Kroko

Deutschland 2003 · 98 min. · FSK: ab 12
Regie: Sylke Enders
Drehbuch:
Kamera: Matthias Schellenberg
Darsteller: Franziska Jünger, Alexander Lange, Hinnerk Schönemann, Danilo Bauer u.a.
Kroko in einer anderen Welt

Auf dem Weg der Besserung

So wie das Leben in all seinem Arten­reichtum nur aus wenigen Grund­bau­steinen besteht, begnügt sich auch das Kino mit einer minimalen Anzahl von Ausgangs­si­tua­tionen, die durch endlose Variation die täglich zu bewun­dernde Vielfalt hervor­bringt. »Boy meets girl« gehört zu der filmi­schen »DNA« ebenso wie »Gut (Held) gegen Böse (Schurke)« oder die Bewäl­ti­gung von Problemen, Heraus­for­de­rungen und Aben­teuern.

Ein sehr häufiges und zugleich sehr schwie­riges Grund­motiv ist der kathar­ti­sche Film, in dem der Wandel eines Menschen (zum Besseren?) gezeigt wird. Bärbeißige Alte entdecken freund­liche Züge durch aufgenö­tigte Kinder; Rassisten und Homophobe legen ihre Vorbe­halte durch die Konfron­ta­tion mit der entspre­chenden Rand­gruppe ab; Krimi­nelle, Menschen­hasser, Nörgler, Zyniker und sonstige inkom­pa­tible Charak­tere werden durch den (erzwun­genen) Umgang mit schwachen, braven und redlichen Menschen zu nütz­li­chen Mitglie­dern der Gemein­schaft.

Solche Geschichten bergen für den Kino­freund große Gefahren. Da lauert der Kitsch, dort der erhobene Zeige­finger, Pathos tropft aus allen Ecken, Ober­lehrer schwingen die mora­li­sche Keule, zwei­fel­hafte Ideo­lo­gien und Wert­vor­stel­lungen werden einem aufgenö­tigt, das Kino wird zur Besse­rungs­an­stalt und das nicht nur für die Figuren auf der Leinwand, sondern scheinbar auch für den unbe­darften Zuschauer.

Um so löblicher ist es deshalb, wenn ein Film dieses Genres diese ganzen Nega­ti­vas­pekte nicht (oder zumindest fast nicht) aufweist und auf ehrliche und unvor­ein­ge­nom­mene Weise die Verän­de­rung eines Menschen (die ja durchaus spannend sein kann) zeigt. Noch erwäh­nens­werter ist es, wenn ein solcher Film aus Deutsch­land kommt, denn gerade hier wird das Kino zu oft als mora­li­sche Insti­tu­tion miss­ver­standen und miss­braucht. Nahezu ein Wunder ist es, wenn dieser gelungene Film auch noch mit schlichten tech­ni­schen Mitteln auskommt, denn ohne formale Raffi­nesse präsen­tiert sich so manches schwie­rige Thema noch unge­schützter, was in der Regel heißt, noch spröder, noch beleh­render, noch abwei­sender.

Kroko ist der knappe Titel des Films, dem dieses Kunst­stück gelingt und Kroko ist auch der (Spitz)Name der 16jährigen, weib­li­chen Haupt­figur. Was immer man der heutigen Jugend vorwirft, auf Kroko trifft es zu. Zusammen mit ihrer Clique lebt sie im tristen Berlin-Wedding, bessert ihre finan­zi­elle Lage mit Klein­kri­mi­na­lität auf, zeigt nicht das geringste Interesse an Arbeit, einer Ausbil­dung oder überhaupt einer produk­tiven Aktivität, verwei­gert den Menschen außerhalb ihres Freun­des­kreis so ziemlich jede Kommu­ni­ka­tion und legt als allge­meine Grund­hal­tung eine gelang­weilt, genervte Muffig­keit an den Tag. Es ist vor allem der Verdienst der Schau­spie­lerin Franziska Jünger, dass man dieser Kroko innerhalb von wenigen Minuten von Herzen zu hassen beginnt.

Als Kroko bei einer illegalen Autofahrt einen Radfahrer verletzt, wird sie zur Ableis­tung von gemein­nüt­ziger Arbeit in einer Behin­derten-WG verur­teilt. Dort trifft sie auf gewohnt links­li­be­rale Betreuer und eine Gruppe von geistig und körper­lich Behin­derten, die ihr eine ganz andere Welt, als ihren bishe­rigen Milieu-Sumpf zeigen und damit zwangs­läufig eine Verän­de­rung Krokos anstoßen.

Das Bemer­kens­werte an diesem Film ist dabei, dass die Verän­de­rung Krokos eben nicht total ausfällt, dass sie ihre negative Haltung vielfach beibehält, dass sich keines­wegs alle Probleme in Wohl­ge­fallen auflösen, dass vielmehr ihre vorsich­tige Verän­de­rung neue Probleme (z.B. mit ihrem Freun­des­kreis) aufwirft. Dabei bewegt sich die Regis­seurin Sylke Enders durchaus in den Bahnen des Genres (was auch kleinere Schwächen mit sich bringt, etwa wenn Kroko in ihrer natür­li­chen Trot­zig­keit scheinbar mehr Vers­tändnis für die Bedürf­nisse der Behin­derten mitbringt als deren Eltern), indem sie etwa Konflikte zuspitzt, »Bewäh­rungs­proben« für Kroko insze­niert und die anderen Figuren sehr eindeutig in Gut und Böse einteilt. Trotzdem verwei­gert sich der Film erfolg­reich den üblichen Genre­kon­ven­tionen und -klischees und bewegt sich gekonnt auf dem schmalen Grad zwischen Künst­lich­keit und Realismus, wodurch echtes Kino und kein abge­klatschtes Fern­seh­spiel entsteht.

Sehr über­zeu­gend ist die menschen­nahe Regie, die sich vor allem in den gelun­genen Dialogen (von lustig bis depri­mie­rend) zeigt und die positiv an Regie­ar­beiten wie die von Andreas Dresen erinnert. Ganz entschei­dend tragen dann auch die Darsteller zum Gelingen von Kroko bei, allen voran Franziska Jünger in der Haupt­rolle. Einzig etwas miss­lungen ist die Rolle von Krokos Freund Eddie, in der Hinnerk Schö­ne­mann über weite Strecken seine Rolle aus Mein Bruder der Vampir (in dem es u.a. auch um das Thema Behin­de­rung ging) wieder­holt. Das Problem (des Drehbuchs? des Schau­spie­lers?) ist, dass dieser Eddie eigent­lich viel zu nett ist, um ihm den Behin­derten verspot­tenden, Frauen schla­genden Krimi­nellen abzu­nehmen.

Viel­leicht ist Kroko aber gerade deshalb so sympa­thisch, weil er eben nicht perfekt ist und ihm mit einer gewissen Leich­tig­keit trotzdem das gelingt, wonach viele teure und makellose Groß­pro­duk­tionen vergeb­lich suchen: das Gute im Menschen und keine »Gutmen­schen« zu zeigen.