Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht

Deutschland/F 2013 · 230 min. · FSK: ab 6
Regie: Edgar Reitz
Drehbuch: ,
Kamera: Gernot Roll
Darsteller: Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer, Rüdiger Kriese u.a.
Im Wilden Zentrum

Lampedusa in Brasilien

»Den 20. ging Lenz durch›s Gebirg. Die Gipfel und hohen Berg­flächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleich­gültig weiter, es lag ihm nicht‹s am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unan­ge­nehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte. Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüt­telte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewal­tigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen, er begriff nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse alles mit ein Paar Schritten ausmessen können«.
(Georg Büchner, »Lenz«, 1839)

Das passiert selten – ein Film, nachdem man gar nicht so recht weiß, wo man anfangen soll zu erzählen, ein Film, der den Betrachter aus den Angeln reißt. Ein Film, dessen kris­tall­klare Bilder bis in nächt­liche Träume verfolgen, wohl auch, weil sein histo­ri­sches Licht dem von Stanley Kubricks Barry Lyndon in nichts nachsteht, dessen histo­ri­sche Akribie ebenfalls an Kubrick erinnert. Ein Film, der berührt, obwohl er fast semi­do­ku­men­ta­risch mehr als 150 Jahre alte Geschichte erzählt, dabei aber dennoch so nah am gegen­wär­tigen Zeit­ge­schehen ist, dass einem Angst und Bange wird und der dann auch als filmi­sches Konzept, nun ja, fast über­ak­tuell ist. Wie also anfangen? Etwa so wie Edgar Reitz selber, der mit Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht ebenfalls am Anfang beginnt, nachdem das Ende schon längst erzählt ist? Denn wir erinnern uns: Heimat ist seit 1984 Jahre Edgar Reiz' Opus-magnum-Projekt, das auf fiktiver Ebene die große deutsche Geschichte des 20. Jahr­hun­derts mit Hilfe der Geschichte des kleinen Dorfes Schabbach im Hunsrück erzählt. Dabei ist Reitz durch ähnliche finan­zi­elle Niede­rungen gegangen, aber auch in ähnliche künst­le­ri­sche, mit Preisen und Kriti­kerlob erfüllte Höhen kata­pul­tiert worden, wie Barbara und Winfried Junge mit ihrem doku­men­ta­ri­schen Äqui­va­lent Die Kinder von Golzow. Wie die Junges hat auch Reitz durch­ge­halten und sich vor 10 Jahren mit Heimat 3 – Chronik einer Zeiten­wende bis in die jüngste Vergan­gen­heit gefilmt.

Dass Reitz damit nicht nur den in diesen Monaten viel­be­schwo­renen inno­va­tiven Boom um den langen erzäh­le­ri­schen Atem ameri­ka­ni­scher Fern­seh­se­rien von den Sopranos bis Breaking Bad vorweg­ge­nommen hat, ist nicht mehr wert als ein nach­denk­li­cher Hinweis über die nur allzu bekannte kapi­ta­lis­ti­sche Methode, Altes neu zu verpacken, um es noch gewinn­brin­gender zu verkaufen. Etwas über­ra­schender ist es dann schon eher, dass ausge­rechnet Reitz, der sich wieder­holt negativ über die gegen­wär­tige Film- und Fern­seh­kultur geäußert hat, sich für seine neue, andere Heimat, der im gegen­wär­tigen Film­ge­schäft so beliebten Form der »Prequel« bedient. Er umgeht dabei aller­dings geschickt die Gefahren allzu gegen­warts­naher Zeit­schleifen, wie sie etwa in Star Wars und Star Trek und ihren unge­ahnten Tiefen der Banalität bedient worden sind.

