USA 2023 · 181 min. · FSK: ab 12 Regie: Christopher Nolan Drehbuch: Christopher Nolan Kamera: Hoyte van Hoytema Darsteller: Cillian Murphy, Emily Blunt, Matt Damon, Robert Downey jr., Florence Pugh u.a. |
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Der Mann mit Eigenschaften... | ||
(Foto: Univeral) |
Die ersten Bilder zeigen Regentropfen. Sie treffen auf Wasserpfützen, und formen dort geometrisch exakte Kreise, die zum Teil ineinander greifen und Schnittmengen bilden. Es gibt eine Ordnung der Dinge, die alles verbindet, suggeriert dieses Bild, und der Mann, der sie so gedankenverloren, mit tiefgründigem Blick ansieht, schaut tiefer als andere; er ahnt etwas von dieser Ordnung, und er wird sie enthüllen und sie sich untertan machen.
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Nur wenige wissenschaftliche Biographien im 20. Jahrhundert sind ähnlich spannend, facettenreich und auch für das Kino faszinierend, wie das Leben von J. Robert Oppenheimer (1904-1967). Oppenheimer, ein hochbegabter US-amerikanischer Quantenphysiker, wurde 1943 zum Leiter des Atombombenforschungszentrums in Los Alamos, New Mexico berufen und sowohl als Organisator wie auch durch eigene Erfindungen und Beiträge zum »Vater der Atombombe«. Nicht zum ersten Mal ist Oppenheimers Biographie nun Gegenstand eines Kinofilms; und auch im Fernsehen widmen sich dokumentarische wie fiktionale Formate immer wieder dieser so facettenreichen wie abgründigen Biographie, und damit auch der Geschichte der Atombombe und der Möglichkeit des Menschen, sich selbst und die ganze Erde zu vernichten.
American Prometheus heißt die bisher maßgebliche Biographie Oppenheimers, nach dem Halbgott, der den olympischen Göttern das Feuer raubte. Es ist ein Buch, auf das sich auch der Regisseur Christopher Nolan in seinem neuen Film beruft.
Auf rund 900 Seiten beschreiben darin die Autoren ein widersprüchliches Leben, das so zahlreiche Facetten und Aspekte hatte, dass
man, wollte man dieses Buch wirklich halbwegs angemessen verfilmen, eine Miniserie von mindestens 12 Teilen gebraucht hätte.
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Denn mindestens drei Geschichten kann und muss man über Oppenheimer erzählen – und sie sind auch auf die eine oder andere Weise im Film bereits erzählt worden: da ist die persönliche Lebensgeschichte eines Wissenschaftlers, der schon früh sowohl durch seine Persönlichkeit wie durch sein besonderes Genie zum Außenseiter auch unter seinesgleichen wurde, der zugleich ein exzellenter Universitätslehrer war und als solcher ein charismatisches Vorbild für seine vielen Studenten.
Ein Frauenheld, der eine komplizierte aber lange und loyale Ehe mit einer Alkoholikerin führte, und zugleich eine Geliebte hatte, die in der Kommunistischen Partei aktiv war und sich Anfang 1945 wohl auch aus Liebeskummer das Leben nahm.
Ein politisch Naiver, der seit den 30er Jahren bis zum Ende seines Lebens Sozialist war und viele Freundschaften zu Kommunisten hatte – was ihn spätestens mit Beginn des Kalten Krieges in große Schwierigkeiten brachte und mit der Sicherheitsfreigabe auch einen wesentlichen Teil seiner Karriere und wahrscheinlich den Nobelpreis kostete.
Zweitens ist da die Geschichte der heroischen Phase der Physik, in der man zwischen 1900 und 1945 das Atom, die Radioaktivität, die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik, die Kernspaltung und schließlich die Nutzung der Kernenergie entdeckte.
Und schließlich die nicht minder heroische Geschichte des Baus der Atombombe selbst – also die nach wie vor von vielen Mythen umwobene Geschichte von Los Alamos, dem Miteinander zwischen Wissenschaft und Militär. Oppenheimer war ein genialer Improvisator und guter Organisator, zumal es äußerst kompliziert war, diesen Haufen von egomanischen Individualisten mit verschiedensten Theorie-Schwerpunkten und einer starken persönlichen Konkurrenz untereinander zu managen und oft genug auch zu bändigen.
Oppenheimer in Los Alamos – das ist auch die Geschichte eines Zirkusdompteurs.
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Das Ergebnis, das heute ins Kino kommt, hat drei Kapitel von jeweils etwa einer Stunde Länge, und ist relativ chronologisch erzählt. Zunächst der Werdegang, die kulturellen Einflüsse, und die Begegnungen mit Niels Bohr und Albert Einstein. Im Rückblick ist dieser Abschnitt des Films einer der allerbesten. Während des Films dachte ich: »Es geht dann alles zu schnell; es wird gewissermaßen abgehakt, auch ein bisschen zu brav, ein bisschen zu chronologisch.« Aber es funktioniert. Was auch gut funktioniert, ist das Umreißen der Persönlichkeit in dieser Phase, der Einflüsse auf sie. Am Ende ist gerade dieser Anfang, in dem sich die Figur des Oppenheimer aus Fragmenten und Einzelteilen gewissermaßen kubistisch zusammensetzt, auch widersprüchlich, sehr stark.
Dann die Entwicklung der Atombombe selbst bis zum entscheidenden, welterschütternden »Trinity«-Test. Der wirklich tolle Moment ist Trinity. Und doch geradezu etwas verschenkt... Weil die Fallhöhe, die Erhabenheit des Augenblicks nicht so deutlich wird wie in anderen Filmen, selbst dem eher verschnarchten Fat Man and Little Boy von Roland Joffe.
