Oppenheimer

USA 2023 · 181 min. · FSK: ab 12
Regie: Christopher Nolan
Drehbuch:
Kamera: Hoyte van Hoytema
Darsteller: Cillian Murphy, Emily Blunt, Matt Damon, Robert Downey jr., Florence Pugh u.a.
Der Mann mit Eigenschaften...
(Foto: Univeral)

Filmische Teilchenverlangsamung

Oppenheimer ist ein stimmig erzählter, überdurchschnittlich guter Film, aber kein Christopher-Nolan-Film – kein Hype, kein »must see«

Die ersten Bilder zeigen Regen­tropfen. Sie treffen auf Wasser­pfützen, und formen dort geome­trisch exakte Kreise, die zum Teil inein­ander greifen und Schnitt­mengen bilden. Es gibt eine Ordnung der Dinge, die alles verbindet, sugge­riert dieses Bild, und der Mann, der sie so gedan­ken­ver­loren, mit tief­grün­digem Blick ansieht, schaut tiefer als andere; er ahnt etwas von dieser Ordnung, und er wird sie enthüllen und sie sich untertan machen.

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Nur wenige wissen­schaft­liche Biogra­phien im 20. Jahr­hun­dert sind ähnlich spannend, facet­ten­reich und auch für das Kino faszi­nie­rend, wie das Leben von J. Robert Oppen­heimer (1904-1967). Oppen­heimer, ein hoch­be­gabter US-ameri­ka­ni­scher Quan­ten­phy­siker, wurde 1943 zum Leiter des Atom­bom­ben­for­schungs­zen­trums in Los Alamos, New Mexico berufen und sowohl als Orga­ni­sator wie auch durch eigene Erfin­dungen und Beiträge zum »Vater der Atombombe«. Nicht zum ersten Mal ist Oppen­hei­mers Biogra­phie nun Gegen­stand eines Kinofilms; und auch im Fernsehen widmen sich doku­men­ta­ri­sche wie fiktio­nale Formate immer wieder dieser so facet­ten­rei­chen wie abgrün­digen Biogra­phie, und damit auch der Geschichte der Atombombe und der Möglich­keit des Menschen, sich selbst und die ganze Erde zu vernichten.

American Prome­theus heißt die bisher maßgeb­liche Biogra­phie Oppen­hei­mers, nach dem Halbgott, der den olym­pi­schen Göttern das Feuer raubte. Es ist ein Buch, auf das sich auch der Regisseur Chris­to­pher Nolan in seinem neuen Film beruft.
Auf rund 900 Seiten beschreiben darin die Autoren ein wider­sprüch­li­ches Leben, das so zahl­reiche Facetten und Aspekte hatte, dass man, wollte man dieses Buch wirklich halbwegs ange­messen verfilmen, eine Miniserie von mindes­tens 12 Teilen gebraucht hätte.

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Denn mindes­tens drei Geschichten kann und muss man über Oppen­heimer erzählen – und sie sind auch auf die eine oder andere Weise im Film bereits erzählt worden: da ist die persön­liche Lebens­ge­schichte eines Wissen­schaft­lers, der schon früh sowohl durch seine Persön­lich­keit wie durch sein beson­deres Genie zum Außen­seiter auch unter seines­glei­chen wurde, der zugleich ein exzel­lenter Univer­si­täts­lehrer war und als solcher ein charis­ma­ti­sches Vorbild für seine vielen Studenten.

Ein Frau­en­held, der eine kompli­zierte aber lange und loyale Ehe mit einer Alko­ho­li­kerin führte, und zugleich eine Geliebte hatte, die in der Kommu­nis­ti­schen Partei aktiv war und sich Anfang 1945 wohl auch aus Liebes­kummer das Leben nahm.

Ein politisch Naiver, der seit den 30er Jahren bis zum Ende seines Lebens Sozialist war und viele Freund­schaften zu Kommu­nisten hatte – was ihn spätes­tens mit Beginn des Kalten Krieges in große Schwie­rig­keiten brachte und mit der Sicher­heits­frei­gabe auch einen wesent­li­chen Teil seiner Karriere und wahr­schein­lich den Nobel­preis kostete.

Zweitens ist da die Geschichte der heroi­schen Phase der Physik, in der man zwischen 1900 und 1945 das Atom, die Radio­ak­ti­vität, die Rela­ti­vi­täts­theorie und die Quan­ten­me­chanik, die Kern­spal­tung und schließ­lich die Nutzung der Kern­energie entdeckte.

Und schließ­lich die nicht minder heroische Geschichte des Baus der Atombombe selbst – also die nach wie vor von vielen Mythen umwobene Geschichte von Los Alamos, dem Mitein­ander zwischen Wissen­schaft und Militär. Oppen­heimer war ein genialer Impro­vi­sator und guter Orga­ni­sator, zumal es äußerst kompli­ziert war, diesen Haufen von egoma­ni­schen Indi­vi­dua­listen mit verschie­densten Theorie-Schwer­punkten und einer starken persön­li­chen Konkur­renz unter­ein­ander zu managen und oft genug auch zu bändigen.

Oppen­heimer in Los Alamos – das ist auch die Geschichte eines Zirkus­domp­teurs.

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Das Ergebnis, das heute ins Kino kommt, hat drei Kapitel von jeweils etwa einer Stunde Länge, und ist relativ chro­no­lo­gisch erzählt. Zunächst der Werdegang, die kultu­rellen Einflüsse, und die Begeg­nungen mit Niels Bohr und Albert Einstein. Im Rückblick ist dieser Abschnitt des Films einer der aller­besten. Während des Films dachte ich: »Es geht dann alles zu schnell; es wird gewis­ser­maßen abgehakt, auch ein bisschen zu brav, ein bisschen zu chro­no­lo­gisch.« Aber es funk­tio­niert. Was auch gut funk­tio­niert, ist das Umreißen der Persön­lich­keit in dieser Phase, der Einflüsse auf sie. Am Ende ist gerade dieser Anfang, in dem sich die Figur des Oppen­heimer aus Frag­menten und Einzel­teilen gewis­ser­maßen kubis­tisch zusam­men­setzt, auch wider­sprüch­lich, sehr stark.

Dann die Entwick­lung der Atombombe selbst bis zum entschei­denden, welt­erschüt­ternden »Trinity«-Test. Der wirklich tolle Moment ist Trinity. Und doch geradezu etwas verschenkt... Weil die Fallhöhe, die Erha­ben­heit des Augen­blicks nicht so deutlich wird wie in anderen Filmen, selbst dem eher verschnarchten Fat Man and Little Boy von Roland Joffe.

