Seneca

Seneca – On the Creation of Earthquakes

Deutschland/MA/F 2023 · 112 min. · FSK: ab 16
Regie: Robert Schwentke
Drehbuch: ,
Kamera: Benoît Debie
Darsteller: John Malkovich, Tom Xander, Geraldine Chaplin, Louis Hofmann, Lilith Stangenberg u.a.
Schöpfer teuflischer Kreaturen
(Foto: Filmgalerie 451)

Being Seneca

John Malkovich brilliert in Robert Schwentkes radikalem Sandalenfilm Seneca als unerschrockener Despoten-Philosoph

Wozu Rhetorik? Unter der sengenden Sonne versucht Seneca dem späteren Despoten Nero die richtige Wortwahl in einem Trau­er­fall beizu­bringen. »Very presi­den­tial« seien die von Seneca vorge­schla­genen Worte: »grief«, »departure«, »community« – Trauer, Ableben, Gemein­schaft. Nero soll die Sätze nur wieder­holen und verhaut sich doch jedesmal. Er kann dem Geist Senecas einfach nicht folgen. Eine weitaus harm­lo­sere Formu­lie­rungschal­lenge, bei der sich Nero in das einfache Leben eines Fischers hinein­ver­setzen soll, vergeigt Nero bravourös, am Ende der Rheto­rik­stunde schwimmt bei ihm verdor­bener Fisch in der Wort-Brühe. Nero hat keinen Sinn für die Unter­schei­dung von gut und schlecht, kann sich nichts merken, und die Worte sind für ihn sowieso ohne Sinn: Nero ist ein Schwachmat.

Seneca, sein Lehrer, gehörte zum Esta­b­lish­ment des deka­denten Roms. Er verkehrte in den besten Häusern, ließ sich seine tief­schür­fenden Gedanken mit viel Geld bezahlen. Er ist »Life Coach« der Reichen, ein Anti-Akade­miker und antiker Influ­encer, der Inhalte mecha­nisch zu Geld macht. »Peace of mind« und »tran­qui­lity« sollen die Leitsätze der Macht­haber sein, predigt Seneca den deka­denten Prot­ago­nisten des kaiser­li­chen Hofs. »Eat less«, sagt er in die fettigen Gesichter, so könnten sie ihren Geist akti­vieren. Vernunft sei besser als Leiden­schaft. Strebe nach Tugend, das Glück folgt dann wie von selbst. Das klingt nach schönstem Yoga-Retreat.

Der in den USA lebende deutsche Filme­ma­cher Robert Schwentke hat die Lehren Senecas deutlich modern perspek­ti­viert, die Antike dadurch zur zeit­genös­si­schen Epoche gemacht, macht dabei aber auch die stoische Lehre des Philo­so­phen lächer­lich. Vor wenigen Jahren hat Regisseur Robert Schwentke mit einem radikalen Film über die Skru­pel­lo­sig­keit eines Wehr­machts­of­fi­ziers dem deutschen Film eine Vita­li­sie­rungskur verpasst: Der Hauptmann über einen irre­ge­lei­teten Wehr­machts-Deserteur war ein Destillat des politisch Bösen, mit allen blutigen Konse­quenzen der Insze­nie­rung – der dras­ti­sche Film verschwieg und verbarg nichts. Schwentke erneuerte damit auf bestechende Weise das Genre »Filme über das dritte Reich«. Und auch seine unge­wöhn­liche Sanda­len­film-Inter­pre­ta­tion Seneca, eine Produk­tion des Berliner Labels Film­ga­lerie 451, ist erfri­schend und modern und lässt erahnen, wie Im Westen nichts Neues hätte aussehen können – ganz ohne Zutun von Netflix, das neuer­dings herauf­be­schworen wird, als wäre es der Messias für kompro­miss­lose Projekte.

Schwentke lässt viel Asso­zia­ti­ons­raum zu. Sein blut­rüns­tiger, launi­scher »Mr. President« Nero könnte für den in den USA lebenden Deutschen eine Karikatur des macht­be­ses­senen Donald Trump sein, aus heutiger Nach­rich­ten­lage drängt sich aber auch der Gedanke an den mordenden Putin auf, den keiner mehr durch Ratio­na­lität erreichen kann und der wohl wie Nero als grausamer Herrscher in die Geschichts­bücher eingehen will.