Schließlich die Zeit danach: Die Angriffe der Neider und die Kommunistenhatz sowie Oppenheimers zunehmende moralische Zweifel. Auch dieser Film verschweigt allerdings einige der für seine Verteidiger unappetitlicheren Aspekte von Oppenheimers Leben – vor allem die Tatsache, dass dieses Opfer der antikommunistischen »Hexenjagd« im Verhör bereitwillig Namen von »Mitläufern« nannte.
Vor allem diese letzte Stunde macht den Film kaputt. Drei Stunden Länge ist bei einem guten Film kein Problem, aber hier kommt es einem nicht kurz vor, sondern wie ein überlanger Epilog.
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Insgesamt ist alles stimmig und gut erzählt, ein überdurchschnittlicher Film, aber auch ein recht vorhersehbarer. Und er geht in seinen Fakten und Episoden auch eigentlich nie über die 40 Jahre alte preisgekrönte BBC-Miniserie von Barry Davis und Peter Prince zu Oppenheimer hinaus – dies (im Deutschen auf DVD unter »J. Robert Oppenheimer – Atomphysiker«) ist die bisher gelungenste Darstellung des »Vaters der Atombombe«.
Das größte Problem von Oppenheimer ist seine Unentschiedenheit. Der Film versucht alles zu erzählen, aber erzählt darum nichts richtig und gewichtet nicht genug, hakt davor allzu viel ab.
Er erklärt viel, aber an den entscheidenden Stellen nicht das Interessante: Wer denn Lewis Strauss eigentlich war, kann man nur ahnen; wir sollen ihn aber wichtig nehmen. Wer denn Vannevar Bush war, den Matthew Modine würdevoll verknöchert spielt, nämlich eine der
interessantesten Figuren der US-Politik des 20. Jahrhunderts, muss man nicht wissen, aber wer Werner Heisenberg war, zu dem die oberflächliche Arroganz von Matthias Schweighöfer übrigens überraschend gut passt, das wird uns ja auch erklärt, obwohl der Mann keine Minute Leinwandzeit hat.
Wir erfahren nichts Neues zu Oppenheimers Frau Kitty, nichts Neues zu seiner kommunistischen Geliebten Jean Tatlock. Alles was gezeigt wird, ist nur illustrativ. Zum Beispiel wird nie klar, warum er Kitty überhaupt plötzlich heiratet, und warum Jean zuvor seine Heiratsanträge mehrfach abgelehnt hat, möchte man schon auch gerne wissen.
Alles was wir hier sehen, haben wir zum Teil in identischen Bildern und Abläufen (sie sind schließlich im Fall von Jean durch detaillierte FBI-Berichte beglaubigt) in der erwähnten BBC-Serie, aber auch in Fat Man and Little Boy von Roland Joffe bereits gesehen. Warum will sich hier Nolan nicht die Freiheit zur Erfindung nehmen, die er sich in zwei fiktiven Gesprächen zwischen
Oppenheimer und Einstein jederzeit nimmt? Vermutlich weil ihn Oppenheimers Frauengeschichten und seine Ehe genauso wenig interessieren wie mich. Man kann mit gutem Recht fragen, ob eigentlich die Ehe, die Liebesverhältnisse von Oppenheimer so interessant sind? Man könnte Ähnliches von mindestens einer Milliarde Ehemänner im 20. Jahrhundert auch erzählen.
Wenn Nolan sie aber erzählt, dann sollte er sich die Mühe machen, den Vorgängerfilmen etwas hinzuzufügen.
So erscheint Oppenheimer als ein Film, der sich mit den falschen Fragen zu lange befasst, mit persönlichen Intrigen, mit Verrat, mit persönlichem Beleidigt-sein, damit, wer wem die Hand gibt und warum nicht.
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Am Ende wird weder die oft einseitige Idealisierung der Person Oppenheimers infrage gestellt noch wird der Mann richtig idealisiert.
Oppenheimer war im Zweifelsfall ein pragmatischer Realist, der zwar einerseits zeitlebens von sozialistischen Ideen angezogen war, aber nicht dumm oder begeistert genug, in die Partei einzutreten. Der andererseits entgegen mancher heutiger Legenden den Atombombeneinsatz auf Japan ohne Vorwarnung immer begrüßt hatte. Der vor allem aber die einmalige persönliche Chance sah, die ihm die Armee mit dem Leitungsposten von Los Alamos anbot – und ergriff.
Man könnte sein Oppenheimer-Bild also etwas weniger vom konventionellen Genie-Gedanken leiten lassen – der dann auf der Leinwand recht cheesy mit Funken, Blitzen und elektrischen Spannungsentladungen illustriert wird – und auch die Frage stellen, ob der späte Oppenheimer, der ein Outcast war und ein Aktivist, in die Reihe jener Genies gehört, die im Alter das Werk ihrer Jugend zurückweisen und in Teilen zerstören. Er wäre nicht der erste.
Der Oppenheimer, den Nolan uns zeigt, ist der Oppenheimer, den wir uns wünschen, den wir uns seit 80 Jahren zurecht gebastelt haben. Aber ist er auch der wirkliche Oppenheimer? Irgendwann läuft das auf das sentimentale Klischee hinaus, dass da ein Zauberlehrling ist, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird.
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Wie erzählt man von dem Einsatz der Atombombe? Obwohl der Film vom historischen Moment und der wissenschaftlich-technischen Leistung spürbar fasziniert ist, und diese Faszination auf die Zuschauer zu übertragen versucht, sehen wir keine Bilder von Hiroshima. Das kann man hier auch machen, aber vielleicht sollte man auf eine andere Weise deutlich und nicht nur verschämt en passant zum Ausdruck bringen: Da war noch was.