Schließ­lich die Zeit danach: Die Angriffe der Neider und die Kommu­nis­ten­hatz sowie Oppen­hei­mers zuneh­mende mora­li­sche Zweifel. Auch dieser Film verschweigt aller­dings einige der für seine Vertei­diger unap­pe­tit­li­cheren Aspekte von Oppen­hei­mers Leben – vor allem die Tatsache, dass dieses Opfer der anti­kom­mu­nis­ti­schen »Hexenjagd« im Verhör bereit­willig Namen von »Mitläu­fern« nannte.

Vor allem diese letzte Stunde macht den Film kaputt. Drei Stunden Länge ist bei einem guten Film kein Problem, aber hier kommt es einem nicht kurz vor, sondern wie ein über­langer Epilog.

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Insgesamt ist alles stimmig und gut erzählt, ein über­durch­schnitt­li­cher Film, aber auch ein recht vorher­seh­barer. Und er geht in seinen Fakten und Episoden auch eigent­lich nie über die 40 Jahre alte preis­ge­krönte BBC-Miniserie von Barry Davis und Peter Prince zu Oppen­heimer hinaus – dies (im Deutschen auf DVD unter »J. Robert Oppen­heimer – Atom­phy­siker«) ist die bisher gelun­genste Darstel­lung des »Vaters der Atombombe«.

Das größte Problem von Oppen­heimer ist seine Unent­schie­den­heit. Der Film versucht alles zu erzählen, aber erzählt darum nichts richtig und gewichtet nicht genug, hakt davor allzu viel ab.
Er erklärt viel, aber an den entschei­denden Stellen nicht das Inter­es­sante: Wer denn Lewis Strauss eigent­lich war, kann man nur ahnen; wir sollen ihn aber wichtig nehmen. Wer denn Vannevar Bush war, den Matthew Modine würdevoll verknöchert spielt, nämlich eine der inter­es­san­testen Figuren der US-Politik des 20. Jahr­hun­derts, muss man nicht wissen, aber wer Werner Heisen­berg war, zu dem die ober­fläch­liche Arroganz von Matthias Schweig­höfer übrigens über­ra­schend gut passt, das wird uns ja auch erklärt, obwohl der Mann keine Minute Lein­wand­zeit hat.

Wir erfahren nichts Neues zu Oppen­hei­mers Frau Kitty, nichts Neues zu seiner kommu­nis­ti­schen Geliebten Jean Tatlock. Alles was gezeigt wird, ist nur illus­trativ. Zum Beispiel wird nie klar, warum er Kitty überhaupt plötzlich heiratet, und warum Jean zuvor seine Heirats­an­träge mehrfach abgelehnt hat, möchte man schon auch gerne wissen.

Alles was wir hier sehen, haben wir zum Teil in iden­ti­schen Bildern und Abläufen (sie sind schließ­lich im Fall von Jean durch detail­lierte FBI-Berichte beglau­bigt) in der erwähnten BBC-Serie, aber auch in Fat Man and Little Boy von Roland Joffe bereits gesehen. Warum will sich hier Nolan nicht die Freiheit zur Erfindung nehmen, die er sich in zwei fiktiven Gesprächen zwischen Oppen­heimer und Einstein jederzeit nimmt? Vermut­lich weil ihn Oppen­hei­mers Frau­en­ge­schichten und seine Ehe genauso wenig inter­es­sieren wie mich. Man kann mit gutem Recht fragen, ob eigent­lich die Ehe, die Liebes­ver­hält­nisse von Oppen­heimer so inter­es­sant sind? Man könnte Ähnliches von mindes­tens einer Milliarde Ehemänner im 20. Jahr­hun­dert auch erzählen.
Wenn Nolan sie aber erzählt, dann sollte er sich die Mühe machen, den Vorgän­ger­filmen etwas hinzu­zu­fügen.

So erscheint Oppen­heimer als ein Film, der sich mit den falschen Fragen zu lange befasst, mit persön­li­chen Intrigen, mit Verrat, mit persön­li­chem Beleidigt-sein, damit, wer wem die Hand gibt und warum nicht.

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Am Ende wird weder die oft einsei­tige Idea­li­sie­rung der Person Oppen­hei­mers infrage gestellt noch wird der Mann richtig idea­li­siert.

Oppen­heimer war im Zwei­fels­fall ein prag­ma­ti­scher Realist, der zwar einer­seits zeit­le­bens von sozia­lis­ti­schen Ideen angezogen war, aber nicht dumm oder begeis­tert genug, in die Partei einzu­treten. Der ande­rer­seits entgegen mancher heutiger Legenden den Atom­bom­ben­ein­satz auf Japan ohne Vorwar­nung immer begrüßt hatte. Der vor allem aber die einmalige persön­liche Chance sah, die ihm die Armee mit dem Leitungs­posten von Los Alamos anbot – und ergriff.

Man könnte sein Oppen­heimer-Bild also etwas weniger vom konven­tio­nellen Genie-Gedanken leiten lassen – der dann auf der Leinwand recht cheesy mit Funken, Blitzen und elek­tri­schen Span­nungs­ent­la­dungen illus­triert wird – und auch die Frage stellen, ob der späte Oppen­heimer, der ein Outcast war und ein Aktivist, in die Reihe jener Genies gehört, die im Alter das Werk ihrer Jugend zurück­weisen und in Teilen zerstören. Er wäre nicht der erste.

Der Oppen­heimer, den Nolan uns zeigt, ist der Oppen­heimer, den wir uns wünschen, den wir uns seit 80 Jahren zurecht gebastelt haben. Aber ist er auch der wirkliche Oppen­heimer? Irgend­wann läuft das auf das senti­men­tale Klischee hinaus, dass da ein Zauber­lehr­ling ist, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird.

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Wie erzählt man von dem Einsatz der Atombombe? Obwohl der Film vom histo­ri­schen Moment und der wissen­schaft­lich-tech­ni­schen Leistung spürbar faszi­niert ist, und diese Faszi­na­tion auf die Zuschauer zu über­tragen versucht, sehen wir keine Bilder von Hiroshima. Das kann man hier auch machen, aber viel­leicht sollte man auf eine andere Weise deutlich und nicht nur verschämt en passant zum Ausdruck bringen: Da war noch was.

