Nymphomaniac 1

Nymphomaniac Volume 1

DK/D/F/B/GB 2013 · 117 min. · FSK: ab 16
Regie: Lars von Trier
Drehbuch:
Kamera: Manuel Alberto Claro
Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgård, Stacy Martin, Shia LaBeouf u.a.
Komödie & Therapiefilm zugleich

Eros und Kulturpessimismus

»Im Grunde warten wir nur auf die Erlaubnis zu sterben«: Lars von Triers sexuelle Passi­ons­ge­schichte

Der dänische Regisseur Lars von Trier macht es einem nicht leicht. Aber wozu auch? Wer hat denn behauptet, dass es einem die Kunst leicht machen sollte? Immerhin, daran kann kaum Zweifel bestehen, macht es der Däne seinen Zuschauern auch nicht schwerer, als sich selbst – jeder seiner Filme ist zual­ler­erst ein Trip in unbe­kanntes Terrain, ein Stück Selbst­er­fah­rung und Selbst­ex­pe­ri­ment, das sehr wenig von eitler Nabel­schau hat. Im Gegenteil erlebt man in jedem Lars von Trier-Film einen Regisseur, der das sichere Gelände verlässt, auf dem es sich so viele seiner Kollegen wohlig einge­richtet haben, und das bei denen von der ewigen Wieder­ho­lung des Immer­glei­chen geprägt ist: Bei Almodovar ist immer alles schrill­bunt und katho­lisch, bei Mike Leigh grau und depressiv, und wer einen einzigen Kauris­mäki-Film gesehen hat, hat alle gesehen, und weiß, was ihn erwartet – so wie es kaum einen Petzold-Film ohne Nina Hoss gibt. Mit bewährten Darstel­lern, denen er vertraut, und die er am Set gern sieht, dreht aller­dings auch von Trier immer wieder.

»Führe mich!« – ein bisschen wie von Teufels Gnaden klingt sie ja, die Stimme von »Rammstein«, der Ost-Berliner Schocker-Band unter Fascho-Verdacht, mit deren Song Lars von Trier seinen neuen Film einleitet, oder soll man sagen: seinen neuesten hölli­schen Spaß? »Führe mich!« – das kann so vieles meinen, die Sehnsucht nach einem poli­ti­schen Herrn und Gebieter, aber auch die Einladung zu sado­ma­so­chis­ti­schen Sexspiel­chen.

Und das war es wohl, was man vor allem erwartete, als vor zehn Tagen bei der Berlinale Nympho­ma­niac Volume 1 Premiere hatte, der erste Teil von Lars von Triers Film­spek­takel. Wohl­plat­zierte Trailer, wohl­do­sierte Skan­dal­bilder und Nach­richten hatten den Medien­be­trieb bereits vorab über Monate gefüttert und die Erwar­tungen ebenso nach oben geschraubt, wie fast schon wieder etwas ermüdet: Lars von Trier, jenes Regis­seurs-Enfant-Terrible aus Dänemark, würde diesmal also einen Porno drehen, hatte die Welt vernommen, ein »richtigen«, was immer das ist, also echter Sex und so, mit Darstel­lern, die nicht mehr so tun als ob, sondern richtig mitmachen. Auch das war schon da gewesen, spätes­tens bei Andy Warhol vor knapp 50 Jahren, und jeder Teenager hat so was schon längst im Internet gesehen – wer wollte, konnte also Schlimmes befürchten: Einen wich­tig­tue­ri­schen Kunst­porno, der Barri­kaden einrennt, die schon unsere Großväter geräumt haben.

Das konnte man befürchten, musste man aber nicht, denn Lars von Trier ist viel zu klug für derart post­pu­ber­täre Späße. Er, der seit über 20 Jahren den europäi­schen Auto­ren­film durch­ein­an­der­wir­belt, mit »Dogma 95« einst eine ganze Kinowelle erfand, später dann mit Dogville, Anti­christ und Melan­cholia immer wieder neue Meis­ter­werke schuf, ist auch viel zu neugierig und unruhig, viel zu sehr daran inter­es­siert, mit sich selbst zu expe­ri­men­tieren, als das ihn solche Sachen ernsthaft inter­es­sieren würden.

