Der blinde Fleck

Deutschland 2013 · 92 min. · FSK: ab 12
Regie: Daniel Harrich
Drehbuch: ,
Kamera: Walter Harrich, Tobias Corts
Darsteller: Benno Fürmann, Nicolette Krebitz, Heiner Lauterbach u.a.
Eigenständig und spannend 

Was man nicht sehen mag, das darf auch nicht sein

Als im Jahre 2011 der NSU-Fall zeigte, wie lange die zustän­digen Behörden und andere Verant­wort­liche die massive Bedrohung von rechts ignoriert hatten, kam die Frage auf, warum all diese Personen anschei­nend „auf dem rechten Auge blind“ waren. Es stellte sich außerdem die Frage, ob dies wirklich das erste Mal in der Geschichte der Bundes­re­pu­blik war, dass die rechte Szene solch einen Angriff auf den Staat gewagt hat. Ulrich Chaussy ist davon überzeugt, dass dies leider keines­wegs so ist. Der bekannte Jour­na­list befasst sich bis heute mit dem Fall des Okto­ber­fest-Attentats von 1980, des größten Anschlags in der Geschichte der BRD. Chaussy schrieb auch gemeinsam mit Regisseur Daniel Harrich das Drehbuch zu dessen ersten Kinofilm Der blinde Fleck, der die Unter­su­chungen Chaussys in diesem Fall schildert. Was dabei sichtbar wird, ist so skandalös wie besorg­nis­er­re­gend ...

Wir schreiben das Jahr 1980. Direkt am Haupt­ein­gang zum Okto­ber­fest explo­diert eine Bombe, die 13 Menschen den Tod bringt und zu 200 Verlet­zten führt. Unter den Toten befindet sich auch der 21-jährige Student Gundolf Köhler. Da Köhlers Leiche unmit­telbar neben dem Epiz­en­trum der Explosion gefunden wird, ist der junge Mann schnell der Haupt­ver­däch­tige. Als Nach­for­schungen dessen Verbin­dungen zur Wehr­sport­gruppe Hoffmann aufzeigen, verdichtet sich die Vermutung eines rechts­ex­tremen Hinter­grundes der Tat. Doch als im Jahre 1983 der Abschluss­be­reich zu dem Fall öffent­lich vorgelegt wird, heißt es auf einmal, Köhler sei ein Einz­el­täter gewesen, der die Tat aus rein persön­li­cher Frus­tra­tion heraus begangen habe. Das will der Opfer­an­walt Werner Dietrich (Jörg Hartmann) aller­dings nicht glauben. Er weist deshalb den Radio­jour­na­listen Ulrich Chaussy (Benno Fürmann) auf zahl­reiche Unge­reimt­heiten in dem Fall hin. Das weckt den jour­na­lis­ti­schen Ehrgeiz Chaussys und bald darauf bringt dieser einen ersten Radio­be­richt zu dem Fall. Sofort meldet sich ein anonymer Insider (August Zirner) bei dem Jour­na­listen und spielt Chaussy einen gewal­tigen Karton voller geheimer Unter­lagen zu dem Fall zu. Es sieht immer mehr danach aus, als ob selbst der Chef des bayri­schen Staats­schutzes Dr. Hans Langemann (Heiner Lauter­bach) mächtig Dreck am Stecken hätte.

Der blinde Fleck ist ein Polit­thriller mit einem inves­ti­ga­tiven Jour­na­listen als Helden und Haupt­dar­steller, der ganz klar von Alan J. Pakulas Klassiker Die Unbe­stech­li­chen (1976) inspi­riert ist. Eine direkte Verbin­dung zu dem Film über die Unter­su­chungen zweier ambi­tio­nierter Jour­na­listen zur Watergate-Affäre existiert in der Figur den Infor­manten „Meyer“. Dieser hat nicht nur die gleiche Rolle des geheim­nis­vollen Insiders, wie der im Watergate-Fall als „Deep-Throat“ berühmt gewordene geheime Informant. Auch die Begeg­nungen Chaussys mit „Meyer“ unweit einer abge­le­genen S-Bahn-Station gleichen insze­na­to­risch auf frap­pie­rende Weise den Treffen der Reporter der Washington Post mit „Deep-Troat“ in einer einsamen Tief­ga­rage. Das ist prin­zi­piell keine schlechte Sache. Denn in beiden Filmen gehören die entspre­chenden Szenen zu den visuellen High­lights in ansonsten optisch eher unspek­ta­ku­lären Filmen.