Statt also mit den Vorwirren zum 1. Weltkrieg einzu­setzen – und damit direkten narra­tiven Anschluss an den ersten Teil der Heimat­tri­logie zu setzen – haben sich Reitz und sein Mitautor Gert Heiden­reich für die nicht weniger verwor­renen Vormärz-Jahre der ersten Hälfte des 19. Jahr­hun­derts entschieden. Doch Reitz und Heiden­reich bleiben in Schabbach und sie bleiben im Kern ihrer Erzählung auch bei der »Trilogie-Familie« Simon, deren einziges Binde­glied zur Ersten Heimat vor allem schau­spie­le­ri­scher Art ist. Die »Mutter« Marga­rethe, von einer großar­tigen Marita Breuer verkör­pert, ist auch im ersten Heimat-Film die »Mutter« der Familie Simon. Doch die Verhält­nisse der Familie in Vormärz-Zeiten erinnern weniger an gemeinhin ange­le­sene und erinnerte Geschichte als an das, was man heut­zu­tage aus Regionen in Zentral­asiens, Südame­rika und Afrika kennt. Ein despo­ti­sches Staa­ten­wesen verhin­dert breiten Teilen der Bevöl­ke­rung die Teilnahme an erfolg­rei­chen, gewinn­brin­genden wirt­schaft­li­chen Prozessen. Die Armut ist groß, die Sehnsucht nach Verän­de­rung ebenfalls, so dass es zu einer bis in die jüngste Gegenwart bekannten Dynamik kommt – die Leute wollen weg, Deutsch­land wird Auswan­de­rungs­land, Brasilien ist das Land der Träume. Auch Schabbach ist davon betroffen.

Wie bislang in der gesamten Heimat-Trilogie gelingt Reitz auch in Die andere Heimat eindrück­lich, große Welt­ge­schichte fassbar und fühlbar zu machen, indem er sich den Lebens­li­nien der kleinen Leute zuwendet. Der fast kris­tal­line Schwarz­weiß­film in Cine­ma­scope, dem sich Reitz und sein Kame­ra­mann Gernot Roll für ihre Darstel­lung bedienen, ist auch diesmal mit impres­sio­nis­ti­schen Farb­mo­menten versehen und deutet damit auch an, dass Geschichte durch unsere mediale Foto­so­zia­li­sa­tion zwar in unseren Köpfen monochrom ist, aber im Grunde natürlich voller Farben war, Geschichte somit nicht nur farblich neu geschrieben, sondern grund­sätz­lich immer auch konstru­iert ist.

Aber das ist schnell vergessen. Denn die Lebens­li­nien, die Reitz in den schwie­rigen histo­ri­schen Rahmen bettet [1], sind derartig zärtlich, spannend und immer wieder auch über­ra­schend erzählt – kurzum: »wirklich« – dass es fast weh tut, dass der Film nach vier Stunden bereits vorbei ist und damit zu einem der kürzesten des Heimat-Opus' wird. Reitz ist dabei nicht nur die fast schon ethno­gra­fisch-histo­ri­sche, luzide Akribie hoch anzu­rechnen: von der authen­ti­schen, ärmlich-funk­tio­nalen Kleidung bis zum stroh­hüt­ten­ar­tigen armse­ligen Inneren der Häuser, den kargen nächt­li­chen Licht­ver­hält­nissen bis zu den frugalen Mahl­zeiten. Reitz gelingt es darüber hinaus, dieses museale Setting mit »wirk­li­chem« Leben zu füllen: einer facet­ten­rei­chen Eltern-und-Söhne-Geschichte, einer mit reli­giösen Konflikten unter­malten Vater-Tochter-Beziehung, einer Dreiecks-Liebes­ge­schichte, die auch deshalb überzeugt, weil sie nicht den Fehler begeht die Moral von damals mit der Moral von heute zu infil­trieren. Und nicht zuletzt mit der Geschichte des eigent­li­chen Helden des Films, Jakob Simon, die als Binde­glied und Kern alle anderen Geschichten durch­zieht und eine unbändige Sehnsucht verkör­pert, die sowohl scheitert als auch gewinnt, auf jeden Fall besser dasteht als jene Sehnsucht von Lenz in Büchners Vormärz-Erzählung. Eine Sehnsucht, die die andere Heimat nicht nur zu einer notwen­digen Prequel für Reitz eigenes Werk werden lässt, sondern auch eine für ein ganzes Filmgenre – die bislang fast uner­schlos­sene Geschichte der Siedler des Wilden Westens, denen bis auf wenige Ausnahmen fast stets nur die leidige Rolle verängs­tigter, naiver Statisten zufiel.