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Die Figur in jedem Fall passt zu den zerris­senen Haupt­fi­guren vieler Nolan-Filme. Aus dieser Fest­stel­lung folgt aber nichts.

Gemessen daran, was man von Regisseur Chris­to­pher Nolan, einem der großen origi­nellen Künstler des Gegen­warts­kinos, eigent­lich erwarten muss, bleibt dieser Film überaus unbe­frie­di­gend. Zum ersten Mal in einem Nolan-Film fehlt die für Nolan typische verschach­telte Erzähl­weise.

Auf hohem Niveau enttäuscht der Film: Dies ist ein gutes, aber konven­tio­nelles Biopic über Oppen­heimer, aber kein Nolan-Film. Er entscheidet sich nicht für bestimmte Zugänge, sondern arbeitet seine Themen brav ab, ohne neue Themen zu setzen.

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Schließ­lich bleibt das Problem natürlich, dass reale Geschichte selbst unglaub­lich spannend ist. Was will Fiktion hier hinzu­fügen? Es müsste schon etwas Fiktio­nales sein, oder etwas Formales, jeden­falls Ästhetik.
Zudem ist der Ausgang bekannt. Nur wer überhaupt nichts weiß, wird von dem, was er im Film sieht, wirklich über­rascht sein. Wer aber überhaupt nichts weiß, wird sich in diesem Film aus anderen Gründen nicht zurecht­finden.

Verkäufer auf Abwegen

Zu lang, zu detailversessen und dann doch zu fragmentarisch. Christopher Nolans Amalgam aus Thriller, Biopic und Gerichtsfilm hält nicht, was es verspricht

»Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsicht­baren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinaus­ge­kommen ist.«
– Robert Musil, Der Mann ohne Eigen­schaften

Man muss nicht zwei Mal darüber nach­denken, warum Chris­to­pher Nolan in seinem neuen Film ausge­rechnet die Lebens­ge­schichte von J. Robert Oppen­heimer erzählen wollte. Für die meisten Ameri­kaner ist er der Vater der Atombombe und charis­ma­ti­sches Symbol für das Ende des 2. Welt­kriegs, der trotz Helden­status im Zug der para­no­iden Kommu­nis­ten­hetze unter McCarthy zu leiden hatte. Für uns Deutsche dürfte er vor allem durch das Thea­ter­s­tück In der Sache J. Robert Oppen­heimer von Heinar Kipphardt immer noch präsent sein, in dem Kipphardt als bedeu­tendster Vertreter des Doku­men­tar­thea­ters die Verhör­pro­to­kolle der Oppen­heimer-Anhörung aus dem Jahr 1954 zu einem Stück über Moral und Unmoral, Schuld und Unschuld verdich­tete. Kipphardt legte Oppen­heimer sein Stück zwar vor der Urauf­füh­rung 1964 zum Gegen­lesen vor, konnte oder wollte Oppen­hei­mers harsche Reaktion jedoch nicht mehr in das Stück inte­grieren; vor allem der von Kipphardt erfundene Schluss­mo­nolog, in dem Oppen­heimer Reue für sein Atom­bom­ben­pro­jekt bekundet, schlug ihm auf den Magen:
»The play and such things have been rattling around for a long time. What I have never done is to express regret for doing what I did and could at Los Alamos; in fact, on varied and recurrent occasions, I have reaf­firmed my sense that, with all the black and white, that was something I did not regret.«

Nach­zu­lesen sind diese Worte im letzten Kapitel von Kai Birds und Martin J. Sherwins 2005 erschie­nener Oppen­heimer-Biografie American Prome­theus, ein Meilen­stein der Biografie-Literatur, den auch Chris­to­pher Nolan als Basis für seinen Oppen­heimer genommen hat.

Zwischen Indiana Jones & Wolf of Wall Street

Damit bewegt sich Nolan in seiner dreis­tün­digen Oppen­heimer-Exegese auf erheblich umfang­rei­cherem Terrain, als Kipphardt es damals ohne die biogra­fi­schen Hinter­gründe vermochte, auch wenn Nolans Film sich gerade im zentralen Teil der Anhörungen sehr nach Kipp­hardts doku­men­ta­ri­schem Theater anfühlt und die Anhörungen auch explizit als erzäh­le­ri­scher Anker und unruhiger Ruhepol funk­tio­nieren, um mit Oppen­heimer in die eigene Vergan­gen­heit zu reisen. Die Vergan­gen­heit des zwar deutschs­täm­migen, aber in Amerika geborenen Physikers, der über Stationen an den verschie­densten Univer­si­täten in Amerika und Europa schließ­lich die Quan­ten­physik in den USA salon­fähig, also förde­rungs­würdig, machte. Und schließ­lich während des Zweiten Welt­kriegs zum wissen­schaft­li­chen Chef von Los Alamos wurde, wo er mit seinem Team in einem Wettlauf mit den Nazis (und auch schon den Kalten Krieg vorweg­neh­mend mit den Sowjets) die Atombombe entwi­ckelte, die schließ­lich auf Hiro­schima und Nagasaki abge­worfen wurde, aber natürlich ursprüng­lich für die Deutschen bestimmt war.

Das klingt wie eingangs ange­deutet schon in dieser Rohfas­sung gar nicht so histo­risch weit von unserer Gegenwart weg. Nicht nur bezüglich der platten Bezüge wie der zum Atom­zeit­alter, dessen Gefahr durch den Ukrai­ne­krieg wieder deutlich spürbar ist, sondern auch über die Frage nach der Moral. Wer darf wem wann und warum welche Waffen zur Verfügung stellen und wo werden oder werden gerade nicht die mora­li­schen Grenzen gezogen, wenn es um einen Angriffs­gegner geht, der die west­li­chen Werte in Frage stellt und immer wieder mal mit der Atombombe droht. Gleich­zeitig kann die Frage der Moral natürlich spie­le­risch auf die Diskurse über die Anwendung und Auswei­tung von KI-Proze­duren wie ChatGPT über­tragen werden, denn auch das neoli­be­rale Umfeld von heute unter­scheidet sich von dem von gestern nur marginal.