Schwentke aktua­li­siert die Lehren des antiken Philo­so­phen nicht nur zum hohlen Influ­en­certum oder poli­ti­schen Kommentar auf die heutige Welt­po­litik. Seine Insze­nie­rung entkleidet den Histo­ri­en­film von allem unnötigen Schnick­schnack der Handlung, es geht rasant hinein in die Krönung Neros (gespielt vom briti­schen Thea­ter­schau­spieler Tom Xander). Schon im nächsten Moment rollen die Köpfe. Sein Mittel der Politik ist der diktierte Selbst­mord, wie ein Off-Erzähler trocken berichtet. Die Zeit von Seneca ist abge­laufen. »Shut up« herrscht ihn Nero an und verbietet ihm, weiterhin seine lächer­li­chen Lehren von der Gnade zu predigen. Es bleibt nur das Exil in der Wüste.

Seneca schreibt und insze­niert ab da sati­ri­sche Thea­ter­stücke auf den Despoten. Abge­schla­gene Köpfen und Blutsuppe sorgen für schwarz­komö­di­an­ti­sche Monty-Python-Momente, immer wieder lässt die schrille Theater-Insze­nie­rung im Film auch an Christoph Schlin­gen­siefs satirisch über­höhtes Ketten­sä­gen­mas­saker von 1990 denken. Expe­ri­men­telle Stör­mo­mente setzen in grob­kör­nigem 16mm zusätz­lich der Reali­tät­s­il­lu­sion zu, der Film bricht in eine imaginäre Sphäre des Irreseins auf, die sich gegen Ende hin, als Seneca sich auf Geheiß von Nero das Leben nehmen soll, in einem hell­se­he­ri­schen Welt­un­ter­gangs-Wahn Bahn bricht. Future is now, die dysto­pi­sche Zukunft der Antike, das sind wir: Stürme, Fluten und Brände, alles bekannt aus den Nach­richten von heute, sind die im Seneca-Wahn imagi­nierte Apoka­lypse. Das greift auch den Unter­titel des Films auf: Seneca – On the Creation of Earth­quakes führt Natur­ka­ta­stro­phen auf die poli­ti­schen Verhält­nisse zurück, und ist damit tatsäch­lich auch ein dysto­pi­scher Kommentar zum sich voll­zie­henden Klima­wandel.

Seneca
John Malkovich und Lilith Stan­gen­berg (Foto: Fimga­lerie 451)

John Malkovich ist Seneca, er spielt den deli­rie­renden, eitlen und wort­ge­wandten Philo­so­phen in einer Para­de­rolle (siehe artechock-Interview). Im letzten Akt des Films, als es in dem schat­tigen Anwesen inmitten der Wüste ans Sterben geht, kostet Malkovich die Thea­ter­haf­tig­keit der Insze­nie­rung in langen Monologen aus. An seiner Seite hat er nur seine Frau Paulina, ätherisch verkör­pert von Lilith Stan­gen­berg, die mit Malkovich einen großar­tigen Pas-de-deux-Totentanz in weißem Gewand aufführt. Stan­gen­berg ist der heimliche Star in Schwentkes Film, zum zweiten Mal nach der Orpheus-und-Eurydike-Phantasie des phil­ip­pi­ni­schen Regis­seurs Khavn (zusammen mit Alexander Kluge) Orphea beweist sie sich als hoch­gradig expe­ri­men­telle Schau­spie­lerin, die – wie wohl keine andere deutsche Schau­spie­lerin ihres Ranges – sich nicht scheut, in radikal form­er­neu­ernden und verstö­renden Filmen mitzu­wirken.

Die Bilder von Kame­ra­mann Benoît Debie, der nahezu das Gesamt­werk von Gaspard Noé foto­gra­fiert hat, außerdem Harmony Korines Spring Breakers oder auch Wim Wenders' Peter-Handke-3D-Film Die schönen Tage von Aranjuez, adeln die radikal-redu­zierte Schwentke-Insze­nie­rung durch sublime Bilder von der Stein­wüste und symme­trisch-ruhige Kadrie­rungen vom schat­tigen Anwesen. Seine Aufnahmen sind als Visua­li­sie­rungen der stoischen Lehre lesbar, lassen sich von nichts aus der Ruhe bringen und geben in diesem außer­ge­wöhn­li­chen und heraus­for­dernden Film Anlass zu beglückter Kontem­pla­tion.