Und so war es denn auch: Einmal mehr hat Lars von Trier einen typischen Lars-von-Trier-Film gedreht, also ein hoch­äs­t­he­ti­sches, ausge­klü­geltes Spiel mit Refe­renzen aus der Kunst- und Geis­tes­ge­schichte. In deren Zentrum steht die kunstvoll gebaute Passi­ons­ge­schichte einer jungen Frau – manchen gilt von Trier zwar immer noch als Frau­en­feind, aber auch dies ist eher ein primi­tives Klischee, das seine Schau­spie­le­rinnen auch nicht zu teilen scheinen. In diesem Fall sind es Charlotte Gains­bourg – die jetzt bereits zum dritten Mal bei von Trier auftritt, nach der Haupt­rolle in Anti­christ und der Neben­rolle in Melan­cholia nun auch in der letzten, zwei­tei­ligen Folge seiner »Trilogie der Depres­sion« –, Stacy Martin und Uma Thurman.

Martin spielt die junge, Gains­bourg die ältere Heldin, eine Frau namens Joe, die nicht mehr ganz junge Frau zu Beginn des Films offen­sicht­lich zusam­men­ge­schlagen auf der Straße aufge­lesen wird. Auch sonst sieht sie sehr mager und schlecht aus. Diese Frau erholt sich bei Seligman und erzählt ihrem Samariter ihre Geschichte: Dieser Mann ist ein einsamer Alter namens Seligman, der in einer kleinen, lang­wei­ligen und häss­li­chen Wohnung lebt, und offenbar nicht nur viel von Musik versteht, sondern auch ein großes Herz hat. Stellan Stars­gaard spielt ihn, und mitunter könnte er sich doch noch als Priester entpuppen, mitunter als Dämon. Der ältere Mann wird zum Zuhörer, zum welt­li­chen Beicht­vater für Joe. Schnell ist klar, dass Joe ein über­mäch­tiges Rede­be­dürfnis hat, dass sie sich erleich­tern will, dass sie unter einem tiefen Schuld­ge­fühl leidet, sich in Selbst­be­zich­ti­gungen und Selbst­be­schimp­fungen ergeht – Dosto­je­wski kommt einem hier ebenso in den Sinn, wie stali­nis­ti­sche Schau­prozesse, und die Couch des Doktor Freud. Es hat etwas tief Thera­peu­ti­sches, wenn Seligman ihrer Geschichte zuhört, sie allein durch Reden schon Ruhe findet – so als ob das Ausspre­chen einer Sache allein beruhigt und tröstet.

Zugleich geht es im Kino ums Zeigen, und die unaus­ge­spro­chene Paradoxie von Nympho­ma­niac ist, dass der Film, die Dinge, die Seligman sich nur vorstellen kann, den Worten entreißt und für uns im Publikum sichtbar macht. Erzählung – und um das Erzählen, darum, wer eigent­lich im Besitz einer Geschichte ist, geht es hier: »That’s the way, the story goes. And: I am the one telling it. You wanna hear it, or not?« – wandelt sich in Erschei­nung. Dabei gibt es alles zu sehen: Diverse sexuelle Praktiken, in expli­ziter Form. Denn es ist dies die Geschichte einer Nympho­manin, einer sexsüch­tigen Arzt­tochter. Was sie sucht, ist bis zum Ende nicht ganz klar, wohl auch ihr selber – hinzu kommt, dass es bislang ja nur den ersten Teil gibt.

Porno­gra­phisch sind tatsäch­lich einige Szenen – jeden­falls im Sinne des Gesetzes, nach dem Porno­gra­phie dann vorliegt, wenn primäre Geschlechts­teile des Menschen in Aktion gezeigt werden. Ande­rer­seits ist das alles andere als lustvoll und Lust-erregend, auch wenn man manch schöne Menschen im Bett bei der Sache sieht.