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Die Figur in jedem Fall passt zu den zerrissenen Hauptfiguren vieler Nolan-Filme. Aus dieser Feststellung folgt aber nichts.
Gemessen daran, was man von Regisseur Christopher Nolan, einem der großen originellen Künstler des Gegenwartskinos, eigentlich erwarten muss, bleibt dieser Film überaus unbefriedigend. Zum ersten Mal in einem Nolan-Film fehlt die für Nolan typische verschachtelte Erzählweise.
Auf hohem Niveau enttäuscht der Film: Dies ist ein gutes, aber konventionelles Biopic über Oppenheimer, aber kein Nolan-Film. Er entscheidet sich nicht für bestimmte Zugänge, sondern arbeitet seine Themen brav ab, ohne neue Themen zu setzen.
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Schließlich bleibt das Problem natürlich, dass reale Geschichte selbst unglaublich spannend ist. Was will Fiktion hier hinzufügen? Es müsste schon etwas Fiktionales sein, oder etwas Formales, jedenfalls Ästhetik.
Zudem ist der Ausgang bekannt. Nur wer überhaupt nichts weiß, wird von dem, was er im Film sieht, wirklich überrascht sein. Wer aber überhaupt nichts weiß, wird sich in diesem Film aus anderen Gründen nicht zurechtfinden.
»Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist.«
– Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
Man muss nicht zwei Mal darüber nachdenken, warum Christopher Nolan in seinem neuen Film ausgerechnet die Lebensgeschichte von J. Robert Oppenheimer erzählen wollte. Für die meisten Amerikaner ist er der Vater der Atombombe und charismatisches Symbol für das Ende des 2. Weltkriegs, der trotz Heldenstatus im Zug der paranoiden Kommunistenhetze unter McCarthy zu leiden hatte. Für uns Deutsche dürfte er vor allem durch das Theaterstück In der Sache J. Robert Oppenheimer von Heinar Kipphardt immer noch präsent sein, in dem Kipphardt als bedeutendster Vertreter des Dokumentartheaters die Verhörprotokolle der Oppenheimer-Anhörung aus dem Jahr 1954 zu einem Stück über Moral und Unmoral, Schuld und Unschuld verdichtete. Kipphardt legte Oppenheimer sein Stück zwar vor der Uraufführung 1964 zum
Gegenlesen vor, konnte oder wollte Oppenheimers harsche Reaktion jedoch nicht mehr in das Stück integrieren; vor allem der von Kipphardt erfundene Schlussmonolog, in dem Oppenheimer Reue für sein Atombombenprojekt bekundet, schlug ihm auf den Magen:
»The play and such things have been rattling around for a long time. What I have never done is to express regret for doing what I did and could at Los Alamos; in fact, on varied and recurrent occasions, I have reaffirmed my sense
that, with all the black and white, that was something I did not regret.«
Nachzulesen sind diese Worte im letzten Kapitel von Kai Birds und Martin J. Sherwins 2005 erschienener Oppenheimer-Biografie American Prometheus, ein Meilenstein der Biografie-Literatur, den auch Christopher Nolan als Basis für seinen Oppenheimer genommen hat.
Damit bewegt sich Nolan in seiner dreistündigen Oppenheimer-Exegese auf erheblich umfangreicherem Terrain, als Kipphardt es damals ohne die biografischen Hintergründe vermochte, auch wenn Nolans Film sich gerade im zentralen Teil der Anhörungen sehr nach Kipphardts dokumentarischem Theater anfühlt und die Anhörungen auch explizit als erzählerischer Anker und unruhiger Ruhepol funktionieren, um mit Oppenheimer in die eigene Vergangenheit zu reisen. Die Vergangenheit des zwar deutschstämmigen, aber in Amerika geborenen Physikers, der über Stationen an den verschiedensten Universitäten in Amerika und Europa schließlich die Quantenphysik in den USA salonfähig, also förderungswürdig, machte. Und schließlich während des Zweiten Weltkriegs zum wissenschaftlichen Chef von Los Alamos wurde, wo er mit seinem Team in einem Wettlauf mit den Nazis (und auch schon den Kalten Krieg vorwegnehmend mit den Sowjets) die Atombombe entwickelte, die schließlich auf Hiroschima und Nagasaki abgeworfen wurde, aber natürlich ursprünglich für die Deutschen bestimmt war.
Das klingt wie eingangs angedeutet schon in dieser Rohfassung gar nicht so historisch weit von unserer Gegenwart weg. Nicht nur bezüglich der platten Bezüge wie der zum Atomzeitalter, dessen Gefahr durch den Ukrainekrieg wieder deutlich spürbar ist, sondern auch über die Frage nach der Moral. Wer darf wem wann und warum welche Waffen zur Verfügung stellen und wo werden oder werden gerade nicht die moralischen Grenzen gezogen, wenn es um einen Angriffsgegner geht, der die westlichen Werte in Frage stellt und immer wieder mal mit der Atombombe droht. Gleichzeitig kann die Frage der Moral natürlich spielerisch auf die Diskurse über die Anwendung und Ausweitung von KI-Prozeduren wie ChatGPT übertragen werden, denn auch das neoliberale Umfeld von heute unterscheidet sich von dem von gestern nur marginal.
