Inland Empire

USA/F/PL 2006 · 180 min. · FSK: ab 12
Regie: David Lynch
Drehbuch:
Kamera: Odd Geir Sæther
Darsteller: Laura Dern, Jeremy Irons, Justin Theroux, Harry Dean Stanton, P u.a.
Justin Theroux und Laura Dern

Identifikationen einer Frau

Surreale moderne Endzeit-Mytho­logie: Alice in Hollywood

»Dieser Film ist ein abstraktes Werk« sagt David Lynch im SZ-Interview, »Mein einziger Rat an den verwirrten Zuschauer ist, ihn mit dem Herzen zu sehen und sich dabei ganz auf seine persön­li­chen Intui­tionen zu verlassen. Denen sollte man nie miss­trauen. Beim Filme­ma­chen ist es, als würde man angeln gehen. Die Lust auf eine Idee ist wie der Wurm an der Angel. Mit genug Geduld kann man eine Idee angeln. Und wenn man sich dann wirklich in eine Idee verliebt, beginnt sie, andere Ideen anzu­ziehen. Ihre Bedeutung kann man erst einschätzen, wenn man an ihr arbeitet und sie zu Papier bringt.« Nun denn: Vertrauen wir unseren Intui­tionen und gehen wir angeln

Ein junges dunkel­haa­riges Mädchen sitzt in einer alten Hotel­suite am Rand des Doppel­bettes und sieht fern. Eine Träne fließt aus ihrem Auge. Im Fernsehen läuft eine merk­wür­dige Soap mit drei Figuren im Menschen­kostüm und Hasen­köpfen. Man sieht eine Nadel in einer Schall­plat­ten­rille, und den Strahl eines Aufnah­me­schein­wer­fers. Eine andere Frau, blond und nicht mehr ganz jung, empfängt in der riesigen Eingangs­halle ihres Hauses eine ältere Frau, offenbar ihre neue Nachbarin. Der Butler bringt Kaffee. Bald wendet sich der belang­lose, etwas aufdring­liche Smalltalk der Alten ins Unan­ge­nehme. Offenbar weiß sie viel zu viel über das Leben ihrer Gast­ge­berin und ungebeten beginnt sie, dieses zu kommen­tieren, spricht mit ihrem osteu­ropäi­schem Akzent bedroh­liche Prophe­zei­hungen aus – eine Hexe mögli­cher­weise...

Mit diesen rätsel­haften Szenen, wie sie für David Lynchs Kino so typisch sind, beginnt der Film: Beklem­mend und dabei voller Verfüh­rungs­kraft reißen sie den Betrachter unmit­telbar hinein in Lynch­ville, den privaten, einma­ligen Kosmos dieses bahn­bre­chenden Kino­künst­lers, der sein Medium beein­flusst hat, wie nur wenige in den letzten zwei Jahr­zehnten. Und es beginnt eine mehrfach verschlun­gene Story, die das Doppel­gän­ger­motiv mit dem Film im Film-Genre zu einem modernen Märchen verknüpft – so poetisch und so brutal wie die Geschichten der Gebrüder Grimm.

Inland Empire ist zunächst einmal der Name eines Land­strichs im San Bernar­dino Valley in Südka­li­for­nien, unweit von Los Angeles. Mit diesem hat David Lynchs neuer Film aber nicht weiter zu tun. Es sind eher, innere Land­schaften, die dieser Regisseur auch diesmal karto­gra­phiert.

Wie in fast allen seinen Filmen seit Blue Velvet steht auch diesmal eine Woman-in-Trouble-Frau im Zentrum, eine Frau in Schwie­rig­keiten. Es ist die Blonde vom Anfang, eine einst erfolg­reiche Schau­spie­lerin, die auf ihr Comeback hofft. An der Ober­fläche erzählt Inland Empire die Geschichte der mit einem reichen, gewalt­tä­tigen Polen verhei­ra­teten Schau­spie­lerin Nikki (Laura Dern), die der Film nun im Folgenden auf ihrer Reise zwischen Alptraum und Idylle, Wunsch und Wahn begleitet: Ein alt gewor­denes Schnee­witt­chen, das auf der Flucht vor der bösen Wirk­lich­keit unter anderem auch bei sieben Huren Trost findet. In ihrem neuen Projekt mit dem Titel On High in Blue Tomorrows spielt Nikki unter einem von Jeremy Irons gespielten Regisseur eine Ehebre­cherin, und ihr Götter­gatte hat Angst, sie könne auch im echten Leben etwas mit ihrem männ­li­chen Co-Part Devon (Justin Theroux) anfangen. Er bedroht Devon. Zudem sorgt eine myste­riöse Vorge­schichte für zusätz­liche Spannung: Der Film ist das Remake eines Scripts dessen frühere Verfil­mung durch den Tod der beiden Haupt­dar­steller abge­bro­chen wurde. Und Nikki wird eins mit ihrer Rolle, der fremd­ge­henden Sue