Noch Wochen nach dem Film verfolgen, nein: begleiten einen die Bilder dieses großar­tigen Films. Bilder von wildem Aufbe­gehren, vorsich­tiger, spontaner Poli­ti­sie­rung, idyl­li­schen Wein­ernten, bitterem Alltag und zarter Alltags­poesie, irrsten Hoff­nungen und einem glück­lich­ma­chenden Verstehen für das, was Geschichte und Zukunft sind, was Deutsch­land war und was Deutsch­land ist und irgend­wann wieder sein wird. Bilder einer faszi­nie­renden Verzah­nung von Vergan­gen­heit und Gegenwart. In einem histo­ri­schen Augen­auf­schlag wird Brasilien zu Lampedusa, wird Deutsch­land zu Eritrea und Vergan­gen­heit zu nicht mehr und nicht weniger als einer immer wieder­keh­renden Gegenwart.

[1] Aus dem sich Deutsch­land durch eine mühsam erzwun­gene Indus­tria­li­sie­rung und damit Parti­zi­pie­rung weiter Bevöl­ke­rungs­schichten wenig später gerade noch so retten kann und die »Grenzen zur Armut« in den Osten verschiebt. Die eigen­ar­tigen Wege dieser Entwick­lung für Europa lassen sich sehr präzise im zehnten Kapitel von Daron Acemoglus und James A. Robinsons »Why Nations Fail – The Origins of Power, Prospe­ritiy, and Poverty« nachlesen.

Jakob und sein Bruder

Die Auswan­derer: Edgar Reitz' Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht erzählt von Schatz­su­chern, Freiheit und Sehnsucht

Immer wieder rollen sie in der Ferne, die Trecks der Auswan­derer, über den Hügel oder durchs Tal. Ein schier endloser Zug. Die Wagen sind voll­be­packt. Sie rollen aus dem Hunsrück an die Mosel und an den Rhein, dort schiffen sich ihre Besitzer ein in Richtung Nordsee und dann weiter nach Nord- oder Südame­rika, das Land ihrer Sehnsucht. Dort wollen sie eine neue Heimat finden, denn in der alten ist keine Hoffnung mehr. »Chronik einer Sehnsucht« hat Edgar Reitz im Unter­titel seinen neuen Film betitelt, ein ganz eigen­s­tän­diges Werk und zugleich je nach Zählweise der vierte oder fünfte Teil seines »Heimat«-Epos. Und tatsäch­lich geht es hier, wie immer bei Reitz um Sehnsucht, und das, was ihr entge­gen­steht, das Wech­sel­spiel aus Praxis und Theorie, um Romantik und die Illu­sionen, die mir ihr einher­gehen.

Wieder wendet sich Reitz dem Dorf Schabbach in den Wäldern des Hunsrück zu, und mischt, indem er vom Leben dieses Dorfes und seiner Bewohner erzählt, Reales und Fiktion zu einem unver­wech­sel­baren Ganzen. Doch nachdem er in den bishe­rigen Folgen das Wech­sel­ver­hältnis zwischen Alltags­his­torie und großer Welt­ge­schichte im 20.Jahr­hun­dert erzählte und dabei bis in unsere Gegenwart nach der Jahr­tau­send­wende vorge­drungen war, springt Reitz nun weit zurück ins 19. Jahr­hun­dert, in die Zeit des »Vormärz« zwischen 1840 und 1847.

Im Zentrum steht ein Brüder­paar, Jakob (Jan Dieter Schneider) und Gustav Simon (Maxi­mi­lian Scheidt), womöglich Vorfahren der anderen Simons, denen wir in »Heimat« begegnet sind. Ihr Leben als Söhne des Dorf­schmieds ist hart, die Bauern hungern, von Miss­ernten, Seuchen, hoher Kinder­sterb­lich­keit heim­ge­sucht werden, während die Feudal­herren versuchen, die in den Revo­lu­tionen erkämpften Rechte der Bürger wieder zurück­zu­schrauben. Viele wanderten aus. Dieses Histo­ri­sche der Anfänge unserer Globa­li­sie­rung ist in jedem Fall gut recher­chiert – und zugleich uner­wartet. Wer weiß schon noch, dass viele Deutsche damals Migranten waren?

Der jüngere Sohn, Jakob träumt vom Auswan­dern nach Amerika. Aber er ist ein Träumer, kein Macher. Das ist sein Bruder Gustav, und darum wird er es sein, der auswan­dert, während Jakob das Land der Phantasie genügt. So zeigt Reitz, wie sich Idee und Handwerk, Traum und Realismus ausein­ander bewegen: Die Tragik der Ausdif­fe­ren­zie­rung, die Reitz sehr wohl auch über­in­di­vi­duell, prin­zi­piell und symbo­lisch meint.

