Die süße Gier

Il capitale umano

Italien 2013 · 110 min. · FSK: ab 12
Regie: Paolo Virzì
Drehbuch: , ,
Kamera: Jérôme Alméras
Darsteller: Fabrizio Bentivoglio, Matilde Gioli, Valeria Bruni Tedeschi, Fabrizio Gifuni, Valeria Golino u.a.
Handschlag zweier Welten

Fressen und gefressen werden

Wegen seiner geogra­fi­schen Nähe zum afro-arabi­schen Raum gilt Italien als einer der inter­es­san­testen Anlauf­punkte für Flücht­linge jeder Art. Dass dieser »Vorposten« europäi­schen Wohl­stands selbst immer wieder in poli­ti­sche und wirt­schaft­liche und Affären verstrickt ist, die im übrigen Europa mit der üblichen poli­ti­schen Fassungs­lo­sig­keit quittiert werden, ist nur die eine Seite einer grotesken Dynamik. Dass Italien aber auch als Muster­fall für den seit einigen Jahren langsam erodie­renden Mittel­stand der west­li­chen Gesell­schaft herhalten kann, ist die andere, fast logische Konse­quenz.

Da diese Verstri­ckungen und der seichte, aber stete Nieder­gang alles andere als einfach zu erken­nende Muster sind, bleiben nur Jour­na­lismus, Literatur und Film, um zu erklären, was kaum mehr zu erklären ist und außerdem plastisch erfahrbar zu machen, was es bedeutet, wenn eine Gesell­schaft sich selbst kanni­ba­li­siert. Stephan Amidon hat diesen Prozess in seinem Roman »Human Capital« exem­pla­risch vorge­führt. Seine im ameri­ka­ni­schen Connec­ticut spielende Geschichte hat Paolo Virzì nun verfilmt. Virzì, der nicht nur das Turiner Filmfest betreut, sondern auch für doppel­bö­dige Komödien wie La prima cosa bella verant­wort­lich zeichnet, hat Amidons Roman auf italie­ni­sche Verhält­nisse angepasst und damit einen faszi­nie­renden Brücken­schlag zwischen Literatur und Film, europäi­scher und ameri­ka­ni­scher Krise geleistet.

Die süße Gier – der deutsche Verleih­titel kapert hier ein wenig zu offen­sicht­lich Fellinis La Dolce Vita – spielt nicht mehr in Connec­ticut, sondern im kleinen nord­ita­lie­ni­schen Brianza und in Mailand. Ein in der Nacht auf seinem Fahrrad durch ein Auto zu Tode gekom­mener Kellner bildet die erzäh­le­ri­sche Schnitt­stelle, über die Virzì zwei Familien aus völlig unter­schied­li­chen Lebens­welten mitein­ander vernetzt. Zum einen die klas­si­sche, reiche Indus­tri­el­len­kreise Nord­ita­liens, zum anderen typischer Mittel­stand. Die multi­per­spek­ti­visch angelegte Geschichte, die sowohl Thriller-Elemente, Wirt­schafts­krimi und Liebes­ge­schichte in sich vereint, fokus­siert dabei zum einen stark auf die Suche nach dem Schul­digen, lässt jedoch genug Raum, um jener Lebens­welt den Raum zu geben, der notwendig ist, um die Beweg­gründe für ihr Handeln zu verstehen. So wird nicht nur die im Wanken begrif­fene Welt des Immo­bi­li­en­mak­lers Dino (Fabrizio Bentivo­glio) und seiner Tochter Serena (Matilde Gioli) plausibel darge­stellt, sondern auch der durch inter­na­tio­nale Verwer­fungen kaum mehr zu kontrol­lie­rende Wohlstand der Familie Bernaschi. Was Virzìs süße Gier dabei so inter­es­sant macht, ist nicht nur sein multi­per­spek­ti­vi­scher Erzählan­satz, sondern vor allem auch eine mal humor­volle, dann wieder sarkas­ti­sche Annähe­rung an seine Figuren. Dinos immer wieder groteske Aufstiegs­be­mühungen etwa stehen in einem frap­pie­renden Gegensatz zu der Lebens­mü­dig­keit der reichen Carla Bernaschi, völlig atem­be­rau­bend von Valeria Bruni Tedeschi verkör­pert; der unschul­dige, naive, impulsiv-poli­ti­sche Charakter von Dinos Tochter Serena bildet einen aufre­genden Gegenpol zur völlig entfrem­deten Realität von Carlas Sohn Massi­mi­liano, mit dem sie eine ambi­va­lente Beziehung einge­gangen ist.

Diese Gegen­sätze sind jedoch nicht die einzigen, die Virzìs Die süße Gier zu einem erzäh­le­risch aufre­genden, poli­ti­schen Statement zur gegen­wär­tigen Krise der west­li­chen Gesell­schaft machen. Denn Virzì blickt nicht nur auf die persön­li­chen Miseren, sondern bindet immer wieder auch die anderen gesell­schaft­li­chen Sphären, die den Alltag unserer »zweiten Moderne« bestimmen, mit ein. Dabei gelingt ihm nicht nur ein beängs­ti­gendes Porträt vom Nieder­gang west­li­chen Wohl­stands, sondern auch eines vom Verfall jeglicher Moral, in der die ankom­menden Flücht­linge nur am untersten Ende einer mehr und mehr kolla­bie­renden Hier­ar­chie stehen, in der jeder versucht den anderen zu fressen, nur um selbst nicht gefressen zu werden.