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»By the age of twelve, he was using the family typewriter to correspond with a number of well-known local geologists about the rock formations he had studied in Central Park. Not aware of his youth, one of these correspondents nominated Robert for membership in the New York Mineralogical Club, and soon thereafter a letter arrived inviting him to deliver a lecture before the club.«
– Kai Bird & Martin J. Sherwin, American Prometheus: The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppenheimer
Das alles macht Nolans Film zu einem sprichwörtlich brandaktuellen Film, umso mehr als Nolan die Übergänge von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft fließend darstellt. Sein von Peaky Blinders-Darsteller Cillian Murphy eindringlich verkörperter Oppenheimer ist eine Mischung aus Indiana Jones und Wolf of Wall Street. Mal reitet er in die wüstigen Weiten New Mexicos, um seiner späteren Frau Kitty (Emily Blunt) den ersten Kuss zu geben, dann trifft er seine Geliebte Jean Tatlock (Florence Pugh) und hat vor Bücherregalen und Kaminfeuer Sex mit ihr, um in der nächsten Szene charismatisch seine wissenschaftlichen Ideen zu verkaufen und ein Team zu leiten, so wie wir das auch heute aus den Zentralen globaler Konzerne kennen. Und dann wird der Sieg des wissenschaftlichen Wettrennens, der erfolgreiche Abwurf über Hiroshima, tatsächlich symbolisch passend in einer Sporthalle gefeiert. Eine Massenvernichtung als »Sportereignis« – viel zynischer und entlarvender geht es kaum. Und auch sonst wird hier die Wissenschaft, die mit Risiken eher leichtfertig umgeht, eigentlich nicht anders gezeichnet als wir es von all den heutigen Innovations-Hubs der Pharmazie oder der Waffenindustrie kennen. Und was damals McCarthy war, ist heute natürlich nichts anderes als die rigide Cancel-Culture, die auf Verdacht und allzu oft beweislos richtet.
Das sind Grundlagen und Schnittmengen für einen Film, der über die Vergangenheit die Gegenwart erklärt. Und Nolan macht das natürlich auch, will das auch, und wie immer will er es sich – wie in allen seinen Filmen von Memento bis Tenet – nicht zu einfach machen, wird erzählte Gegenwart und Vergangenheit immer wieder zerhäckselt und neu zusammengesetzt, wenn auch bei weitem nicht so formbesessen und innovativ wir in anderen Filmen Nolans, gibt es jedoch immerhin eine schwarz-weiß-gefilmte »historische Realität« und eine persönliche Historie, die farbig gehalten ist. (Und selbstverständlich ist das nicht irgendein Schwarzweiß, sondern ein von Kodak für Nolans bevorzugtes IMAX-Format gefertigter Prototyp, der wie der ganze Film laut Nolan in einem IMAX-Kino gesehen werden sollte, auch wenn sich Oppenheimer bedenkenlos auf einem Smartphone streamen lassen dürfte.)
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»Dark wit aside, Robert still suffered periodic bouts of depression. Some of these episodes were brought on by his family’s visits to Cambridge. Fergusson remembers going out to dinner with Robert and some of his relatives—not his parents—and watching as his friend turned visibly green from the strain of being polite. Afterwards, Robert would drag Fergusson with him as he pounded the pavement for miles, talking all the while in his quiet, even voice about some physics problem. Walking was his only therapy.«
– Kai Bird & Martin J. Sherwin, American Prometheus: The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppenheimer
Erzählerisch arbeitet Nolan selbstverständlich und wie immer schon multiplex. Er verpackt die Entwicklung der Bombe in einen wissenschaftlichen, allerdings oft zu schwatzhaften Thriller und verschneidet ihn mit oft viel zu kurzen Vignetten aus Oppenheimers jungen Jahren, etwa der Begegnung mit Heisenberg, der hier erstaunlicherweise (oder ist das Ironie?) von Matthias Schweighöfer verkörpert werden darf. Und dann darf natürlich auch Einstein (Tom Conti) nicht fehlen und so viele andere wie der ambivalente Edward Teller (Benny Safdie) und der etwas störrische Niels Bohr (Kenneth Branagh). Und dann gibt es natürlich noch den von Robert Downey Jr. schillernd-diabolisch verkörperten Lewis Strauss, der Oppenheimer die Anhörung erst anhängt, die, anders als im Film angedeutet, den wirklichen Oppenheimer brechen wird. Immerhin nimmt sich Nolan hier genug Zeit, um zu zeigen, dass Strauss selbst nur Spielball seines fragilen Egos ist, anders als der von Matt Damon gespielte Leslie Grove, der Oppenheimers militärischer Vorgesetzter ist und andere Kämpfe mit Oppenheimer ausficht, als es Strauss am Ende tut.
Man kann an diesem Amalgam aus Genres und seinem Konvolut an Personal, das weit über die hier aufgezählten Personen hinausgeht, und angerissenen Handlungssträngen, die immerhin vier Jahrzehnte eines Lebens erzählen, erkennen, wie schwer es Nolan gefallen sein muss, ein filmisch angemessenes Destillat aus Kai Birds und Martin J. Sherwins über 700 Seiten langer Biografie zu ziehen. Aber Nolan kann sich nicht entscheiden, er will so komplex wie möglich sein, verhebt sich aber an dem multiplexen Schwergewicht eines Lebens. Immer wieder verliert der Film sein Gleichgewicht, werden wichtige biografische Details – etwas Jeans Depressionen, Oppenheimers dann wohl doch weitergegebene Informationen an die Russen und Oppenheimers hier nur vernuscheltes Eingeständnis, nichts zu bereuen – zugunsten kaum nachvollziehbarer wissenschaftlicher Ausführungen und endloser, vorgerichtlicher Dialogschlachten geopfert.
