Drive

USA 2011 · 101 min. · FSK: ab 18
Regie: Nicolas Winding Refn
Drehbuch:
Kamera: Newton Thomas Sigel
Darsteller: Ryan Gosling, Carey Mulligan, Bryan Cranston, Albert Brooks, Oscar Isaac u.a.
You give me a time and a place

Der amerikanische Samurai

Erste Szene: ein Blick aus einem Hoch­haus­zimmer über eine Stadt bei Nacht. Los Angeles unver­kennbar; man sieht ein Zimmer, eine Straßen­karte, im Fernsehen läuft ein Basket­ball­spiel, L.A. gegen Toronto, und dies wird noch von Bedeutung sein. Es ist gerade Halbzeit. Ein Mann, nicht genau erkennbar, aber eher jünger, ist am Telefon, er erklärt, er sei nur der Fahrer, er trage keine Pistole, er garan­tiere, dass man in fünf Minuten das Ziel erreiche, nicht länger, dann »seid ihr auf euch gestellt«, »on your own«.
Der erste Schnitt, die zweite Szene zeigt den jungen Mann in einer Auto­werk­statt, ein alter Mann, offen­kundig sein Boss, übergibt ihm ein Auto, es ist ein silber­grauer Sport­wagen aus den 80ern. Schnitt.

Dritte Szene: Der Wagen steht vor dem Gebäude, in das einge­bro­chen wird. Der Fahrer, unser Held, soviel ist schon klar, sitzt am Lenkrad, er trägt Leder­hand­schuhe, ein Zahn­sto­cher steckt im Mund. Im Nu ist man drin in der Welt des Verbre­chens, hat begriffen, dass dieser junge Mann mit dabei ist, aber doch nicht dazu­gehört. Seine Lippen sind geschlossen, er atmet offenbar ruhig, scheint leicht zu lächeln. Im Hinter­grund sieht man die Einbre­cher, wie sie zuerst ein äußeres Gitter knacken, dann eine Tür einbre­chen. Der Fahrer nimmt seine Armbanduhr, macht sie am Lenkrad fest, stellt fünf Minuten ein. Aus dem Off hört man wieder das Basket­ball­spiel. Es geht in seine letzten Minuten. Lauter als dies noch hört man den Poli­zei­funk: »An alle Einheiten. Einbruch in der...« Er stellt das Funkgerät neben das Lenkrad. Einer der Einbre­cher kommt zurück, schwer beladen. Der andere lässt auf sich warten. Der erste Einbre­cher ist nervös, redet mit sich selbst: »Come on, man.« Unser Held bleibt cool. Gespannte Ruhe. Der zweite Mann ist dann endlich auch im Auto. Tür zu. Aus dem Funk kommt: »In zwei Minuten sind wir da.« Der Fahrer fährt los, durch die Front­scheibe sieht man 50 Meter weiter hinten einen Poli­zei­wagen langsam ankommen. Der Fahrer parkt den Wagen schnell auf der rechten Straßen­seite, Lichter aus. Der Poli­zei­wagen fährt weiter. Im Funk ist zu hören: »All clear.«

Der Wagen fährt wieder los, eine Weile ganz normal über die Straße, auf eine Schnell­straße, über eine Brücke. Das Basket­ball­spiel geht im Radio in seine letzten Minuten. Plötzlich taucht der Kegel eines Hubschrau­ber­schein­wer­fers auf, er erfasst den Wagen. Im Poli­zei­funk die Bestä­ti­gung. Der Fahrer gibt Gas, rast über die Brücke. Im Funk das Kommando, das alle Einheiten in diese Richtung befördert. Der Wagen rast weiter, das Licht des Schein­wer­fers klebt an ihm. Hinter der Brücke macht der Wagen plötzlich eine scharfe 90-Grad-Links­kurve. Der Schein­werfer verliert ihn, sucht ihn, kreist haar­scharf am immer noch überaus schnell durch die enge Seiten­straße fahrenden, auf dem schlechten Belag hin- und herge­schüt­telten Wagen vorbei. Die Gefahr ist immer noch unmit­telbar. Dann hält der Wagen nach einer neuen unver­mit­telten Drehung unter einer Brücke, die den Schein­wer­fer­blick verstellt. In Funk hört man gleich darauf die Meldung einer »Schießerei in der So-und-so-Straße, alle Einheiten dahin...« Der Hubschrauber zieht ab.

