aus Angst und Lust, Horror und Versuchung – Escalantes Kino ist ein Kino des Zeigens, der Bilder, eines ultimativen, harten Realismus, der durch Bruno Dumont nicht weniger beeinflusst ist, als durch Robert Bresson, in dem James Benning sich mit Stanley Kubrik trifft, Haneke mit Zulawski.
Escalantes Kino ist zugleich transgressiv und riskant. The Untamed heißt im Original La región salvaje also: »Die wilde Gegend«. Diese Region ist in uns, ist aber auch überall. Es ist unsere Natur, die gewissermaßen verführerisch ist, aber auch gefährlich, möglicherweise tödlich. Escalante zeigt hier viel von Mexiko, er erzählt eine Geschichte, in der sich die Wirklichkeit der Gegenwart mit Bildern des Unbewussten und der Phantastik mischt.
Hier sein »Director’s Statement« zu Premiere in Venedig:
»This film is a vision of the struggle towards independence of a young woman born and raised in a culture ridden with male chauvinism, misogyny, and homophobia. The inspiration and ideas for this project came to me from a newspaper headline in my home town of Guanajuato, Mexico, which read: 'They Drowned a Little Faggot.' He was a male nurse working in a government-funded hospital, and in spite of dedicating his life to serving the public, he is remembered as nothing but 'a little faggot' to everyone who read that newspaper. This headline became the trigger for La región salvaje. I added the horror/fantasy aspect of a creature to this story to create a symbolic representation of the ambiguous complexity of the Id: the source of our bodily needs, wants, desires, and impulses, particularly our sexual and aggressive drives.«
Am Abend in einer Bar toben sich junge Mexikaner aus, werden wild zu Tequila und Musik. Fabián und Ángel, der Ehemann von Alejandra, haben Sex, sie kennen sich offenbar schon lange. Später verstehen wir: Fabián ist Alejandras Bruder.
Gleichzeitig freunden sich Verónica und Fabián an. Sie sind nett zueinander, ohne ein Paar zu werden. Wobei Verónicas Motivation immer unklar bleibt. Interessiert sie Fabián? Braucht sie Unterstützung um loszukommen von dem seltsamen Wesen? Oder
will sie diesem neue Objekte zuführen? Und Objekte für was genau? Die Zeitspanne, die hier vergeht, ist nicht ganz klar, aber während sich Fabián Ángel entfremdet, erfährt er von »ihm«, von dem nicht ganz klar ist ob es ein »Er« oder eine »Sie« ist. Dem Wesen in der Hütte, das er bald darauf auch besucht. Es ist offensichtlich bedrohlich und nicht harmlos. Doch zugleich ist es offenbar auch in der Lage, den Menschen unbekannte, ungeahnte Freuden zu bereiten, Freuden, von denen sie nicht
mehr los kommen.
Eine Weile später wird auch Alejandra noch zur Besucherin der Hütte werden. Bemerkenswert ist hier die Selbstverständlichkeit, mit der alle Beteiligten dieses Wesen und seine Existenz akzeptieren. Es ist halt so. Die Selbstverständlichkeit eines Dings aus einer anderen Welt.
Die Alten, die es beherbergen, lernen wir nur etwas besser kennen. In der Hütte, in der sie leben, gibt es auch einen großen schwarzen Hund, der an einen Wolf erinnert. Die alte Frau könnte eine
Schamanin sein, oder auch eine alte Hexe. Sie braut seltsame Getränke, vielleicht einen harmlosen Tee, vielleicht ein Beruhigungsmittel oder eine Droge. Über ihren Mann, für den sie Arbeiten erledigt sagt sie: »Ein Wissenschaftler, mit der Sensibilität eines Steins.«
Was ist das für ein Wesen, das sie da beherbergen? »At first, you will think, that you are hallucinating«, sagt die Alte. Sie erzählt von einem Meteor, der vor langer Zeit einschlug – der Stein im Raum vom
Anfang? Allemal ist Mexiko das Land der Meteore, entstand der Golf von Mexiko einst vermutlich aus einem riesigen Meteoreinschlag. In einem recht kleinen Kreisrund sieht man dazu eine Menge von Tieren in paradiesischer Eintracht sich paaren.
Das sei, erklärt die Alte, die Materialisierung von »our most primitive side«. Die fleischgewordenen Basic Instincts. Irgendwann sehen wir es: Eine Art riesengroßer Octopus. Mit seinen Tentakelarmen stiftet es Lust. »It can only give
pleasure. It has never hurt anybody.«
Ganz so ist es nicht: Diese fleischgewordene Begierde ist eben auch gefährlich. Fabián wird schwer verletzt im Wald gefunden. Der Verdacht auch Alejandras fällt auf Ángel, nachdem sie dessen Textbotschaften entdeckt hat. Während Escalante mit Ángel einen Schwulen beschreibt, der zugleich als Schwulenhasser auftritt, der Vegetarier ist und der seine Frau schlägt, wird der nette, weiche zuvorkommende Schwule hier schwerstverletzt. »Wollte
Gott Onkel Fabián bestrafen?« fragt einer von Alejandras Söhnen. Großmutter habe das gesagt. »Grandma is a lying witch«, erklärt Alejandra.
Eine böse Großmutter, eine böse Schwiegermutter, Hexen in Hütten im Wald, Monster und Tote am gleichen Ort – es sollte klar sein, dass wir uns hier im Land der Gebrüder Grimm befinden. The Untamed ist ein Märchen für Erwachsene aus Mexiko, ein Zwitter aus Kunstkino und Horrorfilm, und eben auch Grimms Märchen.
Zugleich auf Mexiko zielend: Eine Betrachtung der Männlichkeitsrituale, der Homophobie, de Heuchelei hinter den traditionellen Werten von
Ehre und Familie.
Die Region, die der Titel bezeichnet, jenes »wilde Terrain« ist in uns, ist aber auch überall. Es ist unsere Natur, die gewissermaßen verführerisch ist, aber auch gefährlich, möglicherweise tödlich. Ein verführender, verführerischer und ein verführerisch rätselhafter Film.