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»By the age of twelve, he was using the family type­writer to corre­spond with a number of well-known local geolo­gists about the rock forma­tions he had studied in Central Park. Not aware of his youth, one of these corre­spond­ents nominated Robert for member­ship in the New York Mine­ra­lo­gical Club, and soon there­after a letter arrived inviting him to deliver a lecture before the club.«
– Kai Bird & Martin J. Sherwin, American Prome­theus: The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppen­heimer

Die Gegenwart der Vergan­gen­heit

Das alles macht Nolans Film zu einem sprich­wört­lich brand­ak­tu­ellen Film, umso mehr als Nolan die Übergänge von Politik, Wirt­schaft und Wissen­schaft fließend darstellt. Sein von Peaky Blinders-Darsteller Cillian Murphy eindring­lich verkör­perter Oppen­heimer ist eine Mischung aus Indiana Jones und Wolf of Wall Street. Mal reitet er in die wüstigen Weiten New Mexicos, um seiner späteren Frau Kitty (Emily Blunt) den ersten Kuss zu geben, dann trifft er seine Geliebte Jean Tatlock (Florence Pugh) und hat vor Bücher­re­galen und Kamin­feuer Sex mit ihr, um in der nächsten Szene charis­ma­tisch seine wissen­schaft­li­chen Ideen zu verkaufen und ein Team zu leiten, so wie wir das auch heute aus den Zentralen globaler Konzerne kennen. Und dann wird der Sieg des wissen­schaft­li­chen Wettren­nens, der erfolg­reiche Abwurf über Hiroshima, tatsäch­lich symbo­lisch passend in einer Sport­halle gefeiert. Eine Massen­ver­nich­tung als »Sport­er­eignis« – viel zynischer und entlar­vender geht es kaum. Und auch sonst wird hier die Wissen­schaft, die mit Risiken eher leicht­fertig umgeht, eigent­lich nicht anders gezeichnet als wir es von all den heutigen Inno­va­tions-Hubs der Pharmazie oder der Waffen­in­dus­trie kennen. Und was damals McCarthy war, ist heute natürlich nichts anderes als die rigide Cancel-Culture, die auf Verdacht und allzu oft beweislos richtet.

Das sind Grund­lagen und Schnitt­mengen für einen Film, der über die Vergan­gen­heit die Gegenwart erklärt. Und Nolan macht das natürlich auch, will das auch, und wie immer will er es sich – wie in allen seinen Filmen von Memento bis Tenet – nicht zu einfach machen, wird erzählte Gegenwart und Vergan­gen­heit immer wieder zerhäck­selt und neu zusam­men­ge­setzt, wenn auch bei weitem nicht so form­be­sessen und innovativ wir in anderen Filmen Nolans, gibt es jedoch immerhin eine schwarz-weiß-gefilmte »histo­ri­sche Realität« und eine persön­liche Historie, die farbig gehalten ist. (Und selbst­ver­s­tänd­lich ist das nicht irgendein Schwarz­weiß, sondern ein von Kodak für Nolans bevor­zugtes IMAX-Format gefer­tigter Prototyp, der wie der ganze Film laut Nolan in einem IMAX-Kino gesehen werden sollte, auch wenn sich Oppen­heimer beden­kenlos auf einem Smart­phone streamen lassen dürfte.)

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»Dark wit aside, Robert still suffered periodic bouts of depres­sion. Some of these episodes were brought on by his family’s visits to Cambridge. Fergusson remembers going out to dinner with Robert and some of his relatives—not his parents—and watching as his friend turned visibly green from the strain of being polite. After­wards, Robert would drag Fergusson with him as he pounded the pavement for miles, talking all the while in his quiet, even voice about some physics problem. Walking was his only therapy.«
– Kai Bird & Martin J. Sherwin, American Prome­theus: The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppen­heimer

Multiplex, nicht komplex

Erzäh­le­risch arbeitet Nolan selbst­ver­s­tänd­lich und wie immer schon multiplex. Er verpackt die Entwick­lung der Bombe in einen wissen­schaft­li­chen, aller­dings oft zu schwatz­haften Thriller und verschneidet ihn mit oft viel zu kurzen Vignetten aus Oppen­hei­mers jungen Jahren, etwa der Begegnung mit Heisen­berg, der hier erstaun­li­cher­weise (oder ist das Ironie?) von Matthias Schweig­höfer verkör­pert werden darf. Und dann darf natürlich auch Einstein (Tom Conti) nicht fehlen und so viele andere wie der ambi­va­lente Edward Teller (Benny Safdie) und der etwas stör­ri­sche Niels Bohr (Kenneth Branagh). Und dann gibt es natürlich noch den von Robert Downey Jr. schil­lernd-diabo­lisch verkör­perten Lewis Strauss, der Oppen­heimer die Anhörung erst anhängt, die, anders als im Film ange­deutet, den wirk­li­chen Oppen­heimer brechen wird. Immerhin nimmt sich Nolan hier genug Zeit, um zu zeigen, dass Strauss selbst nur Spielball seines fragilen Egos ist, anders als der von Matt Damon gespielte Leslie Grove, der Oppen­hei­mers mili­täri­scher Vorge­setzter ist und andere Kämpfe mit Oppen­heimer ausficht, als es Strauss am Ende tut.

Man kann an diesem Amalgam aus Genres und seinem Konvolut an Personal, das weit über die hier aufge­zählten Personen hinaus­geht, und ange­ris­senen Hand­lungs­strängen, die immerhin vier Jahr­zehnte eines Lebens erzählen, erkennen, wie schwer es Nolan gefallen sein muss, ein filmisch ange­mes­senes Destillat aus Kai Birds und Martin J. Sherwins über 700 Seiten langer Biografie zu ziehen. Aber Nolan kann sich nicht entscheiden, er will so komplex wie möglich sein, verhebt sich aber an dem multi­plexen Schwer­ge­wicht eines Lebens. Immer wieder verliert der Film sein Gleich­ge­wicht, werden wichtige biogra­fi­sche Details – etwas Jeans Depres­sionen, Oppen­hei­mers dann wohl doch weiter­ge­ge­bene Infor­ma­tionen an die Russen und Oppen­hei­mers hier nur vernu­scheltes Einge­ständnis, nichts zu bereuen – zugunsten kaum nach­voll­zieh­barer wissen­schaft­li­cher Ausfüh­rungen und endloser, vorge­richt­li­cher Dialog­schlachten geopfert.