Diese Form ist der vermeint­liche Skandal des Films. Porno­gra­phie ist für von Trier ein Bild­mittel der Entgren­zung, der Über­schrei­tung von Grenzen, zugleich der Selbst­auf­he­bung. Denn Porno­gra­phie a la von Trier ist kaum stimu­lie­rend, sie bana­li­siert – und verliert so ihren Sinn. Zumindest die erste Hälfte des auf insgesamt fünf Stunden ange­legten Films ist insofern eine »education senti­men­tale«, eine »Erziehung der Gefühle« zwischen Erregung und Verzweif­lung, voller histo­ri­scher und kultu­reller Bezüge von der Bibel bis zu Tausend­und­einer Nacht, die vorher­sehbar in Gefühl­lo­sig­keit – durch Überdruss – mündet: »Ich kann nichts fühlen, nichts« klagt Joe am Ende des Films.

Vor allem aber ist der Sex trotz des vielen Geredes und Gezeiges nicht die Haupt­sache: Statt Eros geht es mehr um Thanatos, den Tod, den kleinen und den großen am Ende des Lebens. Sex ist in diesem Film ein Mittel zur Beschleu­ni­gung des Endes, und auch dazu, uns bis zum Ende etwas die Zeit zu vertreiben. »Im Grunde warten wir nur auf die Erlaubnis zu sterben.« heißt es an zentraler Stelle.

Ansonsten inter­es­sieren von Trier Zahlen-Mystik, Kabba­listik, die Existenz-Philo­so­phie von Kier­ke­gaard und die Natur­wis­sen­schaft von Pytha­goras und die Musik von Schosta­ko­witsch und Johann Sebastian Bach. Das Ganze ist nach Kapiteln geordnet, recht säuber­lich hat Uma Thurmann einen Auftritt als Melo-Zicke, geht es dann a la Poe – »Fall of the House of Usher« – um das Delirium tremens und das Sterben des Vaters von Joe, ein schreck­li­ches Sterben, über das nur Sex in der Leichen­halle tröstet,

Zugleich ordnet Joe ihre eigenen Erleb­nisse in Formen, in Typen. Darin erinnert Nympho­ma­niac an den »gött­li­chen Marquis« de Sade, der in seinem Werk auch jede sexuelle Möglich­keit durch­spielt, als könne man sie nur dadurch bannen. Das Obszöne dieses Films, in dem die Depres­sion unter­gründig immer präsent ist, liegt daher nicht im Zeigen, und schon gar nicht darin, Sex von Liebe abzulösen, sondern darin, ihn von der Lust zu trennen. Nympho­ma­niac ist ein lust­feind­li­cher anti­he­do­nis­ti­scher Film, indem Sex hier überhöht und zum Mittel degra­diert wird, indem ihm Verant­wor­tung aufge­bürdet wird. Sexua­lität als Mittel zur Wahrheit, zum Gött­li­chen und Joe als Gott­su­cherin.
In der Behaup­tung, dass der »kleine Tod« den großen bereits enthält, entlarvt sich Lars von Trier als Moralist des Sexuellen, der einmal mehr – bei allen Skrupeln, in aller Verzagt­heit – davon überzeugt ist, seiner Zeit voraus zu sein, und ihr die Leviten liest. So unter­nimmt von Trier keinen Exor­zismus, sondern eine verhal­tens­psy­cho­lo­gi­sche und kultur­his­to­ri­sche Studie über den Eros und den Sinn des Daseins. Mit kultur­pes­si­mis­ti­scher Volte: In Gestalt von Seligman trifft das alte Europa auf die junge Gene­ra­tion der unge­bil­deten Barbaren.

Viel­leicht, so denkt man irgend­wann, ist Sex zurzeit einfach ein bisschen über­schätzt, auch von Lars von Trier, viel­leicht sollte man Sex zumindest nicht meta­phy­sisch überhöhen, und sei es nur als Teufels­werk, sondern einfach als normale Möglich­keit des Menschen akzep­tieren, und ihm nicht aufbürden, Mittel zur Selbst-Erkenntnis zu werden, wie das dieser Regisseur tut.

Sein Film bleibt aber so oder so eine faszi­nie­rende Heraus­for­de­rung. Denn mehr als alles andere ist dies eine Komödie. Manchmal eine unfrei­wil­lige, aber doch größ­ten­teils eine gewollte.