Der Wagen setzt sich wieder in Bewegung, fährt flüssig im Verkehr mit. An einer Straßen­kreu­zung schaltet die Ampel auf Rot. Der Wagen hält. Auf der entge­gen­kom­menden Fahrbahn kommt langsam ein Strei­fen­wagen entgegen. Hält gleich­falls an der Ampel. Im Funk hört man, wie der Fahrer der Zentrale meldet: »Gegenüber an der Ampel hält ein Fahrzeug, auf das die Beschrei­bung passt.« Die Ampel schaltet auf Grün. Vollgas! Das erste Auto wird links überholt, dann das nächste rechts, kurz auf der Gegen­ge­raden, im Rück­spiegel ist zu sehen, dass der Poli­zei­wagen mit Blaulicht die Verfol­gung aufge­nommen hat. Aber der Flucht­wagen rast schneller durch den nächt­li­chen Straßen­ver­kehr von Downtown L.A. Im Radio: »Noch wenige Sekunden, dann hat L.A. den Sieg. ... drei ... zwei ... eins ... Sieg!!!« Plötzlich scharf rechts, in den Eingang eines Park­hauses hinein. Der Wagen rollt aus, seine Insassen verlassen ihn, mischen sich unter die aufbre­chenden Basket­ball­fans. Der Fahrer zieht eine Cape auf und die Jacke aus, darunter wird ein blaues Fanshirt des L.A.-Teams sichtbar, und ruhig schlen­dert er direkt an den Poli­zei­wagen vorbei, die gerade ins Parkhaus einbiegen... Bis dahin ist alles mit einem gedämpften Techno-Beat unterlegt.

Vierte Szene: Flug­bilder über ein nächt­li­ches, in inten­siven Neon-Farben getauchtes L.A. Die Titel sind Pink. Erin­ne­rungen an Gaspar Noés Enter the Void. An Michael Manns frühe Filme. An Miami Vice. Der Titel-Song läuft: »There’s something inside you/ you cannot explain/ the people look at you/ as you were still the same.« Man sieht den Fahrer wieder fahren. Blicke. Im Parkhaus. Er trägt eine helle Jacke im Retro-Design, innen schwarzes Leder, außen Gold-Beige, darauf einge­stickt am Rücken ein großer gold­gelber Skorpion. Im Parkhaus sieht man eine junge Frau, aus einem Aufzug gehen, gespielt von Carey Mulligan, mit blonden, eher kurzen Haaren. Da sieht man sie zum ersten Mal.

Die vier Szenen zusammen sind ein perfekter Auftakt. Eine Übung in Coolness, in Stil, in Ökonomie. In Nostalgie für die 80er Jahre. Genaues Handwerk, von Seiten des Fahrers wie seines Regis­seurs. Man würde sich auf diesen Fahrer unbedingt verlassen.

Der Fahrer wird bis Ende des Films keinen Namen tragen. Er nennt sich nur »Driver«. Eine Kinofigur voller Aura und Geheimnis. Ein Samurai, und er wird das mehr und mehr bis zum Ende, erinnert er an Delon bei Melville. Gespielt von Ryan Gosling, der ein Darsteller ist wie Christian Bale, kühl, glatt, gesichtslos, sehr ameri­ka­nisch in seiner Aller­welts­haf­tig­keit. Er ist Stuntman und Auto­me­cha­niker, der schönen Nachbarin namens Irene, antwortet er, als sie ihn fragt: »What do you do?« – »I drive.« Als er mit ihr redet, steckt er den Zahn­sto­cher hinters Ohr. Sie hat ein Kind, ohne Mann dazu, bzw. kommt der Mann dann irgend­wann doch, aus dem Gefängnis. Zuvor fallen schöne Sätze wie dieser: »I am not doing anything this weekend. If you want a ride or something...« Das Glück ist das des Auto­fah­rens. Dazu läuft ein 80er-Retro-Popsong: »A real hero.«
Ansonsten Jobs, und Menschen. Als Driver einem namens Bernie Rose vorge­stellt wird (den Albert Brooks in einem überaus uner­war­teten, wirklich Oscar-reifen Auftritt spielt), will er ihm erst nicht die Hand geben, nästelt an seinen Fahrer-Hand­schuhen rum: »My hands are dirty.« – »Mine as well.« Dann geben sie sich die Hand.
So lakonisch, schnell, super straight, und materiell ist der ganze Film. Es gibt einen zweiten Überfall, bei dem der Driver nur beteiligt ist, weil er Irenes frisch­ent­las­senem Mann eine zweite Chance verschaffen will. Der geht schreck­lich schief.
Was der Driver dann tut, tut er völlig selbstlos. Innerlich kalt. Ein Samurai. Aber er fühlt für Irene. Ihr verschafft er ihr Recht auf Glück, auf Neuanfang.