Über diese Jakob-Figur hat Andreas Kilb in der FAZ einige wunder­bare Zeilen geschrieben:
»Und doch ist Jakob Simon ein ganz beson­derer Filmheld, viel­leicht der faszi­nie­rendste im Kosmos des Edgar Reitz. Wenn man seine Stimme hört, die aus dem Tagebuch vorliest, und dann den Alltag um ihn herum betrachtet, bekommt man eine Ahnung davon, was es bedeutete, im neun­zehnten Jahr­hun­dert jung zu sein – in einer Zeit, die schon Dampf­ma­schinen baute, aber noch an den Teufel glaubte. Einer Epoche unge­heurer Hoff­nungen, in der Kinder noch an Diph­therie starben, Kartof­feln von Hand ausge­graben, die Ähren mit der Sichel geschnitten wurden. Die Kamera Gernot Rolls stellt diese Gegen­sätze nicht aufdring­lich aus, sondern lässt sie beiläufig mitschwingen. Einmal hat Jakobs Mutter, die, wie schon die Mutter des Helden in Heimat, von der wunder­baren Marita Breuer gespielt wird, auf dem Feld vor dem Dorf einen Ersti­ckungs­an­fall, und als sie wieder zu sich kommt, sagt sie, sie habe all die Kinder­chen gesehen, die der Herrgott ihr genommen habe. Sechs Geschwister waren es, und sie erinnert sich an jedes einzelne genau.«

Medien lösten das Fernweh aus

Im Zentrum stehen nämlich auch die »kleinen Leute« als solche, die Unter­schicht, die – Binsen­weis­heit, die gleich­zu­trifft – von der Geschichts­schrei­bung oft ignoriert worden ist. So wie man Reitz' »Heimat«-Projekt oft – zu recht oder unrecht sei hier einmal dahin­ge­stellt – nach­ge­sagt hat, ihm gehe es darum, die Heimat zu reha­bi­li­tieren, so sehr geht es ihm wohl auch um Aufwer­tung dieser kleinen Leute. Ihrer Alltags­er­fah­rung: »Wenn wir das Leben der Armen und Underdogs erzählen wollen, finden wir nichts – denn sie haben nichts hinter­lassen und meist war es ja so, dass sie bereits in der nächsten Gene­ra­tion ihre Häuser abge­rissen haben und ihre Gebrauchs­ge­gen­s­tände erneuert. Es ist ja klar: Wenn man arm ist hat nichts zu vererben, auch an seine eigene Zukunft nicht. Und dieser Verlust aller Dinge, die wir in die Hand nehmen ist ein großes Thema für mich geworden.«

In nur zwei Jahren wanderte fast eine Million Deutsche aus. In Südwest­deutsch­land entleerten sich ganze Ortschaften. Denn in den von Napoleon eroberten Gebieten wurde die Leib­ei­gen­schaft abge­schafft. Nach dem Sieg der Gegen­re­vo­lu­tion 1815 verarmten viele dieser neuen Klein­bauern, die mit der Freiheit, die sie unvor­be­reitet ereilte, nicht zurecht­kamen. Gerade die jüngeren Geschwister, denen man nichts vererben konnte, litten Not.

Warum wanderten diese Leute plötzlich in Scharen aus? Reitz hat dafür eine eigen­ar­tige, uner­war­tete, aber spontan über­zeu­gende Erklärung: Weil sie lesen konnten! 1815 führte der preußi­sche Staat als Teil der großen Reformen die Schul­pflicht ein, und sobald eine erste Gene­ra­tion alpha­be­ti­siert war, bildeten sich bald gerade auf dem Land aller­orten Lese­kreise. Und was lasen die Leute? Bücher über ferne Länder, Abenteuer- und Reise­li­te­ratur. Die Medien lösten ein Fernweh aus – wie man heute im Fernsehen oder Internet erfährt, wie gut es den Europäern geht, das weckt ihre Sehnsucht. Die Leute wanderten nicht wegen der Armut aus, sondern wegen ihrer Lektüre.
Die große Pauperi­sie­rungs­welle und reak­ti­onären Regie­rungen kam einfach hinzu. Viele gingen damals nach Brasilien, denn der dortige Kaiser schickte Werbe­agenten durch Europa, die Bauern und Hand­werker von den Vorteilen des Landes über­zeugen sollten.