Wo er sich einfach mokiert, oder sogar so lustig sein will, dass es wieder ernst wird, da ist Nympho­ma­niac ein Manifest gegen die Liebe – von ihrer »Revo­lu­tion gegen die liebes­fi­xierte Gesell­schaft« spricht die Heldin, von der »idio­ti­schen Liebe« –, gegen libertäre Moral und gegen die Sex-Beses­sen­heit der Gegen­warts­ge­sell­schaft. Zugleich verfällt der Film dieser natürlich auch und verspottet alle konser­va­tiven Moral­vor­stel­lungen.

Am Schluss steht einer­seits das olym­pi­sche – aufklä­rend-spöt­ti­sche – Gelächter einer gött­li­chen Komödie, und ande­rer­seits eine ganz anmutige, fast naive Ode an die Schönheit, wie sie in Bachs Lied »Ich ruf zu Dir, oh Jesu Christ!« erklingt:

Orgeln wie Bach

Das dänische Enfant terrible Lars von Trier tritt mit Nympho­ma­niac erneut an die Welt, um zu scho­ckieren. Bereits seit dem Bekannt­werden des äußerst spre­chenden Titels seines neuesten Films – der die Provo­ka­tion bereits in seiner Schreib­weise trägt – rätselt die gesamte cinephile Welt darüber, was für einen Brocken der depres­sive Meister uns diesmal vorsetzen wird. Schwer vorstellbar, dass sich der Provo­ka­ti­ons­grad des bisher extremsten von-Trier-Werks Anti­christ noch einmal wesent­lich steigern ließe. Umgekehrt fragt sich auch, wer wirklich eine Stei­ge­rung zu einem Film sehen will, der den Begriff des „Torture-Porn“ so wörtlich nahm, wie kein anderer Film zuvor. Ganz konkret: Was sollte ein Film, der zudem explizit ein Kunstfilm sein will, noch Unan­ge­neh­meres zeigen, als Groß­auf­nahmen genitaler Vers­tüm­me­lung? Die Antwort: Diesmal scho­ckiert von Trier damit, dass er entgegen allen Ansagen und Erwar­tungen einfach einmal einen relativ leichten Spielfilm macht. Dies gilt aller­dings nur im Kontext des filmi­schen Kosmos' dieses Regis­seurs und streng­ge­nommen auch nur für Nympho­ma­niac 1.

Der Film beginnt mit Impres­sionen aus einem Hinterhof in einem aus rotem Backstein erbauten Häuser­kom­plex. Der fast idyl­li­sche Eindruck wird jäh durch überlaute Musik von Rammstein zerstört. Kurz darauf blickt die Kamera auf eine wie tot am Boden liegende Frau (Charlotte Gains­bourg). Ein Mann (Stellan Skarsgård), der sich später als Seligman vorstellt, entdeckt diese Frau, deren zerschla­genes Gesicht Zeuge eines brutalen Über­griffs ist. Seligman nimmt sie zu seiner nah gelegenen Wohnung mit und sorgt dafür, dass sie sich dort langsam erholen kann. Auf einem Bett liegend erzählt die Frau, deren Name Joe ist, Seligman ihre gesamte Lebens­ge­schichte. Sie sei ein schlechter, unmo­ra­li­scher Mensch, denn sie ist eine zwang­hafte Nympho­manin. Seligman seiner­seits offenbart sich als quasi asexuell. Er hatte noch niemals Sex. Seine große Leiden­schaft sind die Bücher. Er stellt die bizarren Geschichten Joes in einen größeren geistigen Zusam­men­hang. Wo Joe nur ihre krank­hafte Sexsucht und die daraus resul­tie­rende Zers­tö­rung vieler Leben sieht, erblickt Seligman Fibonacci-Zahlen, Bachsche Fugen und den funda­men­talen Unter­schied zwischen der West- und der Ostkirche.

