Portugal/F/BR 2016 · 118 min. · FSK: ab 16 Regie: João Pedro Rodrigues Drehbuch: João Pedro Rodrigues, João Rui Guerra da Mata Kamera: Rui Poças Darsteller: Paul Hamy, Xelo Cagiao, João Pedro Rodrigues, Han Wen, Chan Suan u.a. |
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Spiel mit Bondage und Antonio da Messina |
Antonius zur Predigt
Die Kirche find’t ledig!
Er geht zu den Flüssen
und predigt den Fischen!
Sie schlag’n mit den Schwänzen!
Im Sonnenschein glänzen!
(aus: »Des Antonius von Padua Fischpredigt«, Achim von Arnim, Clemens Brentano, in »Des Knaben Wunderhorn«)To everything – turn, turn, turn
There is a season – turn, turn, turn
And a time to every purpose under heaven
A time to be born, a time to die
A time to plant, a time to reap
A time to kill, a time to heal
(»Turn! Turn! Turn!«, The Byrds/Pete Seeger, nach dem Buch Kohelet)
Wir sehen einen Flusslauf, es ist der Douro, drittgrößter Fluss der iberischen Halbinsel, wie eine Schlange liegt er über der Landkarte von Nordportugal. Ein Mann treibt in einem Kajak in diesem Fluss. Immer wieder zieht er ein Fernglas aus der Tasche, die Kamera sieht durch dieses Glas: Die Bewegungen von Schwarzstörchen. Wir sind in einem Tierfilm! Doch der Mann ist das Objekt der Begierde. Es sind Tiere, die ihn beobachten. Derweil nimmt die tarnfarbene Landschaft links und rechts des Douro in üppiger Bewaldung unseren Blick gefangen. Dann, der erste Bruch, steht zwischen Felsklippen der Filmtitel in kapitalen Lettern im Fluss, blutrot, als wäre O Ornitólogo ein Gore- oder Splattermovie.
Wie in allen Werken von João Pedro Rodrigues, haben wir es mit einem ungezähmten Wesen zu tun. Einem Film, der sich nicht so anschauen lässt, wie manch einer einen x-beliebigen Gesellschaftsfilm anschauen geht. Wie ein Tier belauert man den Film. Ein Tier, das Karten lesen kann. Und ehe man sich versieht, ist der Film entwischt. Was war da nur? O Ornitólogo ist ein Film, der keinerlei Verbindung zum Theater und den dort herausgebildeten Formen des Dramas mitbringt, vielmehr durch und durch das Medium Film atmet, es formt. In der Erinnerung kommt der Film wieder, man will wieder in diesen Wald. Nachsehen, was da war.
Vor O Ornitólogo gab es O Pastor (1998), gab es O Fantasma (2000), gab es ODETE (2005), dazwischen noch weitere Filme. Seit O Fantasma hat das Kino in Rodrigues einen neuen Meister der subversiven Provokation, einen, der mit einem Gay–Porno daherkam, und gleichzeitig was ganz anderes wollte. Da ging es viel mehr um Bewegung, denn um Semantik. Darum, asoziale und nicht der Norm entsprechende Bewegungen in einem Kino der Körperlichkeit zu behaupten. Eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich ein Fantasma in unterschiedlicher Gestalt manifestieren durfte: Mal als Hund, mal als Mensch, der sich wie ein Hund bewegt. O Ornitólogo wehrt sich nicht minder gegen den Gebrauch von Sprache im Dienste eines normativen Korrektivs. Es gibt zwar eine Handlung, einen Verlauf, aber in erster Linie gibt es eine Gestalt: Diese beschreibt eine völlige Ablösung aus der Zivilisation. Ließ sich der Müllfahrer aus O FANTASMA noch schwanzgesteuert zwischen lüsternen Automobilen und Wohnhäusern einer urbanen Metropole treiben, driftet der Ornithologe Fernando in einer wilden Natur, Gott weiss wohin. Einziger Anker zur urbanen Welt sind für Fernando sein Telefon und seine Tabletten: Aus dem Telefon meldet sich immer wieder sein unsichtbarer Partner, der ihn ermahnt, seine Tabletten nicht zu vergessen. Bekam O Fantasma von einer treibenden Bewegungsmotorik den Charakter von einem Ballet verliehen, von einem Sextanz, dann ist O Ornitólogo ein Taumeln – und schließlich freier Fall. Um am Ende zu flattern wie ein Schmetterling nach de Verwandlung.