Und schließlich verspielt Nolan auch sein Herzstück, den Gerichtsfilm, nimmt ihm dezidiert seine Dramatik und langweilt sogar, weil er seine formellen Exzesse dem Narrativ opfert. Nur an einer Stelle, als erstmals jemand gegen Strauss aufbegehrt, zeigt Nolan, was möglich gewesen wäre. Und lässt es auch gleich wieder sein, bricht erneut mit den Erwartungshaltungen, unterläuft jene zum Gerichtsfilm genauso wie die zum Wissenschafts- und Spionagethriller. Und konfrontiert den Zuschauer wieder und wieder mit neuen Zeugen im zentralen Anhörungs- bzw. Gerichtsfilmteil, die jedoch nichts anderes als Kapitelüberschriften zu einer weiteren Reise in Oppenheimers rudimentäre Vergangenheit sind. Und die am Ende dann auch nicht viel mehr erzählt, als dass wir immer die Vergangenheit eines Menschen kennen müssen, um über seine Gegenwart zu urteilen. Und dass im Fall von Oppenheimer seine jüdische Herkunft und sein Wissen um die Verfolgung der Juden in Nazi-Deutschland essentiell war, um sich trotz aller Risiken – eine durch seine in die Praxis umgesetzte Forschung gleich doppelt mögliche, unaufhaltsame Kettenreaktion (auf atomarer wie politischer Ebene) auszulösen – dann doch für den Bau der Bombe zu entscheiden.
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»Late that autumn of 1925, Robert did something so stupid that it seemed calculated to prove that his emotional distress was overwhelming him. Consumed by feelings of inadequacy and intense jealousy, he poisoned an apple with chemicals from the laboratory and left it on Blackett’s desk. Jeffries Wyman later said, Whether or not this was an imaginary apple, or a real apple, whatever it was, it was an act of jealousy. Fortunately, Blackett did not eat the apple; but university officials somehow were informed of the incident. As Robert himself confessed to Fergusson two months later, he had kind of poisoned the head steward. It seemed incredible, but that was what he said. And he had actually used cyanide or something somewhere. And fortunately the tutor discovered it. Of course there was hell to pay with Cambridge. If the alleged poison was potentially lethal, what Robert had done amounted to attempted murder. But this seems improbable, given what happened.«
– Kai Bird & Martin J. Sherwin, American Prometheus: The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppenheimer
Doch Zweifel bleiben immer, auch wenn Einstein und natürlich Oppenheimer eigentlich immer schon alles wussten. Und tote Winkel, Leerstellen des Charakters, die den Menschen in seiner Komplexität erst ausmachen.
Auf die weist Nolan dann leider alles andere als subtil hin und konterkariert damit Oppenheimers tiefsten Wunsch nach mehr Komplexität und weniger Gleichgültigkeit. Wummernde und animierte Quanten- und Kernfusionsprozesse werden blitzartig Dialogen unterlegt und sollen zum einen wohl zeigen, dass Oppenheimer Teil dessen war, was er erforschte und deshalb auch mehr wusste als ahnte, was er dort tut. Gleichzeitig sind sie natürlich auch Warnung vor dem Unumkehrbaren, der Vision einer Welt, die Goethe schon in seinem Zauberlehrling aufgehen sah: »Die ich rief, die Geister, wird ich nun nicht los.« Genauso platt sind die Visionen der durch die Bombe Verstrahlten mit einem immer wieder viel zu lauten, aufdringlichen Score (Ludwig Göransson) unterlegt, um natürlich auch hier zu zeigen, dass Oppenheimer wusste, was er hat. Auch hier hätten die Bilder gereicht, um zu erklären, was Nolan uns sagen möchte, doch Nolan scheint sich selbst nicht zu trauen oder er unterschätzt einfach sein Publikum. So wie wir dann auch wieder und wieder erklärt bekommen, dass nicht Oppenheimer die Schuld trägt, sondern es natürlich die Menschheit an sich ist, die ewige Wiederkehr des Gleichen, die hier auf allen Erzählebenen wieder und wieder durchdekliniert wird. Und es deshalb natürlich auch diesen Film gibt, geben muss.
Weniger wäre hier, wie so oft in diesem Film, mehr gewesen.
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»This was only a different way of saying what he had learned from reading Proust forty years earlier in Corsica: that indifference to the sufferings one causes … is the terrible and permanent form of cruelty. Far from being indifferent, Robert was acutely aware of the suffering he had caused others in his life—and yet he would not allow himself to succumb to guilt. He would accept responsibility; he had never tried to deny his responsibility. But since the security hearing, he nevertheless no longer seemed to have the capacity or motivation to fight against the cruelty of indifference. In that sense, Rabi had been right: They achieved their goal. They killed him.«
– Kai Bird & Martin J. Sherwin, American Prometheus: The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppenheimer
Taugt dieser Mann zum Mythos? American Prometheus heißt die Biographie, die Kai Bird und Martin J. Sherwin über den Physiker Robert Oppenheimer geschrieben haben. Und mit Prometheus beginnt auch die Verfilmung von Christopher Nolan. Erst bringt er den Menschen Feuer, dann wird er von den Göttern bestraft. Erst beschert Oppenheimer den Amerikanern die siegversprechende Atombombe, dann wird er verstoßen. Man unterstellte ihm nach dem Zweiten Weltkrieg verschwörerische Absichten, Spionage für die Kommunisten, nachdem er sich im atomaren Wettrüsten zwischen USA und Sowjetunion kritisch äußerte.