Und schließ­lich verspielt Nolan auch sein Herzstück, den Gerichts­film, nimmt ihm dezidiert seine Dramatik und langweilt sogar, weil er seine formellen Exzesse dem Narrativ opfert. Nur an einer Stelle, als erstmals jemand gegen Strauss aufbe­gehrt, zeigt Nolan, was möglich gewesen wäre. Und lässt es auch gleich wieder sein, bricht erneut mit den Erwar­tungs­hal­tungen, unter­läuft jene zum Gerichts­film genauso wie die zum Wissen­schafts- und Spio­na­ge­thriller. Und konfron­tiert den Zuschauer wieder und wieder mit neuen Zeugen im zentralen Anhörungs- bzw. Gerichts­film­teil, die jedoch nichts anderes als Kapi­tel­ü­ber­schriften zu einer weiteren Reise in Oppen­hei­mers rudi­men­täre Vergan­gen­heit sind. Und die am Ende dann auch nicht viel mehr erzählt, als dass wir immer die Vergan­gen­heit eines Menschen kennen müssen, um über seine Gegenwart zu urteilen. Und dass im Fall von Oppen­heimer seine jüdische Herkunft und sein Wissen um die Verfol­gung der Juden in Nazi-Deutsch­land essen­tiell war, um sich trotz aller Risiken – eine durch seine in die Praxis umge­setzte Forschung gleich doppelt mögliche, unauf­halt­same Ketten­re­ak­tion (auf atomarer wie poli­ti­scher Ebene) auszu­lösen – dann doch für den Bau der Bombe zu entscheiden.

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»Late that autumn of 1925, Robert did something so stupid that it seemed calcu­lated to prove that his emotional distress was over­whel­ming him. Consumed by feelings of inade­quacy and intense jealousy, he poisoned an apple with chemicals from the labo­ra­tory and left it on Blackett’s desk. Jeffries Wyman later said, Whether or not this was an imaginary apple, or a real apple, whatever it was, it was an act of jealousy. Fort­u­n­a­tely, Blackett did not eat the apple; but univer­sity officials somehow were informed of the incident. As Robert himself confessed to Fergusson two months later, he had kind of poisoned the head steward. It seemed incre­dible, but that was what he said. And he had actually used cyanide or something somewhere. And fort­u­n­a­tely the tutor disco­vered it. Of course there was hell to pay with Cambridge. If the alleged poison was poten­ti­ally lethal, what Robert had done amounted to attempted murder. But this seems impro­bable, given what happened.«
– Kai Bird & Martin J. Sherwin, American Prome­theus: The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppen­heimer

Wer hat Schuld?

Doch Zweifel bleiben immer, auch wenn Einstein und natürlich Oppen­heimer eigent­lich immer schon alles wussten. Und tote Winkel, Leer­stellen des Charak­ters, die den Menschen in seiner Komple­xität erst ausmachen.

Auf die weist Nolan dann leider alles andere als subtil hin und konter­ka­riert damit Oppen­hei­mers tiefsten Wunsch nach mehr Komple­xität und weniger Gleich­gül­tig­keit. Wummernde und animierte Quanten- und Kern­fu­si­ons­pro­zesse werden blitz­artig Dialogen unterlegt und sollen zum einen wohl zeigen, dass Oppen­heimer Teil dessen war, was er erforschte und deshalb auch mehr wusste als ahnte, was er dort tut. Gleich­zeitig sind sie natürlich auch Warnung vor dem Unum­kehr­baren, der Vision einer Welt, die Goethe schon in seinem Zauber­lehr­ling aufgehen sah: »Die ich rief, die Geister, wird ich nun nicht los.« Genauso platt sind die Visionen der durch die Bombe Verstrahlten mit einem immer wieder viel zu lauten, aufdring­li­chen Score (Ludwig Göransson) unterlegt, um natürlich auch hier zu zeigen, dass Oppen­heimer wusste, was er hat. Auch hier hätten die Bilder gereicht, um zu erklären, was Nolan uns sagen möchte, doch Nolan scheint sich selbst nicht zu trauen oder er unter­schätzt einfach sein Publikum. So wie wir dann auch wieder und wieder erklärt bekommen, dass nicht Oppen­heimer die Schuld trägt, sondern es natürlich die Mensch­heit an sich ist, die ewige Wieder­kehr des Gleichen, die hier auf allen Erzäh­le­benen wieder und wieder durch­de­kli­niert wird. Und es deshalb natürlich auch diesen Film gibt, geben muss.

Weniger wäre hier, wie so oft in diesem Film, mehr gewesen.

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»This was only a different way of saying what he had learned from reading Proust forty years earlier in Corsica: that indif­fe­rence to the suffe­rings one causes … is the terrible and permanent form of cruelty. Far from being indif­fe­rent, Robert was acutely aware of the suffering he had caused others in his life—and yet he would not allow himself to succumb to guilt. He would accept respon­si­bi­lity; he had never tried to deny his respon­si­bi­lity. But since the security hearing, he nevert­heless no longer seemed to have the capacity or moti­va­tion to fight against the cruelty of indif­fe­rence. In that sense, Rabi had been right: They achieved their goal. They killed him.«
– Kai Bird & Martin J. Sherwin, American Prome­theus: The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppen­heimer

Visionen des Untergangs

Christopher Nolans Dreistünder über den »Vater der Atombombe« ist herausragendes Filmemachen und eine große Kino-Oper

Taugt dieser Mann zum Mythos? American Prome­theus heißt die Biogra­phie, die Kai Bird und Martin J. Sherwin über den Physiker Robert Oppen­heimer geschrieben haben. Und mit Prome­theus beginnt auch die Verfil­mung von Chris­to­pher Nolan. Erst bringt er den Menschen Feuer, dann wird er von den Göttern bestraft. Erst beschert Oppen­heimer den Ameri­ka­nern die sieg­ver­spre­chende Atombombe, dann wird er verstoßen. Man unter­stellte ihm nach dem Zweiten Weltkrieg verschwö­re­ri­sche Absichten, Spionage für die Kommu­nisten, nachdem er sich im atomaren Wettrüsten zwischen USA und Sowjet­union kritisch äußerte.

