Krass

Running with Scissors

USA 2006 · 116 min.
Regie: Ryan Murphy
Drehbuch:
Kamera: Christopher Baffa
Darsteller: Annette Bening, Brian Cox, Joseph Fiennes, Evan Rachel Wood, Alec Baldwin u.a.
Joseph Cross und Evan Rachel Wood

Richtig scheitern

Ein Nachruf auf den Film Krass

Vor einigen Wochen machte im Münchner Maxim das »Festival des geschei­terten Films« Station und zeigte Werke, die in bzw. an der Vermark­tung geschei­tert sind und es weder zu einer Auswer­tung im Kino noch zu einer Ausstrah­lung im Fernsehen gebracht haben. Während sich dieses Scheitern oft durch ungüns­tige Grund­vor­aus­set­zungen rela­ti­viert (ausge­fal­lene Klein- und Kleinst­pro­duk­tionen haben es natur­gemäß schwer), kann man bei einem Film wie dem kürzlich regulär gestar­teten Krass keine derar­tigen Entschul­di­gungen finden, weshalb er in seinem Scheitern die Produk­tionen des Festivals eigent­lich überragt.

Natürlich mag es für einen Regisseur depri­mie­rend sein, wenn sein Film nicht den Weg ins Kino findet, niemand sein Werk somit sehen kann. Aber ist es nicht viel nieder­schmet­ternder, wenn ein Film trotz allge­meiner Beachtung der Presse und nicht uner­heb­li­cher Werbe­be­mühungen nach nur einer einzigen Woche Spielzeit wieder (zumindest in München) komplett aus den Kinos verschwunden ist, also niemand ihn sehen will?
Krass hat dieses Schicksal erlitten und wenn man nach den Ursachen für diesen Miss­er­folg sucht, muss man sich zuerst mit seinem Namen beschäf­tigen.

Denn wer einen tenden­ziell intel­lek­tu­ellen Film unter dem schlichten Titel Krass anlaufen lässt, muss sich trotz Werbung und Presse nicht wundern, wenn er voll­kommen an seiner Ziel­gruppe vorbei­schießt. Für die Verblö­dung des Origi­nal­ti­tels Running With Scissors trägt der deutsche Verleih (ausnahms­weise) nur eine (immer noch ausrei­chende) Teil­schuld, da man mit kurz­sich­tigem Blick auf Marketing und mediale Syner­gie­ef­fekte einfach den deutschen Titel der Roman­vor­lage über­nommen hat.
Viel­leicht tickt die Bücher­welt ja ein wenig anders, im Kino aber entscheiden sich die Zuschauer oft aufgrund von Klei­nig­keiten für oder gegen einen Besuch und wehe dem, der hier falsche Erwar­tungen weckt.

Ironi­scher­weise passt dieser dümmliche Titel irgendwie doch zum damit benannten Film, nicht aber, weil er oder das, was er zeigt, tatsäch­lich so »krass« wäre, sondern weil die Dissonanz und Wider­sin­nig­keit zwischen Titel und Film beispiel­haft für seine gesamte Unstim­mig­keit steht.

Krass beruht auf den auto­bio­gra­phi­schen Erin­ne­rungen von Augusten Burroughs, der seine kata­stro­phale Kindheit und Jugend in den 1970er Jahren mit einer ordent­li­chen Portion Humor zu einem viel­be­ach­teten Buch verar­bei­tete.
Mag das, was Burroughs (und nun der Film) erzählt, auch noch so außer­ge­wöhn­lich und unglaub­lich sein, haben sich mir beim Betrachten von Krass doch (zu) viele andere Filme ins Gedächtnis gedrängt, die alle die ein oder andere Parallele zu ihm aufweisen, an die er quali­tativ er aber nie heran­reicht.

Emotio­nelle Scho­nungs­lo­sig­keit im Allge­meinen und schwie­rige bzw. trau­ma­ti­sche Kind­heiten im Spezi­ellen kennt man etwa aus kana­di­schen Filmen wie Leolo oder C.R.A.Z.Y.. Einen heran­wach­senden Außen­seiter mit einer kolla­bie­renden Familie zwischen Geis­tes­krank­heit und Hysterie gab es in Igby. In Der Tinten­fisch und der Wal werden Fami­li­en­zwist, lite­ra­ri­sche Schaf­fens­krisen und emotio­nelle Schwächen muster­gültig vorge­führt. Die Royal Tenen­baums sind eine skurrile Familie, in einem skurrilen Haus und Gwyneth Paltrow spielt die verschro­bene Tochter. Bei Der Eissturm sind die Bezie­hungs­pro­bleme zwar nicht so offen­sicht­lich, dafür aber um so akuter. Requiem For A Dream schildert mit einer kaum zu ertra­genden Inten­sität Themen wie psychi­sche Erkran­kungen und Drogen­miss­brauch.
Auch an die immer obsessiv abgrün­dige Stimmung in den Filmen von Todd Solondz muss man denken. Oder an die weite und absurde Welt der Psycho­ana­lyse im Werk von Woody Allen. Oder (bei jedem Off-Kommentar) an die Fern­seh­serie »The Wonder Years«. Oder, oder, oder...

Sich beim Kino­be­such an andere Filme erinnert zu fühlen ist grund­sätz­lich nicht schlimm. Verhäng­nis­voll ist im vorlie­genden Fall die extreme Unter­schied­lich­keit der gerade aufge­führten Werke. Auch wenn manche äußere Ähnlich­keit bestehen mag, liegen stim­mungs­mäßig zwischen ihnen Welten, die Krass aber glaubt vereinen zu können.

Eine Tragik­komödie, wie sie dem Regisseur Ryan Murphy wohl vorschwebte, ist aber keine cine­as­ti­sche Patent­lö­sung, in der sich Lustiges und Tragi­sches beliebig abwech­seln und sich im Zwei­fels­fall schon eine der beiden Stim­mungen einstellen wird.
Eine Tragik­komödie ist (das zeigen auch einige der oben genannten Filme) vielmehr eine äußerst heikle Ange­le­gen­heit, in der praktisch bei jeder Szene erneut ein schwie­riger Balan­ceakt zu bewäl­tigen ist.

Doch diese Balance fehlt (wie manch zuge­dröhntem oder betrun­kenem Prot­ago­nisten im Film) der Regie, weshalb sie planlos hin und her taumelt, mal vermeint­lich lustig, mal bemüht tragisch, mal zwanghaft skurril, mit dem Ergebnis, dass nichts wirklich zum Lachen ist, dass keine Tragik wirklich schmerzt und dass keine Szene wirklich verstört, ergreift oder verwun­dert.
Der Film verschwimmt zu einem amorphen Brei, in dem (sexueller) Miss­brauch, schwere geistige Krank­heiten, Drogen- und Alko­hol­sucht und zwischen­mensch­liche Grau­sam­keiten, verkleidet in bunte Kostüme, schmis­sige Popmusik und schräge Gestalten gleich­gültig an einem vorüber­ziehen.
Und das trotz guten Darstel­lern, einem ausrei­chenden Budget, allen tech­ni­schen Möglich­keiten und einer inter­es­santen, lite­ra­ri­schen Vorlage.

Es zeigt sich somit: Wahres, echtes Scheitern erwächst nicht aus billigen, kleinen Filmen, die in kein Sende­schema bzw. Verleih­pro­gramm passen, sondern aus großen, teuren Produk­tionen, die nicht aufgrund widriger äußerer Umstände, sondern wegen des eigene Unver­mö­gens allum­fas­send versagen.