Surrender Dorothy

USA 1998 · 87 min.
Regie: Kevin DiNovis
Drehbuch:
Kamera: Jonathan Kovel
Darsteller: Peter Pryor, Kevin DiNivos, Jason Centeno, Elizabeth Casey u.a.

Manche Filme ähneln Zauber­shows: Sie reihen Kunst­stück­chen an Kunst­stück­chen, bedienen sich brav des Stan­dard­re­per­toires und gehen höchstens ein- oder zweimal ein Risiko ein – und wenn ihnen mal etwas nicht gelingt, dann ist das nicht so schlimm, solange sie die übrigen Nummern gekonnt vorführen.
Und dann gibt es Filme, die sind wie Draht­seil­akte ohne Netz: Die begeben sich konstant in die Gefahr, einen fatalen Fehltritt zu tun, lassen einem ständig den Atem anhalten – und erst, wenn sie auch den aller­letzten Schritt sicher voll­bracht haben und unbe­schadet am anderen Ende angelangt sind, weiß man wirklich, wie gut sie waren.
Wenn der Abspann von Surrender Dorothy zu laufen beginnt und man wieder Luft geschnappt hat nach dem zutiefst vers­tö­renden Schluß, dann hat man die Gewißheit, daß man soeben einem der gelun­gensten Draht­seil­akte der letzten Jahre beige­wohnt hat.

Daß Surrender Dorothy sich nicht damit begnügt, auf sicherem Terrain herum­zu­spa­zieren, beweist schon sein Thema: Der Hilfs­kellner Trevor (Peter Pryor) wird von einer unüber­wind­baren Angst vor Frauen gequält – zu denen er sich in seiner Fantasie gleich­zeitig sehn­süchtig hinge­zogen fühlt. Als der junge Junkie Lanh (Kevin DiNovis) bei ihm Unter­schlupf sucht, entwi­ckelt sich ein zunehmend beklem­mendes Abhän­gig­keits­ver­hältnis – und plötzlich sieht sich Trevor vor der Lösung all seiner Probleme und der Erfüllung seiner Wünsche: Er formt sich Lanh zu »Dorothy«, seiner idealen Verkör­pe­rung einer Frau...

Das klingt jetzt zunächst erstmal entweder nach zerknir­schendem Problem­film, einer verqueren, filmi­schen Sex-Fantasie oder nach klischee­be­la­denem Psycho­thriller. Surrender Dorothy aber ist, gott­sei­dank, nichts von alledem. Denn wo sich andere Filme darin gefallen, entweder gewagte Themen in konven­tio­nelle Formen zu verpacken oder infantil dem (vermeint­li­chen) Schock permanent um seiner selbst willen zu huldigen, macht Surrender Dorothy etwas wesent­lich raffi­nier­teres, subti­leres – und damit weitaus schwie­ri­geres: Der Film bedient sich vertrauter Erzähl­stra­te­gien, bestens bekannter narra­tiver Struk­turen, Genre-Versatz­stü­cken – um sie dann im entschei­denden Moment umzu­biegen, sie ins Leere laufen zu lassen, auf den Kopf zu stellen.Surrender Dorothy spielt ein höchst gekonntes (und äußerst spannend anzu­se­hendes) Spiel mit den Erwar­tungen des Publikums; er setzt da an, wo die emotio­nale Inves­ti­tion der Zuschau­erInnen gleich­zeitig am unaus­ge­spro­chensten und am stärksten ist – dort, wo das perma­nente, unbewußte Training unserer Kultur die unge­schrie­benen Kontrakte darüber abge­schlossen hat, nach welchen Mustern Erzähl­formen abzu­laufen haben.

Dazu gehört bei Surrender Dorothy nicht nur, daß er uns ständig wohl­ver­traute Schemata anbietet, uns die Hand reicht, nur um uns dann den sicher geglaubten Boden unter den Füßen wegzu­ziehen. Dazu gehört auch sein Humor. Denn wenn der Film zwangs­weise in eine Schublade gesteckt werden müßte, dann viel­leicht noch am ehesten in die der nacht­schwarzen Komödie. An den uner­war­tetsten Stellen blitzt in Surrender Dorothy plötzlich Komik auf; von einer Sekunde zur anderen kann teilweise die Situation so umschlagen, daß ihre Absur­dität mal als furchtbar, mal als furchtbar lustig empfunden wird. Das macht den Film manchmal scheinbar wesent­lich leichter erträg­lich, läßt uns will­kom­mene Atemluft im grimmigen, klaus­tro­pho­bi­schen Ernst der Lage – raubt in Wirk­lich­keit aber die Sicher­heit einer durch­ge­henden emotio­nalen Grund­hal­tung, auf die man sich einstellen könnte.

Am engsten zusammen rücken Humor und Horror in jenen Szenen, in denen Trevor und »Dorothy« ihr Alltags­leben als Paar führen: Da sitzen dann der Junkie in Damen­un­ter­wä­sche und sein Peiniger einträchtig und regungslos auf dem Sofa und schauen Fernsehen, und das ist einer­seits so völlig absurd, daß man kaum anders kann, als darüber zu lachen (zumal die filmische Umsetzung so wunderbar lakonisch ist) – ande­rer­seits ist es in jeder Hinsicht dermaßen nah am Alltag allzu vieler Bezie­hungen, daß einem der Grusel der Erkenntnis schaudern läßt.

Zwei Dinge offen­baren sich dabei: Regisseur DiNovis besitzt zum einen die (vor allem bei Neulingen) leider viel zu selten gewordene Gabe zum gekonnten Under­state­ment – mindes­tens ebenso beein­dru­ckend wie die Gewagt­heit von Surrender Dorothy ist seine Zurück­hal­tung genau in den richtigen Momenten. DiNovis weiß, wann weniger mehr ist, und er erliegt nie der Versu­chung, durch plumpe oder geschmack­lose Effekte sein Publikum billig zu über­rum­peln.

Und zum anderen geht es ihm in Surrender Dorothy ganz bewußt um wesent­lich mehr als nur um das Erzählen einer ober­fläch­li­chen Geschichte. Der Film läßt sich auf vielen Ebenen lesen: Er ist eine Parabel auf Bezie­hungen, in denen ein Partner mißhan­delt wird, er ist ein Essay über die Gemacht­heit von Geschlech­ter­dif­fe­renz, er fragt nach der subjek­tiven Konstru­iert­heit von Realität...

Daß es Kevin DiNovis gelingt, all dies nicht nur über­zeu­gend sondern auch gänzlich unauf­dring­lich in einen Film zu packen, ist allein schon höchst bemer­kens­wert. Daß er darüber­hinaus auch noch so raffi­niert mit den Publi­kums­er­war­tungen jongliert – und dies nicht selbst­zweck­haft tut, sondern um die Botschaft auf emotio­naler Ebene ins Ziel zu bringen – ist mehr als beein­dru­ckend. Daß er dann auch noch hervor­ra­gend und mitreißend erzählen kann, Witz hat, und sich auch in Sachen Schau­spie­l­er­füh­rung als Talent mit sicherer Hand erweist, ist schon fast zu schön, um’s noch zu glauben.
Daß aber dies alles in seinem aller­ersten Film vereint sich findet, das ist ein kleines, cine­as­ti­sches Wunder – und wenn Surrender Dorothy auf schmalem Seil in luftigen Höhen wandelt, dann kann man nur begeis­tert rufen: »Akrobat schön!«