Nolan insze­niert diese Gestalt als stoischen Märtyrer. Seinem Land bleibt er treu, obwohl es ihn ins Aus drängt. Er glaubt an seine Wissen­schaft, obwohl oder gerade weil man sie als Waffe miss­brau­chen kann. Aber bieten sich für die Deutung dieser bahn­bre­chenden Geschichte der Mythos und das Tragische als Scha­blonen und Deutungs­muster wirklich an? Zumal sie immer den Eindruck einer Über­höhung und des Schick­sals­haften, Unabän­der­li­chen bergen? Chris­to­pher Nolan hat darauf keine einfache Antwort, aber er kann die Grenzen zwischen Gut und Böse auflösen, Entschei­dungen zur Diskus­sion stellen, ihre Zeit­lo­sig­keit und Anwend­bar­keit heraus­ar­beiten, um unsere Gegenwart besser zu verstehen.

Ohnehin über­rascht es kaum, dass sich der Regisseur dieses Stoffes annimmt! Er geisterte schon oft durch seine Filme, zuletzt ganz explizit in Tenet, der von einem künftigen Oppen­heimer-Pendant erzählte. Immer wieder ging es bei Nolan um Verant­wor­tung, Macht und Ohnmacht des Einzelnen, das Abwägen von Opfern und notwen­digem Übel. Dilemmata, das eine zu wollen und das andere zu müssen. Oppen­hei­mers Geschichte ist das histo­ri­sche Para­de­bei­spiel dafür. Sie beschwört das Weltende als Macht des Menschen über eine zu große Waffe. Erst baut man sie im Vers­tändnis des Guten, um den Faschismus aufzu­halten und noch höhere Todes­zahlen zu vermeiden. Später geht es allein um Dominanz und Macht – insze­niert im Atompilz. Nolan jeden­falls erzählt vom Einbruch des Vernich­tungs­triebs und des Kalten Krieges in das Persön­liche und findet dafür eine mitreißende, poetische Form.

Drama hautnah

Oppen­heimer nutzt das Potential der Groß­auf­nahme, wie man es selten zu sehen bekommt. Hoyte van Hoytema (Kamera) und Chris­to­pher Nolan kitzeln Regungen aus dem Star-Ensemble, die ganze Bände erzählen, allen voran aus Haupt­dar­steller Cilian Murphy. Dieser Film setzt sich aus Porträts zusammen, denen gerade in den Schwarz-Weiß-Sequenzen etwas ungemein Aura­ti­sches anhaftet. Zugleich zemen­tieren sie heraus­for­dernde Grenzen zwischen dem Darstell­baren und Nicht-Darstell­baren, dem Fassbaren und Unfass­baren.

Oppen­heimer gelingt, was der Film­theo­re­tiker Bela Balázs in »Der sichtbare Mensch« forderte: »Die Groß­auf­nahme eines Gesichtes, sehr häufig als Schluß­ef­fekt­bild einer großen Szene gebracht, muß ein lyrischer Extrakt des ganzen Dramas sein.« Cilian Murphy, Oppen­heimer, der Getrie­bene, der ins Grübeln kommt und nicht mehr froh zu werden scheint, zeigt die unauf­gelöste Ambi­va­lenz in seinem Mienen­spiel. Im Glauben an das Gute beschmutzt er seine Hände, verliert die Kontrolle und stürzt die Welt ins Unheil. »Das Rührende und Aufre­gende bei der Physio­gnomie ist aber auch hier die Gleich­zei­tig­keit, daß wir im Ausdruck des Bösen selbst das Gute erkennen können. Wie durch die Augenöff­nungen einer Maske berührt uns aus manchem Gesicht ein tieferer Blick.« (Balázs)

Die Klasse eines Regis­seurs erkennt man daran, einen so intim konzi­pierten, an Köpfen klebenden, raum­ver­en­genden Film mit immensen Schau­werten und einer unge­heuren Inten­sität aufzu­laden. Oppen­heimer ist einer der sper­rigsten und reifsten Filme von Chris­to­pher Nolan. Sperrig deshalb, weil man drei Stunden lang dichten, ausufernden Wort­ge­fechten folgen muss. Sie sprechen über mehrere Zeit- und Bewusst­seins­ebenen hinweg. Da gibt es die Ebene Oppen­hei­mers, die des Staates sowie eine imagi­nierte Ebene der unbe­wussten Elemen­tar­welt, die schock­artig knallt und zischt und Funken sprüht.

Reif ist der Film jedoch, weil Nolan das Indi­vi­du­elle und das Syste­mi­sche mit allen thema­ti­schen Konflikten verblüf­fend zusam­men­führt, wenn­gleich etwas mehr Selektion und Fokus hier und da nicht geschadet hätten! Er sucht dabei das Spek­ta­kuläre in der Ausein­an­der­set­zung und nicht im bloßen Effekt. Sein Drehbuch folgt einer analy­ti­schen Erzähl­weise. Alle Karten liegen schon auf dem Tisch, Oppen­heimer wird verhört. Die Bomben sind explo­diert, das Wettrüsten läuft, ein Staat jagt seine Feind­bilder. In einer bedrängten Psyche ziehen nun Erin­ne­rungen vorbei. Sie stellen Kausa­li­täten und Wider­sprüche her, verwachsen zum Mosaik und Bewusst­seins­strom.

Geschichte und Gefühl

Während die lite­ra­ri­sche Vorlage von Bird und Sherwin eine trockene Chro­no­logie wählt und Station an Station reiht, zerlegt Nolan diese Wunsch­vor­stel­lung der Geschichts­schrei­bung in ihre Einzel­teile. Er reißt Szenen aus ihrem Kontext, springt dazwi­schen vor und zurück, befragt ihre Bedeutung im Sturz in eine neue Ordnung. Momente wieder­holen sich, werden unter­bro­chen, kombi­niert. Am Schluss legen sie eine schaurige Punkt­lan­dung hin.

Das Verschränken von Vergan­gen­heit und Zukunft (Tenet) wird nun zum gestal­te­ri­schen Prinzip von Histo­ri­zität. Die Kata­strophe der Gegenwart schaut auf ihre Geburt. Sie wird aus früheren Umständen erklärbar und muss zugleich den Schrecken einschließen, den sie Zukunft nennt. Die äußerste Konse­quenz ist in jedem Zeit­sprung schon anwesend, obwohl sie im Geist noch gar nicht bedacht wurde. Das mag kompli­ziert klingen! Nolan entfernt sich aber etwas von dem abstrakten Skizzen- und Konzept­kino seiner vorhe­rigen Filme. Statt­dessen entwirft er solche Hirn­ver­dreher direkt aus dem mensch­li­chen Subjekt heraus.

