Die kommenden Tage

Deutschland 2010 · 130 min. · FSK: ab 12
Regie: Lars Kraume
Drehbuch:
Kamera: Sonja Rom
Darsteller: Bernadette Heerwagen, Daniel Brühl, Johanna Wokalek, August Diehl, Vincent Redetzki u.a.
Spannender Science-Fiction – Weiß der Geier, was in Zukunft sein wird

»Stuttgart 21« im Quadrat

Es wechseln die Zeiten. Nichts altert, heißt es, so schnell wie Science-Fiction. Doch mit diesem Film könnte es sich einmal anders verhalten, und kaum einer, der ihn gesehen hat, wird sich das wünschen. Im Gegensatz zu den aller­meisten Science-Fiction-Filmen wird in Lars Kraumes Die kommenden Tage nicht einfach irgend­eine krude Prämisse gesetzt, eine Invasion von Außer­ir­di­schen, eine tödliche Masse­ne­pi­demie oder der Aufstand von Robotern erfunden, sondern die Gegenwart ganz einfach mit Scharf­sinn und bösem Blick ein bisschen hoch­ge­rechnet: Wie könnte sie aussehen, die Zukunft in zehn Jahren, 2020? Viel­leicht gibt’s ja einen dritten Golfkrieg, der die Saudis mitein­be­zieht, und plötzlich das Öl knapp werden lässt. Die Erder­wär­mung geht weiter, die Flücht­lings­ströme schwellen an, es gibt wieder mal eine Finanz­krise und die Regie­rungen haben endgültig vor popu­lis­ti­schen Versu­chungen kapi­tu­liert. Auch der Wider­stand dagegen nimmt zu, tägliche Massen­demos schaffen viele »Stuttgart 21« – alles nicht allzu unrea­lis­tisch, oder?

In diesem Klima siedelt Kraume seine Geschichte an. Doch diese Krise bildet nur den Hinter­grund, nicht um große Welt­po­litik geht es hier, sondern um den kleinen Rahmen einer großbür­ger­li­chen Familie: Vater, Mutter, drei erwach­sene Kinder. Ziemlich am Anfang gibt es eine Fami­li­en­feier und ein wenig wirkt das alles wie die »Budden­brooks« für unsere Tage: Verfall einer Familie. Susanne Lothar spielt in wenigen tref­fenden Szenen die Mutter, deren Mann sich scheiden lassen will. Im Zentrum steht aber Laura, die zweitäl­teste Tochter. Sie studiert Biolo­gie­ge­schichte, schreibt eine Arbeit über Darwin, und ist daher mit den Tücken der Evolution und den Über­le­benstricks der Natur vertraut. Ihre Schwester Cecilia ist labiler und steht unter dem Einfluß von Konstantin, dessen mora­li­scher Wider­stand gegen die Verhält­nisse schon früh eine fanatisch-ideo­lo­gi­sche Note bekommt. Ihr kleiner Bruder Philip dagegen verpflichtet sich bei der Bundes­wehr und muss in den Krieg. Und Laura selbst, als Erzäh­lerin aus dem Off das ruhige, kluge, sensible, nie auftrump­fende, sondern gelassene Zentrum des Films, ist in den Orni­tho­logen Hans verliebt, einen Aussteiger, der wenn schon nicht die Welt, dann doch die Tiere retten will.

Man könnte sagen, Die kommenden Tage sei der Film zu »Stuttgart 21«: Bürger­li­cher Protest, konser­va­tive Werte, Überdruss, Luxus und Verzweif­lung. Die Gegenwart verhin­dert, an die Zukunft zu denken, die eigene Befind­lich­keit verhin­dert den Gedanken ans Allge­meine. Mit anderen Worten: Schwarz-Grün; Prenzlberg; Bioladen trifft Gutver­diener. Ein bisschen bringt dieser Film solche Haltungen auf den Begriff, zeigt, was aus ihr folgt, vor allem die Wider­sprüch­lich­keit.

Es ist bestimmt nicht wenig, was Kraume, der auch Autor und Produzent des Films ist, und diese seltene Freiheit weidlich nutzt, in seinen neuen Film hinein­pakt. Die kommenden Tage ist zwei­fels­ohne eines der ehrgei­zigsten deutschen Film­pro­jekte der letzten Jahre und manche werden das alles schreck­lich überladen finden, oder einfach ehrgei­ziger, als es einem deutschen Film gebührt. Aber P.T. Andersons Magnolia und Afonso Cuarons Children of Men, die diesen Film spürbar inspi­riert haben, hat man so etwas auch nicht vorge­worfen. Wie einst Robert Altman entfaltet Kraume ein Netzwerk zwischen mehreren Figuren, die er durch das Leben in der beschrie­benen Zukunfts­welt eska­lie­render Krisen begleitet, und relativ gleich­be­rech­tigt behandelt, verbindet Charak­tere um von einer Gesell­schaft oder wenigs­tens einem Milieu zu erzählen.

Alles wird schlecht. Ein Science-Fiction aus Deutsch­land – geht das überhaupt? Es geht. Der Look ist absichts­voll schäbig, Kamera und Schnitt sind stark, fehlerlos und weben einen dichten eindrucks­vollen Bilder­tep­pich. Grundidee und Konzept fügen sich in das neue Interesse deutscher Regis­seure für Genrekino, das unsere Alltags­welt, die Trieb­fe­dern Macht und Geld, die Zeiter­schei­nungen Krise und Terror plötzlich wieder auf die Leinwand zurück­bringt. Und auch wenn man August Diehl und Daniel Brühl nicht mehr als besonders origi­nelle Besetzung empfinden kann, und wenn Johanna Wokalek ein bisschen zu deutlich auf den Spuren ihres – aller­dings tollen – Auftritts als Gudrun Ensslin im Baader Meinhof Komplex wandelt, über­zeugen die Darsteller alle. Am meisten gilt das aber für Berna­dette Heerwagen, die man schon lange aus dem Fernsehen kennt, die in ihrer ersten Kino­haupt­rolle als Laura aber zu der Entde­ckung dieses Films wird. Wenn es mit rechten Dingen zugeht, wird man noch viel von ihr hören.

Kraume zeigt, wie man von der Zukunft erzählen kann, und spiegelt in der Dystopie der zerfal­lenden Gesell­schaft das familiäre Melodram – und umgekehrt. Zugleich handeln Science-Fiction Filme bekannt­lich nur vermeint­lich von der Zukunft, sie beschreiben eigent­lich die Gegenwart in der sie entstehen. Zu unserer Gegen­warts­wahr­neh­mung gehört der – viel­leicht täuschende – Eindruck, alles sei mit allem so untrennbar verbunden, und daher gebe es keine Möglich­keit zu klaren Posi­tionen mehr. Auch Kraume insze­niert die Verket­tung der vielen Probleme als Domi­no­ef­fekt, zugleich aber beschreibt er in der Melan­cholie über die infame Kompli­ziert­heit des Beste­henden auch jenes vage Gefühl, dass sich einen Sturm wünscht, der alles verändert, und damit auch neue Frei­heiten schafft. Diese Sympathie mit den schwarzen Stürmen dieses Films ist gefähr­lich. Aber viel­leicht wird man, wenn man auf diesen klugen, heraus­for­dernden Film in 20, 30 Jahren zurück­blickt, genau hierin die Ahnung einer zukünf­tigen Gegenwart entdecken.