Im Gegensatz zu einem typischen Thriller ameri­ka­ni­schen Zuschnitts ist Der blinde Fleck weder action­reich noch glamourös. Statt­dessen ist der Grundton realis­tisch und boden­s­tändig. Benno Fürmann ist kein Robert Redford in seiner Rolle als inves­ti­ga­tiver Jour­na­list. Das ist aber auch nicht notwendig. Denn erstens spielt Fürmann seine Rolle als Chaussy ganz hervor­ra­gend und zweitens ist sein recht geerdeter Charakter wesent­lich glaub­hafter, als der typische Strah­le­mann in einem ameri­ka­ni­schen Film. Auch Heiner Lauter­bach als der skru­pel­lose Macht­mensch Dr. Hans Langemann ist kein üblicher Hollywood-Bösewicht, sondern ein sehr real erschei­nendes Ekel mit scharfem analy­ti­schem Verstand. Und da, wo fast jeder ameri­ka­ni­sche Thriller ein paar Action­szenen in den Film einbaut, die zwar nicht hand­lungs­re­le­vant sind, die aber das infantile Gemüt der ange­peilten jugend­li­chen Ziel­gruppe in den USA befrie­digen, da verzichtet Der blinde Fleck selbst da auf spek­ta­ku­läre Bilder, wo sie sich direkt aus dem Geschehen heraus ergeben würden. So wird der in der rechten Szene als „Wolfszeit“ bezeich­nete und als Ehrentod aufge­fasste Suizid zweier Tatver­däch­tiger nur so weit ange­deutet, dass der Zuschauer weiß, was jetzt gleich geschehen wird.

Das mag manch einer als recht trocken empfinden, denn hier entsteht die Spannung aus der eigent­li­chen Recher­che­ar­beit heraus. Wenn man sich jedoch darauf einlassen kann, dann offenbart sich Der blinde Fleck als ein nicht nur span­nender, sondern auch als ein sehr eigen­s­tän­diger deutscher Genrefilm. Dies ist einer der leider noch äußerst raren gelun­genen Versuche hier­zu­lande einmal nicht nur eine zuvor als kommer­ziell erfolg­reich erkannte Formel aus den USA möglichst eins zu eins zu kopieren. Statt­dessen beweisen die Macher den Mut einen eigen­s­tän­digen Weg zu gehen. Von den bereits erwähnten Anklängen an Die Unbe­stech­li­chen abgesehen verweist nichts in diesem Film auf die omni­prä­senten Vorbilder aus Übersee. Statt­dessen ist in Der blinde Fleck ein genuin europäi­scher filmi­scher Einfluss weitaus deut­li­cher:

Bereits die monochrom einge­färbten, knallig-bunten Eröff­nungs­bilder des Vorspanns erinnern sofort an italie­ni­sche Genre­filme der siebziger Jahre. Die Italiener, die sowohl unter den Verflech­tungen aus Mafia, Politik und Wirt­schaft, als auch unter dem Terror der Roten Brigaden zu leiden hatten, haben eine ganz eigene Art an harten und realis­ti­schen Polit­thril­lern hervor­ge­bracht, die sich in ihrem nihi­lis­ti­schen Grundton sehr stark von entspre­chenden Holly­wood­filmen abgrenzen. Es ist das Kino solch enga­gierter Genre­filmer wie Elio Petri und Damiano Damiani. Diese Filme­ma­cher verbanden ernst­hafte gesell­schaft­liche Kritik und poli­ti­sche Aufklä­rung mit Unter­hal­tung und schufen so eine ganz eigene Variante des Genre­films, der gleich­be­rech­tigt neben dem offi­zi­ellen Auto­ren­kino bestehen konnte.

Der blinde Fleck bleibt am Ende zwar doch eine Spur zu harmlos, um in dieser europäi­schen Liga mitspielen zu können. Ein sehr erfreu­li­cher Ausnah­me­fall in der von Konfor­mität und Mutlo­sig­keit geprägten deutschen Kino­land­schaft ist er aber allemal.