Fernando muss sich wandeln. Und das nicht zu knapp: Die Geschichte, die O Ornitólogo erzählt, ist die der Transfiguration von Fernando zum heiligen Antonius von Padua, Schutzpatron von Lissabon, wo dieser im Jahre 1195 als Fernandus geboren worden sein soll. Auch der echte Antonius war also Frucht einer Verwandlung gewesen: Dereinst konvertiert zu einem Franziskaner, hatte Fernandus seinen Namen in Anlehnung an Antonius Eremita geändert, einem Wüstenvater
aus der Spätantike. Unser Ornithologe Fernando stolpert zunächst ganz unmotiviert ins Christentum hinein, angefangen mit einer Flusstaufe in Form von höherer Gewalt, als er mit dem Kajak kentert.
Die Verwandlung vollzieht sich dann über mehrere urkomische Stationen, die in ihrer blasphemischen Bizarrheit auch mal an Buñuels Die Milchstraße denken lassen. Egal, ob Fernando von
nackten Amazonen attackiert, oder von chinesischen Christinnen, die sich auf dem Pilgerweg nach Santiago verlaufen haben, gesund gepflegt wird – Fernando ist nicht mehr Herr seiner Lage.
Die Begegnung mit einem stummen Ziegenhirten mündet erst in einen Liebesakt, dann in einen Kampf. Das Resultat der moralischen Provokation ist hier gewaltig: Den Weg zur Heiligsprechung findet Antonius durch versehentlichen Totschlag. Ob das Motiv des verheerenden Irrens den Roman Tempo di uccidere von Ennio Flaiano mitdenkt, mag eine vage Vermutung sein, aber es passt: Flaiano, der acht Drehbücher für Fellini schrieb, evozierte darin das Fantasma des Unheil bringenden Kolonialisten wider Willen. Es ist dasselbe Fantasma, dem wir hier in Fernandos fremdem Blick begegnen, dem Blick des Irrenden, der sich selber fremd wird, sich verliert und nichts als Unheil anrichtet. Der Ziegenhirte ist so stumm wie die Äthiopierin bei Flaiano, die nach dem Liebesakt am Lagerfeuer versehentlich von einem Querschläger getroffen wird, einer Kugel, die einem wilden Tier gegolten hatte. Der Protagonist durchlebt daraufhin eine Krise, die ihn in kompletten Wahnsinn führt, bis hin zur völligen Auflösung seines Ichs. Am Ende widerfährt ihm eine Wandlung und Katharsis in Form einer christlichen Transgression. An dieser Stelle sei die großartige Kameraarbeit von Rui Poças erwähnt, der nun nicht nur zu sämtlichen Filmen von Rodrigues die Bilder lieferte, sondern auch zu Filmen von Miguel Gomes, wie im Falle von Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld, in welchem die Last der Verbrechen der Kolonialzeit nicht nur einen Charakter, sondern gleich den zentralen Teil des Films verstummen ließ.
Mit Fortschreiten der Wandlung findet Fernando/Antonius immer mehr die Gesellschaft von Tieren. Da ist die Taube, die ihm auf Schritt und Tritt folgt, und natürlich verstehen ihn auch die stummen Fische eines Tages, ganz wie in der Parabel, da der echte hl. Antonius in Ermangelung von Kirchengängern zu den Fischen ging, ihnen zu predigen. In Pasolinis Große Vögel, kleine Vögel ist es wiederum Franz von Assisi, der zwei Mönche damit beauftragt, die Sprache der Spatzen zu lernen, um ihnen Gottes Wort verkünden zu können.