»Hollywood is full of stories«

Ungefähr hier nun vermi­schen sich diese verschie­denen Erzäh­le­benen und weitere, fort­wäh­rend neu geöffnete, immer mehr. Was Wirk­lich­keit und was Traum, was Gegenwart, Vergan­gen­heit oder Zukunft ist, wird, wie oft bei Lynch, für den Zuschauer zunehmend unun­ter­scheidbar. Das soll so sein, denn Lynch geht es, das weiß man, nicht um Geschichten und Sinn­ge­bung im herkömm­li­chen Vers­tändnis. Lynchs asso­zia­tive Methode benutzt die Mittel des Erzähl­kinos nur noch, um dieses ad absurdum zu führen. Immer wieder führt er dem Betrachter die Illusion als das Wesen der Kunst vor Augen; in einer Doppel­be­we­gung zieht er einen in eine Szene hinein und stößt einen zugleich zurück. Es mag sein, dass der Film allein von einem psychi­schen Zustand handelt, von Tagträumen in denen man sich selbst als Schau­spie­lerin, Mörderin, Hure, als frus­trierte Ehefrau, und verlo­renes Mädchen imagi­niert – oder als Teil einer Hasen­fa­milie. So gesehen handelt Inland Empire auch von innerer Entgren­zung, vom Wahnsinn, von den Iden­ti­fi­ka­tionen einer Frau, die sich selbst zunehmend abhanden kommt. Aber wie Anto­nionis Geschichte kann man auch diese in die Gegen­rich­tung lesen – nicht als jene der Selbst-Iden­ti­fik­tionen, sondern als Geschichte der Wahr­neh­mung eines Menschen durch die Außenwelt, die immer auch eine Fest­le­gung, eine Verob­jek­ti­vie­rung ist.

Wie schon in Mulhol­land Drive bildet Hollywood dabei die eigent­liche Folie, vor deren Hinter­grund man den Film zu verstehen hat: »Hollywood is full of stories«, sagt irgend­wann einer, und »Inland Empire« öffnet sich zu einem Refle­xi­ons­raum über das Kino, es ist Lynchs Sunset Boulevard, wenn man auch hier mehr Moonlight als Sunset findet. Dabei korre­spon­diert alles mit anderen US-Filmen der letzten Monate, mit DePalmas ähnlich unter­schätztem The Black Dahlia und mit Holly­wood­land. Auch Inland Empire zeigt das Kino als Gewalt­zu­sam­men­hang, handelt von der Gewalt, die durch Mythen produ­ziert werden und von den Mythen der Gewalt. Wie sie entfaltet er Hollywood als Hölle, als Schau­platz innerer Apoka­lypse. Das struk­tu­rie­rende inhalt­liche Leitmotiv, immer latent mitschwin­gend, manchmal ganz explizit alles durch­drin­gend, ist die Gewalt gegen Frauen.