Nolan inszeniert diese Gestalt als stoischen Märtyrer. Seinem Land bleibt er treu, obwohl es ihn ins Aus drängt. Er glaubt an seine Wissenschaft, obwohl oder gerade weil man sie als Waffe missbrauchen kann. Aber bieten sich für die Deutung dieser bahnbrechenden Geschichte der Mythos und das Tragische als Schablonen und Deutungsmuster wirklich an? Zumal sie immer den Eindruck einer Überhöhung und des Schicksalshaften, Unabänderlichen bergen? Christopher Nolan hat darauf keine einfache Antwort, aber er kann die Grenzen zwischen Gut und Böse auflösen, Entscheidungen zur Diskussion stellen, ihre Zeitlosigkeit und Anwendbarkeit herausarbeiten, um unsere Gegenwart besser zu verstehen.
Ohnehin überrascht es kaum, dass sich der Regisseur dieses Stoffes annimmt! Er geisterte schon oft durch seine Filme, zuletzt ganz explizit in Tenet, der von einem künftigen Oppenheimer-Pendant erzählte. Immer wieder ging es bei Nolan um Verantwortung, Macht und Ohnmacht des Einzelnen, das Abwägen von Opfern und notwendigem Übel. Dilemmata, das eine zu wollen und das andere zu müssen. Oppenheimers Geschichte ist das historische Paradebeispiel dafür. Sie beschwört das Weltende als Macht des Menschen über eine zu große Waffe. Erst baut man sie im Verständnis des Guten, um den Faschismus aufzuhalten und noch höhere Todeszahlen zu vermeiden. Später geht es allein um Dominanz und Macht – inszeniert im Atompilz. Nolan jedenfalls erzählt vom Einbruch des Vernichtungstriebs und des Kalten Krieges in das Persönliche und findet dafür eine mitreißende, poetische Form.
Oppenheimer nutzt das Potential der Großaufnahme, wie man es selten zu sehen bekommt. Hoyte van Hoytema (Kamera) und Christopher Nolan kitzeln Regungen aus dem Star-Ensemble, die ganze Bände erzählen, allen voran aus Hauptdarsteller Cilian Murphy. Dieser Film setzt sich aus Porträts zusammen, denen gerade in den Schwarz-Weiß-Sequenzen etwas ungemein Auratisches anhaftet. Zugleich zementieren sie herausfordernde Grenzen zwischen dem Darstellbaren und Nicht-Darstellbaren, dem Fassbaren und Unfassbaren.
Oppenheimer gelingt, was der Filmtheoretiker Bela Balázs in »Der sichtbare Mensch« forderte: »Die Großaufnahme eines Gesichtes, sehr häufig als Schlußeffektbild einer großen Szene gebracht, muß ein lyrischer Extrakt des ganzen Dramas sein.« Cilian Murphy, Oppenheimer, der Getriebene, der ins Grübeln kommt und nicht mehr froh zu werden scheint, zeigt die unaufgelöste Ambivalenz in seinem Mienenspiel. Im Glauben an das Gute beschmutzt er seine Hände, verliert die Kontrolle und stürzt die Welt ins Unheil. »Das Rührende und Aufregende bei der Physiognomie ist aber auch hier die Gleichzeitigkeit, daß wir im Ausdruck des Bösen selbst das Gute erkennen können. Wie durch die Augenöffnungen einer Maske berührt uns aus manchem Gesicht ein tieferer Blick.« (Balázs)
Die Klasse eines Regisseurs erkennt man daran, einen so intim konzipierten, an Köpfen klebenden, raumverengenden Film mit immensen Schauwerten und einer ungeheuren Intensität aufzuladen. Oppenheimer ist einer der sperrigsten und reifsten Filme von Christopher Nolan. Sperrig deshalb, weil man drei Stunden lang dichten, ausufernden Wortgefechten folgen muss. Sie sprechen über mehrere Zeit- und Bewusstseinsebenen hinweg. Da gibt es die Ebene Oppenheimers, die des Staates sowie eine imaginierte Ebene der unbewussten Elementarwelt, die schockartig knallt und zischt und Funken sprüht.
Reif ist der Film jedoch, weil Nolan das Individuelle und das Systemische mit allen thematischen Konflikten verblüffend zusammenführt, wenngleich etwas mehr Selektion und Fokus hier und da nicht geschadet hätten! Er sucht dabei das Spektakuläre in der Auseinandersetzung und nicht im bloßen Effekt. Sein Drehbuch folgt einer analytischen Erzählweise. Alle Karten liegen schon auf dem Tisch, Oppenheimer wird verhört. Die Bomben sind explodiert, das Wettrüsten läuft, ein Staat jagt seine Feindbilder. In einer bedrängten Psyche ziehen nun Erinnerungen vorbei. Sie stellen Kausalitäten und Widersprüche her, verwachsen zum Mosaik und Bewusstseinsstrom.
Während die literarische Vorlage von Bird und Sherwin eine trockene Chronologie wählt und Station an Station reiht, zerlegt Nolan diese Wunschvorstellung der Geschichtsschreibung in ihre Einzelteile. Er reißt Szenen aus ihrem Kontext, springt dazwischen vor und zurück, befragt ihre Bedeutung im Sturz in eine neue Ordnung. Momente wiederholen sich, werden unterbrochen, kombiniert. Am Schluss legen sie eine schaurige Punktlandung hin.
Das Verschränken von Vergangenheit und Zukunft (Tenet) wird nun zum gestalterischen Prinzip von Historizität. Die Katastrophe der Gegenwart schaut auf ihre Geburt. Sie wird aus früheren Umständen erklärbar und muss zugleich den Schrecken einschließen, den sie Zukunft nennt. Die äußerste Konsequenz ist in jedem Zeitsprung schon anwesend, obwohl sie im Geist noch gar nicht bedacht wurde. Das mag kompliziert klingen! Nolan entfernt sich aber etwas von dem abstrakten Skizzen- und Konzeptkino seiner vorherigen Filme. Stattdessen entwirft er solche Hirnverdreher direkt aus dem menschlichen Subjekt heraus.