Nympho­ma­niac ist in acht Kapitel unter­teilt, wovon auf den ersten Teil die ersten fünf und auf den zweiten die letzten drei Teile entfallen. Diese Zahlen tauchen in umge­kehrter Reihen­folge als gewaltige, das Bild über­la­gernde Ziffern auch innerhalb der Film­hand­lung auf. 3 + 5 steht in Nympho­ma­niac 1 für die jeweilige Anzahl vaginaler und analer Stöße bei Joes von ihr selbst erbetener Entjung­fe­rung. Und 3 + 5 steht in Nympho­ma­niac 2 für den Akt desselben Mannes mit einer anderen Frau, den Joe im Dreck liegend als ulti­ma­tive Demü­ti­gung mit ansehen muss. Haben diese Zahlen eine tiefere Bedeutung? Seligman zur Folge haben sie es in der Tat. Es handelt sich um Fibonacci-Zahlen. Diese Ziffern­folgen finden sich in der gesamten Natur und werden oft als Anzeichen einer alles umspan­nenden kosmi­schen Ordnung gedeutet. Gibt es deshalb auch einen Zusam­men­hang zwischen Joes Entjung­fe­rung und den Fibonacci-Zahlen in der Natur? Den gibt es selbst­ver­s­tänd­lich nicht, da eine vaginal-anale Entjung­fe­rung kein Ausdruck geome­tri­scher Gesetz­mäßig­keiten, sondern schlicht ein sexueller Akt ist.

Weshalb findet sich dann dieser Schein­zu­sam­men­hang in diesem Film? Die filmim­ma­nente Erklärung lautet, dass dieser Zusam­men­hang von Seligman herge­stellt wird, da dieser zwar einige Ahnung von abend­län­di­scher Geis­tes­ge­schichte, jedoch gar keine Ahnung von Sex hat. Doch Seligman stellt – ebenso, wie Joe – zugleich ein Alter Ego des Regis­seurs dar. Deshalb lautet die allge­mei­nere Erklärung, dass Lars von Trier hier eine gedank­liche Tiefe vorzu­geben versucht, wo in Wirk­lich­keit nur heiße Luft vorhanden ist. Passt solch eine Vorge­hens­weise zum Charakter dieses Künstlers? Absolut! Von Trier sagt: »Ich möchte immer besser sein als alle anderen. Wenn aber auch nur die Möglich­keit besteht, dass jemand anders besser ist, verkrü­mele ich mich lieber. Deswegen mache ich auch so merk­wür­dige Filme. Wenn jemand etwas Ähnliches machen würde, hätte ich viel zu viel Angst, dass die Leute seine Filme womöglich besser finden könnten als meine.« (aus einem Interview mit dem Filme­ma­cher auf Spiegel-Online vom 31. August 2009).

Dabei gibt es durchaus sehr gelungene künst­le­ri­sche Beispiele für den Versuch das absolut Banale mit meta­phy­si­schen Betrach­tungen kurz­zu­schließen. In einer seiner Kurz­ge­schichten beschreibt Henry Miller – zu seiner Zeit ein ähnliches Enfant terrible der Literatur, wie von Trier heute für den Film – das erhebende Gefühl in einem Pariser Pissoir zu urinieren. Und während er dort so entzückt am Pinkeln ist, schweifen seine Gedanken zu der Stellung des Menschen im Universum. Oder Jean-Luc Godard: Ihm gelingt in Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß (1967) eine Szene großer Schlicht­heit, Tiefe und Poesie: In einer Bar gerät der Regisseur als omni­prä­senter Erzähler ins Philo­so­phieren, als eine Tasse Kaffee umgerührt wird. Die Kamera nähert sich so weit dem durch einen Löffel in Bewegung gebrachten Getränk, dass der helle Milch­schaum vor dem schwarzen Kaffee-Grund plötzlich wie ein krei­sender Spiral­nebel im Universum erscheint. So wird mit spie­le­ri­scher Leich­tig­keit ein Zusam­men­hang zwischen Mikro- und Makro­kosmos herge­stellt, der die von Godard gemachten Aussagen unter­streicht.