Gewiss schließt sein Kino auch dieses Mal eine konven­tio­nelle Form von Mitgefühl oder Charak­ter­ent­wick­lung aus. Dennoch taucht er so tief und spürbar in innere Zustände ein wie lange nicht. Indi­vi­duum, Staats­ap­parat und Zeit­ge­schichte, Paranoia und Schuld­emp­finden vermengen sich in den Tempo­wech­seln der Montage. Sie selbst ist Affekt und Einfüh­lung. Atemlos beschleu­nigt sie ihren Rhythmus, dann hält sie inne, dann beginnen ihre Bilder zu pulsieren. Horror schleicht sich in die Wahr­neh­mung der Welt. Gleißendes Licht und lärmender Donner wecken die Panik. Ihre Unruhe im Material wird von der von Nolan bevor­zugten analogen Film­pro­jek­tion noch zusätz­lich flackernd verstärkt.

Und er hält alles zusammen: Ludwig Göransson. Seine phäno­me­nale Musik ist quasi dauer­prä­sent. Sie führt mal mit sägenden Violinen in den Wahnsinn, schlägt leise Töne an, dann lässt sie die Gewalt der Geschichte mit Blech­blä­sern und Synthe­si­zern über die Figuren hinweg­dröhnen. Musik spielt eine so tragende Rolle, dass sie Oppen­heimer in die Nähe einer Oper rückt. Leid und Getrie­ben­heit des Prot­ago­nisten erfahren in ihr eine imposante Orches­trie­rung. Stak­ka­to­ar­tige Dialoge und ihre Unter­ma­lung formen sich zum Ausdruck. Pathos entlädt sich an den richtigen Stellen. Große Fragen sprudeln aus einer Biogra­phie und durch­ge­spielten Anklage. Exis­ten­zi­elle Dramen unter dem Brennglas: Wissen­schaft, Politik und Ideologie loten ihre Verflech­tungen und Trenn­li­nien aus. Nur wenn die Bombe hochgeht, erscheint alles andere ganz nichtig.

Die Schönheit der Vernich­tung

Die Explosion als ein bedroh­li­ches Jetzt ist das Zentrum, aus dem sich die Wellen der Erzählung ausbreiten. Nolan spiegelt sie gleich zu Beginn in Wasser und Feuer. Los Alamos, der Forschungsort in New Mexico, wird bei ihm zum Sinnbild und zur Wieder­ho­lung perver­tierter Wildwest-Mythen. Man raubt Urein­woh­nern Land, durch­streift auf Pferden die Weiten der präch­tigen Prärie, errichtet sich ein Heim und vertei­digt die eigenen Narrative. Sogar eine Art Saloon baut man in die Ortschaft, wo man gemeinsam Feste feiert, während an der Massen­ver­nich­tungs­waffe gear­beitet wird. Oppen­heimer und Prome­theus – zwei zivi­li­sa­to­ri­sche Ursprungs­my­then?

Wenn die Leinwand in Flammen aufgeht, kann Oppen­heimer so nah an die Gefahr rücken, wie man es in der Realität nicht vermag. Und er kann vermit­teln, wie es sein muss, einen Knopf in der Aussicht zu drücken, damit viel­leicht die ganze Erde in Brand zu setzen. Nolan zeigt die Atombombe im »Trinity Test« als faszi­nie­rendes Schau­spiel. Wie kann das Schreck­liche so schön sein? Eine unver­gess­liche Horror-Sequenz ist das mit nerven­zer­reißenden Strei­chern, Unwetter, vers­tö­render Stille, verschlin­genden Licht­ge­bilden. Danach wird jubelnd applau­diert. Dass Oppen­heimer das darauf­fol­gende Leid und Inferno beim Abwurf der Bomben über Hiroshima und Nagasaki ausspart, sondern im Eindruck des Tests und der Reak­tionen verharrt, ist Nolans denk­wür­digste Entschei­dung. Auch hier bleibt nur das Schauen auf Furcht und Zweifel hinter star­renden Augen, Ahnungen des Grauens.

Kino als Spiel von Nähe und Ferne erfährt in Oppen­heimer so eine mora­li­sche Krise und Gewis­sens­frage in seiner Darstel­lung. Die Gewalt ist erst Idee und Erkenntnis, dann wird sie Sensation im Raum der Wildnis – ihr eigent­li­cher Terror bleibt derweil ein verdrängter Splitter im Gewebe. Ein Untergang der Welt, sofern die Macht­de­mons­tra­tionen eska­lieren, wird das Droh­ge­spenst der Mächtigen. Es wurde gerufen und wollte nie wieder gehen. Die Probe einer Schre­ckens­vor­stel­lung. Aber traut man sich, ihr ins Gesicht zu sehen?

Paralleles Co-Existieren

Christopher Nolans Oppenheimer ist nicht klassischer Biopic, sondern klassischer Nolan, ein komplexer, vielschichtiger und kompliziert montierter historischer Thriller. Und ein wichtiger Denkanstoss

Ange­sichts der inter­na­tio­nalen Lage könnte der Start von Chris­to­pher Nolans Oppen­heimer nicht besser termi­niert sein, ein epischer Thriller über eine der ambi­va­len­testen und kontro­ver­sesten Figuren der modernen Wissen­schaften – den theo­re­ti­schen Physiker J. Robert Oppen­heimer. Als Leiter des soge­nannten Manhattan-Projekts, der an der Entwick­lung der ersten Atombombe viele Jahre aktiv beteiligt war, wurde er später »Vater der Atombombe« genannt.

Basierend auf der 2006 veröf­fent­lichten und mit dem Pulit­zer­preis ausge­zeich­neten Biogra­phie American Prome­theus von Kai Bird und Martin J. Sherwin, erzählt der Film aus der Perspek­tive von Robert Oppen­heimer (gespielt von Cillian Murphy) von seinem turbu­lenten Leben. Aller­dings ist es kein klas­si­sches Biopic – das wäre ja auch von Nolan nicht zu erwarten. Hingegen ist es ein komplexer, viel­schich­tiger, kompli­ziert montierter histo­ri­scher Thriller, der in der typisch Nolan’schen Manier den Zuschauer in die tiefsten, verbor­gensten Schichten des mensch­li­chen Unter­be­wusst­seins hinein­zieht, fesselt und bis zum letzten Augen­blick nicht loslässt. Der Film spielt mit verschie­denen Zeit­ebenen und Hand­lungs­strängen, die sich in einem rasanten Tempo abwech­seln. Die farb­li­chen Sequenzen wechseln zu schwarz­weißen Tableaus, welche die Hexenjagd auf Oppen­heimer, initiiert von Lewis Strauss (in der Rolle Robert Downey Jr.), auf doku­men­ta­risch-histo­ri­sche Art imitieren.