Gewiss schließt sein Kino auch dieses Mal eine konventionelle Form von Mitgefühl oder Charakterentwicklung aus. Dennoch taucht er so tief und spürbar in innere Zustände ein wie lange nicht. Individuum, Staatsapparat und Zeitgeschichte, Paranoia und Schuldempfinden vermengen sich in den Tempowechseln der Montage. Sie selbst ist Affekt und Einfühlung. Atemlos beschleunigt sie ihren Rhythmus, dann hält sie inne, dann beginnen ihre Bilder zu pulsieren. Horror schleicht sich in die Wahrnehmung der Welt. Gleißendes Licht und lärmender Donner wecken die Panik. Ihre Unruhe im Material wird von der von Nolan bevorzugten analogen Filmprojektion noch zusätzlich flackernd verstärkt.
Und er hält alles zusammen: Ludwig Göransson. Seine phänomenale Musik ist quasi dauerpräsent. Sie führt mal mit sägenden Violinen in den Wahnsinn, schlägt leise Töne an, dann lässt sie die Gewalt der Geschichte mit Blechbläsern und Synthesizern über die Figuren hinwegdröhnen. Musik spielt eine so tragende Rolle, dass sie Oppenheimer in die Nähe einer Oper rückt. Leid und Getriebenheit des Protagonisten erfahren in ihr eine imposante Orchestrierung. Stakkatoartige Dialoge und ihre Untermalung formen sich zum Ausdruck. Pathos entlädt sich an den richtigen Stellen. Große Fragen sprudeln aus einer Biographie und durchgespielten Anklage. Existenzielle Dramen unter dem Brennglas: Wissenschaft, Politik und Ideologie loten ihre Verflechtungen und Trennlinien aus. Nur wenn die Bombe hochgeht, erscheint alles andere ganz nichtig.
Die Explosion als ein bedrohliches Jetzt ist das Zentrum, aus dem sich die Wellen der Erzählung ausbreiten. Nolan spiegelt sie gleich zu Beginn in Wasser und Feuer. Los Alamos, der Forschungsort in New Mexico, wird bei ihm zum Sinnbild und zur Wiederholung pervertierter Wildwest-Mythen. Man raubt Ureinwohnern Land, durchstreift auf Pferden die Weiten der prächtigen Prärie, errichtet sich ein Heim und verteidigt die eigenen Narrative. Sogar eine Art Saloon baut man in die Ortschaft, wo man gemeinsam Feste feiert, während an der Massenvernichtungswaffe gearbeitet wird. Oppenheimer und Prometheus – zwei zivilisatorische Ursprungsmythen?
Wenn die Leinwand in Flammen aufgeht, kann Oppenheimer so nah an die Gefahr rücken, wie man es in der Realität nicht vermag. Und er kann vermitteln, wie es sein muss, einen Knopf in der Aussicht zu drücken, damit vielleicht die ganze Erde in Brand zu setzen. Nolan zeigt die Atombombe im »Trinity Test« als faszinierendes Schauspiel. Wie kann das Schreckliche so schön sein? Eine unvergessliche Horror-Sequenz ist das mit nervenzerreißenden Streichern, Unwetter, verstörender Stille, verschlingenden Lichtgebilden. Danach wird jubelnd applaudiert. Dass Oppenheimer das darauffolgende Leid und Inferno beim Abwurf der Bomben über Hiroshima und Nagasaki ausspart, sondern im Eindruck des Tests und der Reaktionen verharrt, ist Nolans denkwürdigste Entscheidung. Auch hier bleibt nur das Schauen auf Furcht und Zweifel hinter starrenden Augen, Ahnungen des Grauens.
Kino als Spiel von Nähe und Ferne erfährt in Oppenheimer so eine moralische Krise und Gewissensfrage in seiner Darstellung. Die Gewalt ist erst Idee und Erkenntnis, dann wird sie Sensation im Raum der Wildnis – ihr eigentlicher Terror bleibt derweil ein verdrängter Splitter im Gewebe. Ein Untergang der Welt, sofern die Machtdemonstrationen eskalieren, wird das Drohgespenst der Mächtigen. Es wurde gerufen und wollte nie wieder gehen. Die Probe einer Schreckensvorstellung. Aber traut man sich, ihr ins Gesicht zu sehen?
Angesichts der internationalen Lage könnte der Start von Christopher Nolans Oppenheimer nicht besser terminiert sein, ein epischer Thriller über eine der ambivalentesten und kontroversesten Figuren der modernen Wissenschaften – den theoretischen Physiker J. Robert Oppenheimer. Als Leiter des sogenannten Manhattan-Projekts, der an der Entwicklung der ersten Atombombe viele Jahre aktiv beteiligt war, wurde er später »Vater der Atombombe« genannt.
Basierend auf der 2006 veröffentlichten und mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Biographie American Prometheus von Kai Bird und Martin J. Sherwin, erzählt der Film aus der Perspektive von Robert Oppenheimer (gespielt von Cillian Murphy) von seinem turbulenten Leben. Allerdings ist es kein klassisches Biopic – das wäre ja auch von Nolan nicht zu erwarten. Hingegen ist es ein komplexer, vielschichtiger, kompliziert montierter historischer Thriller, der in der typisch Nolan’schen Manier den Zuschauer in die tiefsten, verborgensten Schichten des menschlichen Unterbewusstseins hineinzieht, fesselt und bis zum letzten Augenblick nicht loslässt. Der Film spielt mit verschiedenen Zeitebenen und Handlungssträngen, die sich in einem rasanten Tempo abwechseln. Die farblichen Sequenzen wechseln zu schwarzweißen Tableaus, welche die Hexenjagd auf Oppenheimer, initiiert von Lewis Strauss (in der Rolle Robert Downey Jr.), auf dokumentarisch-historische Art imitieren.