Die einzige Episode in Nympho­ma­niac 1, in der von Trier eine annähernd ähnlich starke Analogie zwischen zwei vonein­ander getrennten Welten gelingt, ist zugleich der Höhepunkt des ersten Teils. In Kapitel 5: The Little Organ School werden die drei Stimmen eines Bach-Chorals – Bass, Mittel­stimme und Cantus firmus – mit drei verschie­denen Lieb­ha­bern von Joe gleich­ge­setzt, um ihr spezi­elles Lebens­ge­fühl als Nympho­manin zu veran­schau­li­chen. Es geht ihr demzu­folge nicht nur darum, mit möglichst vielen unter­schied­li­chen Personen Sex zu haben, sondern darum, wie sich die Erleb­nisse mit verschie­denen Partnern für sie zu einem größeren Ganzen verbinden. Dieses größere Ganze ist für Joe das Wesen ihrer Nympho­manie. Das ergibt nicht nur Sinn, sondern wird zudem derart unver­krampft und lustig darge­boten, dass man von Trier gerne folgen mag. Sehr gelungen ist innerhalb dieser Episode die Szene, in der Joe einen ihrer Liebhaber loszu­werden versucht, da bald der nächste kommt. Der Abge­wie­sene kehrt nicht nur kurz darauf mit gepackten Koffern zurück, sondern wird zudem von seiner verlas­senen Ehefrau (Uma Thurman) und ihren drei Kindern verfolgt. Die Szene, welche diese Mrs. H anschließend in Joes Wohnung veran­staltet – immer die armen Kinder als Druck­mittel miss­brau­chend – ist so grotesk wie schreiend komisch.

Nympho­ma­niac 1 ist ein für von Trier unge­wöhn­lich leicht­füßiger Film, bei dem nur die Rahmen­hand­lung immer wieder daran erinnert, dass wohl nicht bis zum Ende alles so unbe­küm­mert bleiben wird. Die Konstel­la­tion mit der ihren Trieben ergebenen Joe und dem völlig verkopften Seligman entspricht hierbei der Vertei­lung der Frauen- und Männer­rolle in Anti­christ. Dort ist die Mutter ebenfalls die voll­kommen Emotio­nale, in der Erde Verwur­zelte, während der Vater ein ratio­naler Analy­tiker ist. In einer Szene von Nympho­ma­niac 2 wird Anti­christ derart explizit zitiert, dass die Spannung bei Vorhan­den­sein eines entspre­chenden Vorwis­sens sogar noch steigt. Nympho­ma­niac ist ein Meta-von-Trier-Film. Das bedeutet aller­dings auch, dass der Regisseur entgegen dem, was der erste Teil verspricht in, Nympho­ma­niac keine wirklich neuen Wege beschreitet, sondern nur spie­le­risch seine bekannten Themen neu variiert. Deshalb muss der Spaß in Nympho­ma­niac 2 aufhören. Schließ­lich muss auch irgendwie eine emotio­nale Über­lei­tung zu der sich in Selbst­hass erge­henden und mit blut­ver­krus­tetem Gesicht ihre Geschichte erzäh­lenden Joe geschaffen werden.

So wird Nympho­ma­niac im zweiten Teil zu der Geschichte des Marty­riums einer weib­li­chen Prot­ago­nistin, wie sie von Trier seit Breaking the Waves (1996) immer wieder erzählt. Das Problem ist nur, dass diese Formel diesmal nicht deckungs­gleich mit dem Hand­lungs­ver­lauf ist. Dieser Konflikt wird in Nympho­ma­niac 2 unüber­sehbar und zerreißt am Ende nicht nur diesen zweiten Teil, sondern den gesamten zwei­tei­ligen Film. Eigent­lich ist Nympho­ma­niac die Geschichte einer Art von Thera­pie­sit­zung, bei welcher der voll­kommen neutrale – weil voll­kommen asexuelle – Seligman Joe nach und nach hilft sich von ihren Schuld­kom­plexen zu befreien. So erscheint zum Schluss sogar ein schwacher Licht­schein an der Wand, der sich irgendwie seinen Weg in das ansonsten völlig düstere Apartment gebahnt hat. Doch als der Film eigent­lich bereits zu Ende ist, fällt von Trier plötzlich ein, dass er bisher noch niemanden so richtig provo­ziert hat. Deshalb klatscht er schnell ein zweites Ende an den Film, welches so will­kür­lich und so schlecht ist, dass es den ganzen zwei­tei­ligen Film mit sich in den Abgrund reißt.

Nympho­ma­niac ist ein episches und einzig­ar­tiges Werk, dem man nur mit Fibonacci-Zahlen wirklich gerecht werden kann: drei Momente der Inspi­ra­tion und fast fünf Stunden der Präten­tion ergeben zusammen acht durch­wach­sene Kapitel sexueller Tran­spi­ra­tion.