»Freiheit ist nicht das Gegenteil von Gefan­gen­schaft. Sondern etwas in uns.«

So vergehen wie im Flug vier Film­stunden mit einer dicht gestrickten, breit ausgrei­fenden, ebenso leiden­schaft­li­chen wie unsen­ti­men­talen Beschrei­bung eines Dorf­le­bens vor 170 Jahren. Edgar Reitz hat eine einmalige Art, Geschichten als epische Chronik zu erzählen, voller Ruhe und Schönheit. Woraus besteht diese einmalige Methode von Edgar Reitz, die seinen Filmen einen so einma­ligen, auch eigen­ar­tigen Klang gibt? Wie im italie­ni­schen Neorea­lismus eines Roberto Rossel­lini werden auch bei Reitz manche Figuren von Laien gespielt, und immer haben alle eine überaus präzise soziale Position. Das Geschehen zwischen Einzelnem und der Gruppe – die manchmal wie ein Chor wirkt – ist immer eng verbunden, sodass man einem sozialen Körper zuguckt, einer Einheit. Bezie­hungen werden visuell herge­stellt, über Blicke und Kame­ra­be­we­gungen. Und wieder hat der Regisseur hier in Jakob ein Alter Ego – mit ihm begibt er sich auf Augenhöhe mit seinen Prot­ago­nisten. Wieder ist alles Schwarz­weiß und zwischen­durch gibt es ein wenig Farbe an sehr markanten Stellen. Gernot Rolls Bilder erinnern oft an nieder­län­di­sche Malerei – sie sollen das aller­dings auch. Ein ganz eigenes Kapitel wäre einmal, die Beziehung von Reitz zur Malerei zu betrachten, besonders zu einem Maler wie Cezanne.

Die Grund­hal­tung ist wie immer die eines Chro­nisten. Reitz erzählt mit »und dann, und dann«, nicht mit straffem drama­ti­schem Bogen. Die andere Heimat ist gele­gent­lich stili­siert, dabei anti-senti­mental, kühl, und trotzdem voller Sehnsucht, Romantik. Das Symbo­li­sche und das Histo­ri­sche stehen hier gleich­be­rech­tigt neben­ein­ander. Man denkt bei diesem hervor­ra­genden Film zwar nie und nimmer an John Ford, aber dafür natürlich auch ein paarmal an Berto­luccis 1900, das ähnlich »große« und »kleine« Geschichte mischte.

Die Tragik dieser Fami­li­en­ge­schichte wird durch Komik und heitere Gelas­sen­heit abge­fangen. Reitz spezielle Poesie liegt in den Bildern genauso, wie in schönen, stili­sierten Sätzen: »Es ist der Menschen Natur, Ernst zu machen.« Und: »Freiheit ist nicht das Gegenteil von Gefan­gen­schaft. Sondern etwas in uns.«

»Heimat«, gegen seine Liebhaber vertei­digt

In Schabbach glauben nicht wenige Zuschauer so etwas wie eine Wahl­heimat gefunden zu haben; ein Land, in dem der hässliche Kapi­ta­lismus noch nichts zerstört hat, wo das besteht, was aus ihrer Sicht zum Wert­vollsten gehört: Frucht­bare Erde, Autarkie, Erzähl­ge­mein­schaft, buko­li­sche Tausch­ver­hält­nisse, Sprache, eine Welt ohne Coca Cola und McDonalds – vorka­pi­ta­lis­ti­sche Wunsch­fan­ta­sien zwischen Boheme und Ackererde. Reitz kann man das nicht vorwerfen, aber er bedient all diese Affekte zumindest mit, distan­ziert sich nicht vor ihnen, schützt seinen Film nicht davor.

Geht es ihm denn nun darum, die Heimat zu reha­bi­li­tieren? Gewiß doch. Aber die Frage musste eher lauten: Welche Heimat? Um Aufwer­tung geht es nicht. Aber in Inter­views formu­liert Reitz Sätze, die kultur­pes­si­mis­ti­scher klingen, als er es meint: »Auf jeden Fall habe ich das Gefühl, dass die nächste Gene­ra­tion eigent­lich nur Müll findet von uns. Kaum etwas können wir unseren Kindern vererben – kein iPhone, keinen Computer – nichts von den heißbe­gehrten Gegen­s­tänden unserer Zeit. Und doch sagen wir, es sei unsere Freiheit, alles dieses zu besitzen.«

Trotzdem hat Reitz das Sujet »Heimat«, den Begriff wie die ihn umge­benden Mythen von dem Ballast befreit, der ihn umgab. Seine »Heimat« ist keine Idylle. Kein Blut-und-Boden-Paradies, keine Folklore.