Was Laura Dern alias Nikki Grace hier alles zugemutet wird, über­steigt noch das Schicksal von Betty Elms, der jungen Provinz­schön­heit die in Mulhol­land Drive ihr Glück in Hollywood versuchte, von Naomi Watts so hinreißend gespielt: Sie verblutet auf dem »Walk of Fame«, nachdem ihr ein Schrau­ben­zieher in den Unterleib gestoßen wurde, ausge­rechnet auf dem Marmorstern des frühen Horror-Stars Dorothy Lamour (1914-1996) – »L’amour«, was für ein Name! –, die uralt noch 1987 im Horror­film Creepshow 2 ein Mordopfer spielte, und stolpert sterbend dann ausge­rechnet über den Marmorstern, der Dorothy Stratten gewidmet ist, jener Darstel­lerin, die 1981 von ihrem Ehemann ermordet wurde. Beide Filme – und in dieser Hinsicht ist Inland Empire die direkte Fort­set­zung seines Vorgän­gers – handeln davon, wieviel Blut an Hollywood klebt. Lynchs Kino ist ein Pandä­mo­nium, ein Versamm­lungsort böser Geister, und einer von ihnen ist der Regisseur selbst. Er ja im Prinzip nie etwas anderes gemacht, als hier, er hat das Kino heim­ge­sucht und dekon­stru­ieren wollen, um ihm im gleichen Moment doch seine Liebe zu erklären. Auch der Nekro­phile ist ein Liebender, da kann man auch bei Edgar Allen Poe nach­fragen, und manchmal wird man in Inland Empire den Eindruck nicht los, dass hier der Regisseur ein gewis­ser­maßen nekro­philes Verhältnis zu seinem Gegen­stand hat. Schwarze Romantik, surreale Gothic Tale ist das in jedem Fall – und dies weist auch die Richtung der spezi­ellen, gar nicht wirklich verbor­genen Lynch­schen Klas­si­zität. Nicht zufällig ist Vier Sieben, der auf einem polni­schen Zigeu­ner­mär­chen beruhende Film im Film dieser Ameri­ka­ni­schen Nacht ein deutsches Melo, und es bleibt dem Zuschauer über­lassen ob er dahinter eher den Gothic-Noir eines alten Emigranten vermutet, oder einen Ufa-Schinken aus der großen dunklen Zeit. Aber viel­leicht lebt diese Leiche mehr, als auch Lynch glaubt. Und darum nur gelingt die Macht­ent­fal­tung der Simu­la­tion, die Vermi­schung der Realitäts­ebenen, die Lynch immer prak­ti­ziert. Denn auch er verfällt in jeder Negation des Kinos doch dessen Über­wäl­ti­gungs­äs­t­hetik.

Video killed the Hollywood-Star

Lynch verab­schiedet das Medium Film. Hat er zumindest selbst gesagt. Film sei tot. Aber was meint er damit? Nur das Zelluloid, oder überhaupt Hollywood oder gar das ganze Kino? Das hat Peter Greenaway, Lynchs Wegge­nosse in den späten 80ern, als das post­mo­derne Kino verkün­dete das Subjekt sei tot und erstmal die Geschichten tötete und den klas­si­schen Auto­ren­film verab­schie­dete, um ihn sofort als post­mo­dernen wieder aufer­stehen zu lassen, auch schon gesagt, als ihm Mitte der 90er nichts mehr einfiel. Deswegen muss es noch nicht falsch sein. Aber manchmal steht hinter solchen Behaup­tungen doch nur die Müdigkeit ihrer Urheber. Sei’s drum. Lynch hat wie Greenaway die Film­ge­schichte bahn­bre­chende Werke zu verdanken, und warum sollen ihnen nicht irgend­wann die Ideen ausgehen? Zudem Inland Empire die Rede vom Kinotod Lügen straft, und eher wie eine Ausrede für eine gewisse visuelle Schlam­perei wirkt, dafür dass Lynch aus Geld­mangel seine eigenen Ansprüche hier nicht hundert­pro­zentig einlösen kann. Man muss also nicht alles, nicht das Gerede des Regis­seurs und nicht die Präten­tion des Stils über Gebühr ernst nehmen. Ein bisschen unfrei­willig lächer­lich ist das auch alles, ein bisschen spinnert und paranoid, und ein bisschen zu sehr von typischen Schau­spieler-Bedeu­tungs­ge­hu­bere dominiert. Macht nichts, aber ein schlech­terer Film als Mulhol­land Drive ist dies schon.