Das unglaublich laute Sounddesign ist so überwältigend, dass es einen immer wieder zusammenzucken lässt. Man wird von unerträglich lautem Weinen, Klirren, Zerbersten und Explodieren ergriffen. Selbst die Szenen des Jubels über den erfolgreich verlaufenen Trinity-Test, gepaart mit furchterregenden dystopischen Zukunftsvisionen und von ihm vorgestellten Bildern der Katastrophe aus Hiroshima und Nagasaki, erzeugen eine äußerst zwiespältige Wirkung.
Einerseits ist es ein historisches, biographisches Drama, das sich sehr detailgetreu an die Biographie »American Prometheus« (insbesondere an die Anhörung Oppenheimers durch Professoren, das FBI und Lewis Strauss) anlehnt; andererseits wird hier eine subtile psychologische Charakterstudie eines sehr reflektierten und äußerst intelligenten Naturwissenschaftlers mit all seinen Zweifeln, Ängsten und innerer Zerrissenheit durchgeführt. Dank einer brillanten schauspielerischen Leistung Cillian Murphys sieht und spürt der Zuschauer hautnah sowohl seine Tränenfreude als auch seine Unruhe und inneren Konflikte sowie seine Schuldgefühle, als er erfährt, dass die Bombe auf die japanischen Städte abgeworfen wurde. Dank der innenperspektivischen Erzählweise ist der Zuschauer imstande, ihn und seine Zweifel, sein Ringen mit sich selbst, seine Vorahnung über das Böse, das er gerade entwickelt, und doch immer wieder die Hoffnung, dass seine Entdeckung jedoch zukünftige Kriege ausschließen würde, nachzuvollziehen.
Als ob man sich in seinem Kopf befände, wird man von bemerkenswerten Weltallbildern eines Visionärs, in denen die Atome sich permanent spalten und chaotisch bewegen, überwältigt. Allerdings findet hier keine Verschmelzung von Quantenphysik und Relativitätstheorie wie bei Interstellar statt, sondern deren paralleles Co-Existieren in Form von Robert Oppenheimer und Albert Einstein, die zwar an einem Ort (Princeton) arbeiteten, dennoch – aufgrund Einsteins klar ausgedrückter moralischer Bedenken – keine Fusion eingingen.
Bei der Filmstelle, in der der Trinity-Test durchgeführt wird, erreicht die Spannung eine gigantische Dimension. Man hat die ganze Zeit den Eindruck, jeden Augenblick werde etwas Tragisches passieren, auch wenn es erfolgreich verläuft. Durch die enorm dramatische Stimmung bekommt das Publikum die ganze Zeit das Ungute deutlich zu spüren. Am schrecklichsten und zugleich am eindrucksvollsten wird »die glänzend purpurrote«, von radioaktivem Staub schwarz gewordene Wolke, von der im Buch von Bird und Sherwin berichtet wird, dargestellt. Erst Schock und Starre. Und dann die Erkenntnis in Oppenheimers Augen. Denn letztendlich ist die Atombombe zum Inbegriff des Bösen geworden!
Durch die Figuren der Wissenschaftler im Labor, ausgerüstet mit merkwürdig aussehenden, dickverglasten Brillen (vermutlich als Schutz vor der Nuklearstrahlung) hat man das Gefühl, im apokalyptischen Fotoroman von Chris Markers La Jetée aus dem Jahr 1962 gelandet zu sein, der vom Dritten Atom-Weltkrieg handelt, der die Welt komplett zerstörte. Man könnte sich gut vorstellen, dass Christopher Nolan in der Tat in diesen spannungsgeladenen Szenen auf Markers Film anspielt, um die Folgen des Einsatzes von Atomwaffen auf sehr eindringliche Art zu zeigen.
Der Film ist unglaublich laut. Abgesehen davon, dass es ein Blockbuster ist, hat man öfters das Gefühl, dass alles in diesem Film laut schreit, als ob der Film versuchen würde, einen durch folgende Botschaft aufzurütteln: Unsere Welt ist in Gefahr!
Letztendlich hat die Entdeckung der Atombombe die Welt in der Tat unwiederbringlich verändert, und nun muss man eine kollektive Verantwortung dafür tragen. Insbesondere und hoffentlich ist Oppenheimer ein wichtiger Denkanstoß für solche Atommächte, wie Putins Russland, die in den letzten Jahren immer wieder die Welt mit dem Einsatz von Atomwaffen erpressen und somit uns alle in Angst und Schrecken versetzen. Gegen so ein Szenario hat Oppenheimer seit der Entwicklung der Atombombe bis zu seinem Tod mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gekämpft.
Trotz spürbarer Spannung und Tragik zeigt der Film auch atemberaubende Panoramabilder von der Landschaft in New Mexiko, die Oppenheimer sehr geliebt hat und die einen klaren Kontrast zu den zerstörerischen Visionsbildern aus Japan bilden. Aber auch magische Visionsbilder Oppenheimers aus dem Weltall, die Präsenz der Kunstbilder im Film, seine Affinität zur Poesie und Musik und sein Liebesleben (auch wenn nicht besonders ausführlich) werden hier dem Publikum vor Augen geführt und zeugen von Robert Oppenheimers Vielseitigkeit und seinem geistigen Reichtum. Zudem visualisieren sie seine Ideen, dass die Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften unbedingt brauchen, »um ihr eigenes Wesen wie auch die Folgen eigener Entdeckungen zu verstehen«.