Viele Motive in dem neuen Film werden Reitz-Liebhaber wieder­er­kennen: Die Suche nach dem Absoluten, bei gleich­zei­tiger Versen­kung in die Details des Alltags. Die Lust an der Über­höhung, die Lust an einer Ordnung. Das Schwär­me­ri­sche, die Grenze zum Kitsch, die Reitz wohl bewusst in Kauf nimmt, um die Sehnsucht im Kern zu treffen. Viel­leicht ist Sehnsucht prin­zi­piell naiv. Viel­leicht ist Naivität also berech­tigt? Diese Fragen werden nicht direkt gestellt, aber umkreist.

Es gibt nerv­tö­tende altkluge Mora­lismen in diesem Film, wie: »Pass gut auf, was du träumst. Träume haben ihre Zeit und gehen in Erfüllung.« Es gibt wunderbar poetische Formu­lie­rungen: »die Heimat die treulose, die nichts als Knecht­schaft für ihre Kinder bereit hielt.« Und es gibt schöne Bosheiten, wie dieses Lied, das womöglich erfunden ist, jeden­falls nicht in alten Quellern zu entdecken: »Über die Berge kommt die Republik/ und das ganze Räuber­pack/ kriegt die rechnung präsen­tiert/ und muss dafür bluten.«

Warum hat seiner­zeit Die Dritte Heimat nicht wirklich funk­tio­niert? Viel­leicht, weil wir die Welt selber kennen, um die es da geht. Weil wir uns nie ganz in ihr verlieren können, nichts in ihr entdecken können, weil wir es besser wissen. Die Frage, die sich da nun stellt, ist eine doppelte: Wie wenn sein Bild der Vergan­gen­heit genauso histo­risch schief wäre, wie das der Gegenwart? Und: Wäre dies schlimm?

Weltent­de­ckung

Es gibt ein Gegen­mo­dell zur Heimat in »Heimat«. Das ist die Technik. In diesem Fall beispiel­haft an der Geschichte der Dampf­ma­schine des Schmiedes erzählt. An ihr wird die ganze Zeit gebaut. Einmal fliegt sie fast in die Luft. Bis Jakob dann vom Prinzip des Flieh­kraft­reg­lers erfährt und so einen einbaut – ihr Prinzip wird so beschrieben, »dass die Maschine auf sich aufpasst.« Auch die Arbeits­tei­lung kehrt ein: »Ihr baut und ich sage Euch ob das richtig ist.«

Der Zufall ist ein wichtiger Haupt­dar­steller in »Heimat«. Schon in früheren Teilen rückte der Regisseur die Zufäl­lig­keit im Leben, besonders in Liebes­dingen ins Zentrum,. Wer zusam­men­findet und glücklich zusam­men­lebt, ist nicht immer der der zusam­men­gehört, oder gar »fürein­ander bestimmt« war.
Ein anderer Haupt­dar­steller ist die Neugier der Menschen. Die Weltent­de­ckung, der Aufbruch, der es schon bei den »Argo­nauten«, einem seiner ersten Filme im Zentrum stand. Das Begehren danach, eine andere Wahrheit zu suchen. Die Wissen­schaft und hoch­flie­genden Träume werden in Schabbach immer konter­ka­riert durch die Boden­s­tän­dig­keit und enge, auch durch den ernst des Handelns. Richtig verspielt wirken die Figuren in dieser ausge­zeich­neten, schönen und sehr beson­deren Film-Chronik selten.

Noch einmal Andreas Kilb, dessen Fazit nichts hinzu­zu­fügen ist:
»Nach Heimat 3, der Geschichte der neunziger Jahre in Schabbach, schien es, als könnte nichts mehr den Glanz der ersten Heimat zurück­bringen, ihre Schlicht­heit, ihre Tiefe, ihre visuelle Kraft. Mit der Anderen Heimat hat Reitz das alles wieder­ge­funden. Und er hat dafür weder elf noch fünf­und­zwanzig Stunden gebraucht. In einer Zeit, in der alle vom Siegeszug der Fern­seh­serie reden, hat Edgar Reitz einen epischen Kinofilm gedreht, den schönsten, den es seit langem aus Deutsch­land gab.«