Kapitalismus Highspeed

Einer nach dem anderen kommt zu spät zum Bankett. Den Immo­bi­li­en­makler Dino (Fabrizio Bentivo­glio) haben die Geschäfte aufge­halten, Ehefrau Carla (Valeria Bruni Tedeschi) ringt im Auto noch um ihre Fassung, Teenagerin Serena (Matilde Giolo) hastet, die Schul­uni­form glatt­strei­chend, zur Abschluss­feier. Sichtlich ange­spannt erwartet sie bereits ihr Freund Massi­mi­liano (Guglielmo Pinelli), denn an diesem Abend soll er einen begehrten Preis seiner Schule entge­gen­nehmen. Zumindest geht Massi­mi­lianos Vater, Invest­ment­fonds­ma­nager Giovanni Bernaschi (Fabrizio Gifuni), selbst­si­cher davon aus. Nervö­sität herrscht am Tisch, aus verschie­densten Gründen. Am Ende des Festes macht sich ein Kellner auf den Heimweg. In einer eisigen Nacht steigt er auf sein klapp­riges Fahrrad und wird Opfer eines Auto­un­falls mit Fahrer­flucht.

In Die süße Gier steht eine Gesell­schaft unter Druck. Von Anfang an. Von außen betrachtet, werden rauschende Feste gefeiert, ein luxu­riöser Stil gepflegt, aber der Schein trügt. Die Drama­turgie greift das atemlose Tempo seiner Prot­ago­nisten und das ange­spannte Klima in ihrer Umgebung auf. Gleich in der Anfangs­szene drohen sich die Ereig­nisse zu über­schlagen. Die Hand­lungs­stränge laufen lose zusammmen, um sofort wieder ausein­ander zu driften. Die Figuren begegnen einander, dann geht jeder seinen Weg weiter. Jeder will am dolce vita teihaben. Nach diesem rasanten Einstieg spult Regisseur Paolo Virzì zurück auf Anfang und erzählt die Geschichte mit ruhiger Hand. Er ist an den Hinter­gründen der Tat inter­es­siert und deckt krimi­na­lis­tisch auf, wer den Unfall zu verschulden hat. Virzì tut dies in drei Kapiteln, aus den Perspek­tiven der Prot­ago­nisten Dino, Carla und Serena. So kann er bravourös Finan­z­thriller, Liebes­ge­schichte und Krimi­nall­fall mitein­ander verstri­cken. Und mit jedem weiteren Baustein wird langsam ersicht­lich, welche Gier den einzelnen in seinem Handeln ange­trieben hat.

Habgier, Machtgier, Geltungs­gier, ein altes Thema. Aber in Zeiten der Globa­li­sie­rung erhält es eine neue Dimension. Denn diesmal wird mit nichts gerin­gerem als dem Untergang eines Landes speku­liert. Dem Spielfilm Die süße Gier liegt Stephen Amidons Roman­vor­lage »The Human Capital« zugrunde. Problemlos konnte Virzì die Story von Connec­ticut nach Mailand verlegen. Man braucht ja gar nicht in die Ferne zu schweifen. Auch dieser­orts ist die Nervö­sität in der Wirt­schaft, in den Familien wahr­zu­nehmen. Wenn mittel­s­tän­di­sche Betriebe vor der Insolvenz stehen, wenn Kauf- wie Verlags­häuser kaputt­ge­spart werden, wenn das Prinzip Leis­tungs­druck selbst­re­dend in Kinder­gärten ange­kommen ist. Packend ist Die süße Gier, nie lang­weilig. Dennoch hätte man sich gewünscht, die Geschichte würde stecken­weise weniger glatt erzählt. So wäre es inter­es­sant gewesen, Einblick in die Figur des Invest­ment­fonds­ma­nager Giovanni zu bekommen. Was treibt ihn an? Wie hat ihn der Reichtum derart blenden können, dass er nichts anderes mehr zu sehen scheint? Das hätte der Story eine andere Schärfe, einen längeren Nachhall gegeben.

Dennoch, das Vibrieren innerhalb einer in die Enge getrie­bene Gesell­schaft ist zu spüren. Und dass dies in Die süße Gier so direkt beim Zuschauer ankommt, ist der hohen Schau­spiel­kunst der Prot­ago­nisten zu verdanken. Nur zu gerne schaut man Valeria Bruni Tedeschi zu, wie sie die allzeit unsichere, vom Wohlstand depri­mierte Ehefrau Giovannis im goldenen Käfig mimt. Eine Offen­ba­rung sind wahrlich die italie­ni­schen Dart­steller Fabrizio Bentivo­glio (Immo­bi­li­en­markler Dino) und Matilde Giolo (seine Tochter Serena). Sie spielen die antrei­benden Kräfte wie Anziehung, erdrü­ckende Fami­li­en­bande, Wahr­heits­liebe oder Ekel ebenso einfalls­reich wie ehrlich. Am Ende leuchtet in Die süße Gier ein Hoff­nungs­schimmer auf, der Untergang konnte abge­wendet werden. Zumindest diesmal. Die Frage jedoch, was ein Menschen­leben ange­sichts einer drohenden welt­weiten Finan­z­krise wert ist, bleibt brisant. Und ob eine Gesell­schaft sich diese Art von Verrohung tatsäch­lich leisten will.