Wichtiger als jeder Inhalt sind jeden­falls Stil und Methode des Films. In seiner Erzähl­weise und in den schmutzig-grauen, grob­kör­nigen Bildern liegt Inland Empire nahe am Expe­ri­men­tal­film. Wer nichts von Lynch kennt, wird hier ganz allein und hilflos gelassen, darin ähnelt der Film mancher Video­kunst aus dem Museum, manch moderner Kompo­si­tion (Lynch verwendet unter anderem Stücke von Pender­ecki und Lutoslawski) mehr, als allem Kino­durch­schnitt. Das ist seine Stärke wie seine Grenze. Keine Frage: Lynch hat den eigenen Anspruch, er wolle »keine Filme machen, die man im Flugzeug zeigen kann.« erreicht – diesen Film kann man nicht im Flugzeug gucken. Stilis­tisch lässt sich ein Teil des Ergeb­nisses aber wohl tatsäch­lich auch aus der Tatsache erklären, dass hier ein Regisseur zum ersten Mal in seinem Leben mit DV Camera und digitalem Film­ma­te­rial gear­beitet hat, auch die Kamera selbst führte, und mit dieser Technik zum Teil einfach nicht zurecht kam. Das Ergebnis sind hässliche, oft grob­kör­nige, oft verwa­schene Bilder, denen ein großer Teil des visuellen Zaubers und der bild­li­chen Traum­qua­lität fehlt, der Lynchs Kino immer essen­tiell war. Auch die offenbar vorhan­dene Überfülle des Materials hat Lynch sichtlich nur zum Teil unter Kontrolle bekommen – der Film ist zu lang, ihm fehlen Konzen­tra­tion und Disziplin. Man kann für alles auch eine vorneh­mere Erklärung finden, erst recht wenn man vom Genie dieses Regis­seurs überzeugt ist, und das Wohl­wollen des Dechif­frier­syn­di­kats aufbringt. Doch zum Teil ist Lynch hier einfach nur geschei­tert. Darauf muss man nach dieser Fest­stel­lung dann aller­dings auch nicht lange herum­reiten. Denn viel inter­es­santer ist die Frage, wo der Film trotz allem geglückt ist.

Mit diesem barockem, ebenso schwerblü­tigen wie faszi­nie­renden, kathar­ti­schen, alptraum­haften Trip ins Innere des Kinos, ins Reich seiner Symbole, seiner Phan­tasmen und seiner Psycho­ana­lyse, bewegt sich Lynch weg von seinen letzten, eher klassisch erzählten Filmen, zurück zu seinen Anfängen als Expe­ri­men­tal­filmer und zu den frühen 90ern, als er mit Wild at Heart, der TV-Serie Twin Peaks und deren Kino­fort­set­zung Fire Walk With Me auf den Spuren der Gebrüder Grimm wandelte – ein magisch-komplexer Trip voller Para­do­xien, narra­tiver Ellipsen, moderne Mytho­logie; ein surreales Endzeitsze­nario, in dem alles aus den Fugen ist.

Wirk­lich­keit als Phantasma

Es verwun­dert, dass es auch nach rund 30 Jahren Lynch-Filmen immer noch Zuschauer gibt, die hier Vers­tänd­lich­keit im herkömm­li­chen Sinn einfor­dern, und dieses Kino dafür kriti­sieren, dass es etwas nicht leistet, dass es gar nicht leisten will – als wäre nur eine Form, Filme zu machen erlaubt. Im Gegensatz zu all jenen Regis­seuren, die ihr Kino als Sinn­stif­tung und Harmo­ni­sie­rungs­un­ter­nehmen begreifen, die die vielen Betrach­tungs­weisen der Zuschauer zu einer zu inte­grieren suchen, will Lynch seit jeher das Gegenteil: Er möchte verun­si­chern, Sinn­an­ge­bote infrage stellen, Disso­nanzen und Dishar­mo­nien erzeugen, Wahr­neh­mung multi­pli­zieren, Betrachter verstören. Seine wich­tigste Ziel­gruppe ist seit jeher und auch hier die bürger­liche Mitte der Gesell­schaft mit ihrem spezi­fi­schen Sicher­heits­ge­fühl und ihren unter­drückten Seiten, ihren offenen Konser­va­tismus und latente Puri­ta­nismen, eine Doppel­moral, die Gewalt und Sexua­lität verdrängt.

Einschrän­kend ist dies aber ein Film, der einen deut­li­cher als andere Werke von Lynch daran erinnert, dass man, um die Wirk­lich­keit zu erschüt­tern, diese erst einmal aner­kennen muss. Und genau das lässt Lynch vermissen. Wie andere post­mo­derne Filme­ma­cher geht er in die eigene, selbst­wi­der­sprüch­liche Falle: Er will zeigen, dass die Welt nicht so ist, wie sie scheint, dass es »Wirk­lich­keit« im Grunde nicht gibt, dass sie ein Phantasma ist. Aber er kann das nicht tun, wenn er dem Zuschauer schon vorher deutlich zu verstehen gibt, dass er an Wirk­lich­keit ja sowieso nicht glaubt. Wenn das Kino von Anfang an Schein ist, kann es mit der Offen­ba­rung, dass ja alles Schein ist, keinen Eindruck mehr schinden.