Endless Poetry

Poesía sin fin

Chile/GB/F 2016 · 128 min.
Regie: Alejandro Jodorowsky
Drehbuch:
Kamera: Christopher Doyle
Darsteller: Adan Jodorowsky, Brontis Jodorowsky, Leandro Taub, Pamela Flores, Alejandro Jodorowsky u.a.
Clownesk-karnevalesk, chilenischer Día de los Muertos

Das magische Element der Kunst

Schon fast am Ende von Endless Poetry betrachtet sich der junge Alejandro Jodo­rowsky (darge­stellt von seinem jüngsten Sohn Adán) in der Verklei­dung eines Pierrots in einem Spiegel und zerschlägt ihn. Die Glas­splitter, mal große, mal kleine, springen nicht aus dem hölzernen Rahmen: Ein Sinnbild für ein absurdes Unter­fangen. Denn für den Univer­sal­künstler liegt die Funktion des Spiegels nicht darin, ein Bild zurück­zu­werfen, sondern in Stücke gehauen zu werden. Jodo­rowsky will die Illusion von Ganzheit und Geschlos­sen­heit zerstören. So stellt er sich selbst immer wieder infrage und setzt mit seinen unter­schied­li­chen künst­le­ri­schen Verfahren immer neue Bilder zusammen. In ihnen führt er auf betörende, aber auch irri­tie­rende Weise Bildende Kunst, Comic, Theater, Oper, Tanz sowie den Zirkus und die Pantomime zusammen.

In diesem Duktus verfolgt er nun, nachdem er in The Dance of Reality (La danza de la realidad, 2013) seiner auto­ritären Erziehung nach­ge­spürt hatte, das Ergründen seines Selbst und seiner Genese als Künstler weiter. Dabei erforscht er in seiner Biografie die Ursprünge, die erre­genden Momente seiner Kunst. Zugleich nutzt er deren Mittel, die eigenen Erleb­nisse in expres­sive Bilder zu kleiden.

Zu Beginn dieses zweiten Teils seiner Künst­ler­bio­grafie drängen sich Vater, Mutter und Kind im Hafen von Tocopilla auf einem lila­far­benen Boot anein­ander, wie die Heilige Familie auf der Flucht vor Herodes. Im Süden von Chile, in Santiago wollen sie sich endlich eine bessere Zukunft aufbauen. Und für Alejandro wird sich der Wunsch erfüllen. Er beschreitet den Weg in die Freiheit, löst sich von seinen Eltern, lernt, die Welt mit eigenen Augen zu sehen, obschon sein Vater keines­wegs aufgibt, seinen Sohn zu einem stahl­harten Burschen zu formen. Der Fund eines Gedicht­bandes von Federico García Lorca wird zum Auslöser von Alejan­dros Entwick­lung. Dabei gewährt die Poesie nicht nur eine geistige Zufluchts­stätte, die den Jungen belebt, sondern ist auch das Mittel, die Kindheit hinter sich zu lassen. Linear beschreibt Jodo­rowsky die einzelnen Stationen seines Werdens: den Aufent­halt bei den Cereceda-Schwes­tern, die aufrei­bende, zerstö­re­ri­sche Beziehung zu seiner Muse Stella Díaz, die als verschlin­gendes, mütter­li­ches Ersatz­ob­jekt gedeutet wird, die Begegnung mit den Poeten Nicanor Parra und Enrique Lihn. Am Ende des Films wird der nun 24-jährige Alejandro im gleichen lila­far­benen Boot sitzen, jetzt Paris ansteu­ernd, und damit den endgül­tigen Bruch mit seinem Eltern­haus voll­ziehen. Doch immer im Gepäck befindet sich der Tod, der in der alle­go­ri­schen Gestalt eines Skeletts mitfährt. Auch wenn Alejandro eine alte Existenz hinter sich lässt: das Beschämen, der Ekel, die Grau­sam­keit und Gemein­heit reisen immer mit.

Jodo­rowsky bringt es nicht nur zuwege, die eigenen Gefühle und Erfah­rungen in ausdrucks­starke, surreale Bilder zu über­tragen. Sondern er lässt den Zuschauer auch nach­voll­ziehen, wie in der Selbst­re­fle­xion die Vergan­gen­heit, die Erin­ne­rungen lebendig werden. Ganz anschau­lich zeigt er, wie man sich während deren Verge­gen­wär­ti­gung zugleich davon distan­ziert, sie bear­beitet, so dass das Geschehen verblasst, schließ­lich im Gedächtnis versinkt. Dazu nutzt er Verfahren der Collage, der Verfrem­dung, des Ekels und des Häss­li­chen – darin kehren die Traumata der Kindheit wieder – und verneigt sich vor ihn inspi­rie­renden Künstlern, vor Tod Brownings Freaks, vor Jean Cocteau und Marcel Marceau, dessen Compagnie er in den fünfziger Jahren beitrat. So steht beispiels­weise anfangs Jodo­rowsky als alter Mann, von sich selbst gespielt, in einer menschen­leeren Straße, es handelt sich um die Straße, in der er als junger Mann wohnte. Die Kamera fährt auf ihn zu, er ist der Erzähler, der in die Rekon­struk­tion der Vergan­gen­heit einführt, in sie eingreift. Flugs verwan­delt sich die Straße in eine Bühne, die ihm für seine Erin­ne­rungs­ar­beit künstlich bereitet wird. Papp­fi­guren und Kulissen werden von schwarz­be­strumpften Dienern herein­ge­tragen, Leinwände mit den schwarz-weißen Fotos der Geschäfte von einst hoch­ge­zogen. Und obendrein bringt der wie ein Rezitativ einge­setzte Gesang von Alejan­dros Mutter als opern­haftes Element die Szenen zum Leuchten.
Jodo­rowsky ist es mit seinem neuen Film geglückt, im Sinne Adornos, »das magische Element der Kunst zu bewahren«.