Les Misérables

Großbritannien 2012 · 158 min. · FSK: ab 12
Regie: Tom Hooper
Drehbuch: , , ,
Kamera: Danny Cohen
Darsteller: Hugh Jackman, Russell Crowe, Anne Hathaway, Amanda Seyfried, Sacha Baron Cohen u.a.

Rote Fahnen küssen besser

Es fängt ganz laut an. Und wird dann immer lauter: Schiffe in einem Hafen; heftiger Sturm ist aufge­zogen und ein Gefan­ge­nen­chor setzt ein. Männer an Ketten singen mit lauten Stimmen gegen die Böen an, die Kamera schwur­belt über ihre Köpfe hinweg, wie hin- und herge­rissen von Wind­s­tößen. Dann schwenkt der Fokus in die Höhe, zoomt heran, und dort auf dem Hafenkai trohnt ein Einzelner hoch über den Unglück­li­chen: Es ist Inspektor Javert, berüch­tigt und gefürchtet, der Mann ohne Vornahmen, der Bösewicht dieses Films.

So setzt Les Miséra­bles ein. Wie das Musical, das ihm zugrun­de­liegt, wie Victor Hugos »Die Elenden«, der Roman, auf dem beide basieren, handelt er im Kern von der Rivalität zweier Männer, die in ihrem Schicksal anein­an­der­ge­kettet sind, wie die Sklaven an die Galeere, und von der Erlösung, die ihnen beiden erst der Tod bieten wird.

Tom Hoopers Verfil­mung dieses Musi­cal­welt­er­folgs war acht Mal für den Oscar nominiert und dreimal siegreich. Dies ist auch seit langem wieder einmal ein Film, der mit Fug und Recht die Bezeich­nung Monu­men­tal­film verdient. In jeder Hinsicht, mit allen Vor- und Nach­teilen: Also unbedingt »bigger than life«, also voller Pathos­gesten, bewegend, mitreißend, intensiv, wohltuend emotional, erschre­ckend senti­mental, kitschig, dick aufge­tragen, immer etwas zu überdreht, immer 120 Prozent gebend, auch da wo 100 schon zuviel wären, hoch­gradig unter­haltsam und hoch­gradig unbe­scheiden – aber kein pures Eska­pis­mus­kino. Zu allererst ein Melodram, in dem es um kris­tall­klare große Gefühle geht, aber auch eine leiden­schaft­liche Vertei­di­gung der Unter­drückten, die Geschichte eines Recht­losen in einer Gesell­schaft, die brutal ist.

Und darin ist Hugos Stoff dann unbedingt modern: In der Anklage von Ausbeu­tung und Ungleich­heit, von der unmensch­li­chen Gerech­tig­keit mora­li­scher Mathe­ma­tiker, in der Forderung nach Soli­da­rität: »Do you hear the people sing? Singing the song of angry men?«

Wutbürger anno 1832

Die eigent­liche Handlung ist schnell erzählt: Nach 19 Jahren Haft kommt Jean Verjean (verkör­pert vom virilen Hugh Jackman) frei, wird aus Not schnell wieder zum Dieb und erst dadurch geläutert, dass ihn ein Priester nicht denun­ziert. Nun tut er Gutes, steigt zum Wohltäter und geach­teten Bürger auf im nach­na­po­leo­ni­schen Paris. Doch als ihn sein alter Gefäng­nisscherge Javert (würdevoll von Russel Crowe gespielt) wieder­er­kennt, und wegen Verlet­zung der Melde­pflicht und falscher Identität anklagt, muss er fliehen. Rührend kümmert er sich wie ein Vater um das Waisen­kind Cosette (Amanda Seyfried), deren Mutter Fantine (Anne Hathaway) er am Totenbett ein Verspre­chen gab – dabei wird er immer verfolgt vom so sturen wie fiesen Javert. Schließ­lich muss er sich, mitten in den Wirren der Aufstände von 1832 gegen die Juli­mon­ar­chie, seiner Vergan­gen­heit stellen...

1815, 1823, 1832 – das sind die wesent­li­chen Stationen von Victor Hugos Roman, den der Autor 1862 veröf­fent­licht hat, also 30 Jahre nach der Handlung, im nost­al­gie­ge­tränkten Rückblick auf die auch eigenen wilden Jahre des nach­na­po­leo­ni­schen Zeit­al­ters. Die Barrikade von 1832 und die von der Natio­nal­garde blutig nieder­ge­schla­gene Revo­lu­tion steht im Zentrum. Die Handlung bei Hugo wie bei der von Trevor Nunn und Claude-Michel Schönberg stark bear­bei­teten Musi­cal­ver­sion ist mora­li­sie­rend und bietet eine religiöse Deutung dieser Revo­lu­tion.

Entschei­dend ist aber nicht dieser dick aufge­tra­gene Kolpor­ta­ge­stoff, entschei­dend ist die noch viel dicker aufge­tra­gene Musik, die in diesem Fall von den Darstel­lern selbst im Sprech­ge­sang, nicht immer musi­ka­lisch sicher, aber darstel­le­risch ausdrucks­voll intoniert wird. Es sind Gassen­hauer, ja. Aber eben gute Gassen­hauer.

Hooper insze­niert alles so kurz­weilig wie bombas­tisch. Mit knapp drei Stunden wird das Musical kaum gekürzt. So reiht sich ein Gassen­hauer an den nächsten. Ein beson­derer Höhepunkt sind dabei jene Passagen, in denen zwischen all den großen Gefühlen auch Humor und Ironie möglich sind: Wenn Helena Bonham Carter und Sasha Baron Cohen als nieder­träch­tiges, nur auf Profit schee­lendes Klein­bürger-Wirts-Paar auftreten: – »Master of the house/ keeper of the zoo« heißt das dazu­gehö­rige Lied. Visuell ist alles prächtig insze­niert, und Hooper malt auch den Dreck der Epoche, die Häss­lich­keit des Elends und der schlechten Zähne mit allen Farben aus.

Nur manchmal spürt man, dass der Regisseur seiner Story selbst nicht ganz glauben kann: Seine Verfil­mung ist nach über 20 Vorgän­gern einer­seits klassisch in ihrem Ernst und ihrer Werktreue, zugleich post­mo­dern in ihrer unge­heuren Effek­ti­vität. Ein Film, den man unbedingt empfehlen kann: Für die Musi­cal­fans verläss­lich, für die Kino­lieb­haber, die nicht nur Auto­ren­filme gucken, eine Erin­ne­rung an alte Zeiten. Und für alle, das was man im Engli­schen eine guilty pleasure nennt: Man weiß dass es an die eigenen niederen ästhe­ti­schen Instinkte appel­liert, aber manchmal ist das auch sehr gut so. Auch das ist Kino im ureigenen Sinn.