Das unglaub­lich laute Sound­de­sign ist so über­wäl­ti­gend, dass es einen immer wieder zusam­men­zucken lässt. Man wird von uner­träg­lich lautem Weinen, Klirren, Zerbersten und Explo­dieren ergriffen. Selbst die Szenen des Jubels über den erfolg­reich verlau­fenen Trinity-Test, gepaart mit furcht­erre­genden dysto­pi­schen Zukunfts­vi­sionen und von ihm vorge­stellten Bildern der Kata­strophe aus Hiroshima und Nagasaki, erzeugen eine äußerst zwie­späl­tige Wirkung.

Einer­seits ist es ein histo­ri­sches, biogra­phi­sches Drama, das sich sehr detail­ge­treu an die Biogra­phie »American Prome­theus« (insbe­son­dere an die Anhörung Oppen­hei­mers durch Profes­soren, das FBI und Lewis Strauss) anlehnt; ande­rer­seits wird hier eine subtile psycho­lo­gi­sche Charak­ter­studie eines sehr reflek­tierten und äußerst intel­li­genten Natur­wis­sen­schaft­lers mit all seinen Zweifeln, Ängsten und innerer Zerris­sen­heit durch­ge­führt. Dank einer bril­lanten schau­spie­le­ri­schen Leistung Cillian Murphys sieht und spürt der Zuschauer hautnah sowohl seine Tränen­freude als auch seine Unruhe und inneren Konflikte sowie seine Schuld­ge­fühle, als er erfährt, dass die Bombe auf die japa­ni­schen Städte abge­worfen wurde. Dank der innen­per­spek­ti­vi­schen Erzähl­weise ist der Zuschauer imstande, ihn und seine Zweifel, sein Ringen mit sich selbst, seine Vorahnung über das Böse, das er gerade entwi­ckelt, und doch immer wieder die Hoffnung, dass seine Entde­ckung jedoch zukünf­tige Kriege ausschließen würde, nach­zu­voll­ziehen.

Als ob man sich in seinem Kopf befände, wird man von bemer­kens­werten Welt­all­bil­dern eines Visionärs, in denen die Atome sich permanent spalten und chaotisch bewegen, über­wäl­tigt. Aller­dings findet hier keine Verschmel­zung von Quan­ten­physik und Rela­ti­vi­täts­theorie wie bei Inter­stellar statt, sondern deren paral­leles Co-Exis­tieren in Form von Robert Oppen­heimer und Albert Einstein, die zwar an einem Ort (Princeton) arbei­teten, dennoch – aufgrund Einsteins klar ausge­drückter mora­li­scher Bedenken – keine Fusion eingingen.

Bei der Film­stelle, in der der Trinity-Test durch­ge­führt wird, erreicht die Spannung eine gigan­ti­sche Dimension. Man hat die ganze Zeit den Eindruck, jeden Augen­blick werde etwas Tragi­sches passieren, auch wenn es erfolg­reich verläuft. Durch die enorm drama­ti­sche Stimmung bekommt das Publikum die ganze Zeit das Ungute deutlich zu spüren. Am schreck­lichsten und zugleich am eindrucks­vollsten wird »die glänzend purpur­rote«, von radio­ak­tivem Staub schwarz gewordene Wolke, von der im Buch von Bird und Sherwin berichtet wird, darge­stellt. Erst Schock und Starre. Und dann die Erkenntnis in Oppen­hei­mers Augen. Denn letzt­end­lich ist die Atombombe zum Inbegriff des Bösen geworden!

Durch die Figuren der Wissen­schaftler im Labor, ausgerüstet mit merk­würdig ausse­henden, dick­ver­glasten Brillen (vermut­lich als Schutz vor der Nukle­ar­strah­lung) hat man das Gefühl, im apoka­lyp­ti­schen Fotoroman von Chris Markers La Jetée aus dem Jahr 1962 gelandet zu sein, der vom Dritten Atom-Weltkrieg handelt, der die Welt komplett zerstörte. Man könnte sich gut vorstellen, dass Chris­to­pher Nolan in der Tat in diesen span­nungs­ge­la­denen Szenen auf Markers Film anspielt, um die Folgen des Einsatzes von Atom­waffen auf sehr eindring­liche Art zu zeigen.

Der Film ist unglaub­lich laut. Abgesehen davon, dass es ein Block­buster ist, hat man öfters das Gefühl, dass alles in diesem Film laut schreit, als ob der Film versuchen würde, einen durch folgende Botschaft aufzu­rüt­teln: Unsere Welt ist in Gefahr!

Letzt­end­lich hat die Entde­ckung der Atombombe die Welt in der Tat unwie­der­bring­lich verändert, und nun muss man eine kollek­tive Verant­wor­tung dafür tragen. Insbe­son­dere und hoffent­lich ist Oppen­heimer ein wichtiger Denk­an­stoß für solche Atom­mächte, wie Putins Russland, die in den letzten Jahren immer wieder die Welt mit dem Einsatz von Atom­waffen erpressen und somit uns alle in Angst und Schrecken versetzen. Gegen so ein Szenario hat Oppen­heimer seit der Entwick­lung der Atombombe bis zu seinem Tod mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gekämpft.

Trotz spürbarer Spannung und Tragik zeigt der Film auch atem­be­rau­bende Panora­ma­bilder von der Land­schaft in New Mexiko, die Oppen­heimer sehr geliebt hat und die einen klaren Kontrast zu den zerstö­re­ri­schen Visi­ons­bil­dern aus Japan bilden. Aber auch magische Visi­ons­bilder Oppen­hei­mers aus dem Weltall, die Präsenz der Kunst­bilder im Film, seine Affinität zur Poesie und Musik und sein Liebes­leben (auch wenn nicht besonders ausführ­lich) werden hier dem Publikum vor Augen geführt und zeugen von Robert Oppen­hei­mers Viel­sei­tig­keit und seinem geistigen Reichtum. Zudem visua­li­sieren sie seine Ideen, dass die Natur­wis­sen­schaften die Geis­tes­wis­sen­schaften unbedingt brauchen, »um ihr eigenes Wesen wie auch die Folgen eigener Entde­ckungen zu verstehen«.