Der Film ist eine große 80er-Jahre-Hommage und lebt ansonsten nicht von der im Prinzip kleinen, wenn auch feinen Story, sondern von Bildern. Etwa dem, in dem der Driver einen Zuhälter in einer Gogo-Bar zusam­men­ge­schlagen hat. Während der blutend auf dem Boden liegt, ruft er dessen Boss an. Vier, fünf nackte Frauen sitzen völlig ungerührt, höchstens erstaunt drumherum. So ein Bild kennt man sonst höchstens von Abel Ferrara. Oder als Brooks einen alten Freund töten muss: ergibt ihm die Hand. Hält sie fest als er mit dem Skalpell dessen Arm aufschlitzt. »It’s done. There’s no pain. It’s over, it’s over...«

Es wird natürlich eine Geschichte erzählt in Nicholas Winding Refns Drive. Sie handelt von der Liebe, von einem jungen Mann, der nicht weiß, wozu er lebt, bis er eine junge Frau trifft. Dann muss er mit der Welt brechen, in der er bisher gelebt hat. Aber diese alte Welt, die Welt des Verbre­chens und der Zukunfts­lo­sig­keit, will ihn nicht loslassen, ihn nicht so einfach freigeben an die andere.
Insofern ist das alles eine kleine Gangs­ter­ge­schichte, die nachts spielt, und Anleihen nimmt am klas­si­schen Film Noir, und die in bunte Kunst­farben getaucht ist, und in einer Art Neo-80er-Jahre spielt. Aber um die Geschichte geht es gar nicht. Die Haupt­sache ist das, was man sieht und hört, und was man als Zuschauer fühlt, während man das sieht und hört.

Denn Drive ist unerhört sinn­li­ches Kino, nahe am Feti­schismus, an der Vergöt­zung der Objekt­welt. Er appel­liert – auch – an unsere niederen Instinkte. Aber diese unmit­tel­baren Erleb­nisse, diese Augen­blicke des Aufgehens im Hier und Jetzt, die Lust am Über­wäl­tigt­werden, ist eine Erfahrung, ohne die Kunst nicht denkbar ist. Sie ist gefähr­lich, denn hier kann man leicht einer Sache auf den Leim gehen, kann sich leicht von Ober­flächen blenden und von Ästhe­ti­sie­rung – aber was wäre Kunst, wenn sie nicht gefähr­lich wäre.

Mit guten Gründen hat Drive bei den letzten Film­fest­spielen von Cannes die Silberne Palme für die Beste Regie bekommen. Denn er ist nicht allein stilis­tisch und hand­werk­lich hervor­ra­gend gemacht, ein nahezu perfekter Film in seiner poeti­schen Einheit aus Bewegung, Rhythmus und Bild, im musi­ka­li­schen Zusam­men­spiel der Form-Elemente des Kinos – er ist auch sehr bewusst ein Wider­standsakt und die Antithese, zu allem, was man gerade in Deutsch­land für gutes Kino hält. Dies ist kein Kino der vermeint­lich bedeu­tungs­vollen Stille, des pseudo-spiri­tu­ellen Schwei­gens, der gravitä­ti­schen langen Einstel­lungen und Kame­ra­fahrten, des sozial-realis­ti­schen, exakt-korrekten Wieder­gabe unserer Welt »nach der Natur«; Und dies ist auch kein Kino des Pädago­gi­schen, der wichtigen, politisch enga­gierten Themen oder gesell­schaft­lich »rele­vanten« Fragen. Die Story ist hier Neben­sache, die Schau­spieler agieren mini­ma­lis­tisch zurück­ge­nommen, drängen sich nie vor die Bilder.

Drive ist Kino um seiner selbst willen, um des unmit­tel­baren Begehrens, das man als Zuschauer empfindet, der Lust am Bild und am Ton, und an deren Schönheit; und alle Vorwürfe die seit Jahr­hun­derten gegen den Manie­rismus, gegen »L’art pour l’art«, gegen die Über­höhung des Lebens, gegen Kunst als neue Mytho­logie vorge­bracht werden, treffen auch hier zu. Genau darum bringt dieser hervor­ra­gende Film noch den Zuschauer, dem er nicht gefällt, zum Nach­denken über die Bedeutung der Kunst für das Leben.

Drive ist ein nahezu perfekter Film, weil er das, was er sein will, auf höchstem Niveau auch ist. Kino at its best: Poesie, Bewegung, Über­ra­schung, pures Gefühl, Coolness, und doch eine ernst­hafte Ausein­an­der­set­zung mit tieferen Fragen der mensch­li­chen Existenz.