Interessant ist hier in Zusammenhang mit der zuvor geäußerten Beobachtung, nach der die Grundambition von Rodrigues die Etablierung einer bestimmten Bewegungsmotorik ist, dieses Zitat: Gustav Mahler schreibt in einem Brief über seine Vertonung der Fischpredigt, welcher er die Tempoangabe »In ruhig fließender Bewegung« beifügt, von der »Grauenhaftigkeit eines unaufhörlich bewegten, nie ruhenden, nie verständlichen Getriebe des Lebens, einem Gewoge tanzender Gestalten in einem hell erleuchteten Ballsaal, in der Sie aus dunkler Nacht hineinblicken können, aus so weiter Entfernung, daß Sie die Musik hierin nicht mehr hören!« (T.W. Adorno: »Mahler. Eine musikalische Physiognomik« Suhrkamp, Frankfurt/Main 1971, S.15f.)
Zweifellos intendiert ist das Zitat einer Ikonographie vom Martyrium des heiligen Sebastian: Fernando findet sich nach einer Bewusstlosigkeit in einer Pose wieder, die etwa der Bildkomposition von Antonio da Messina in der Darstellung dieses Martyriums sehr nahe kommt: Im weißen Slip an einen Baum gefesselt, das Spiel mit Bondage hier bei Rodrigues gleich mit im Gepäck. Noch wichtiger aber: Erinnert sich wer an Sebastiane, das großartige Regie–Debüt von Derek Jarman? Dort sehen wir den heiligen Sebastian im Exil, im weißen Slip zu droning music sich der Natur hingebend, den Felsklippen und dem Wasser. Und das Allerbeste: Alles, der ganze Film, ist auf lateinisch! Durch seine unbeschwerte Offenlegung latenter Homosexualität, die in biblischen Hollywood-Filmen immer schon angelegt war, verursachte Sebastiane 1976 jedenfalls noch einen hübschen Skandal. Auch daran mag Rodrigues bei der Stoffsammlung gedacht haben... Felsen, droning music (fantastisch: die Musik von Séverine Ballon) und weiße Slips, alles da, bishin zu Latein und Mirandés, einem kaum gesprochenen Dialekt jener Region.
Am Allerwichtigsten zum Verständnis des Films ist aber Rodrigues selbst: Da wäre zum Einen die Vorgeschichte des abgebrochenen (gekenterten?) Studiums der Ornithologie, ehe der Regisseur zum Film fand, zum Anderen die Antizipation der Beschäftigung mit dem hl. Antonius und der Provokation einer Störung der Moral–Codes. O Fantasma tastete sich noch relativ beiläufig an christliche Heiligtümer heran, etwa in der Namensgebung der weiblichen Protagonistin Fatima, benannt nach dem wichtigsten portugiesischen Wallfahrtsort, während sie, die Fatima von O Fantasma bei der Müllabfuhr arbeitet. In dem Kurzfilm Manha de santo antónio (2011) rechnete Rodrigues dann so richtig ab mit dem Kult, der landesweit alljährlich am 13. Juni um den großen Nationalheiligen getrieben wird, hieß zum Morgengrauen des Gedenktages eine Armada von Untoten aus dem Untergrund kommen: Die Bewegung, die jenen Film kennzeichnet, ist das gleisende Schweben von Zombies. Kotzende Zombies aus der U–Bahn, und Zombies in weißen Slips, die sich den schnellspurigen Bewegungen der Autos widersetzen.
O Ornitólogo tauscht dann das Zombie–Genre gegen Western aus: Der einsame Mann in der Fremde, der Marterpfahl, die Kavallerie... Am Ende gehen all die surrealen Erscheinungen nicht nur in der Symbolik von biblischen Motivbezügen auf, sie lösen sich in gelebter Folklore und ihren real existierenden Manifestationen auf. Dann ist der Bergteufel mit seinen Waldgeistern ein Rudel von »Moradores« – Gebirgsjägern, die eine halbstarke Gaudi hatten. »Moradores« nannte man eigentlich jene portugiesischen Streitkräfte, die in den Kolonien eingesetzt wurden. Heute sind diese Verbände folkloristische Gruppen, die in Osttimor bei Feierlichkeiten auftreten. So etwa am 13. Juni. Dann, wenn sich Männer als Vogelscheuchen mit einfachen Masken aus Pappe, Stoff oder Plastik verkleiden und Gewänder tragen, die mit Stroh ausstaffiert sind. Genau wie Fernando/Antonio am Ende von O Ornitólogo, wenn sich der Ornithologe in eine Vogelscheuche verwandelt hat.