Deutschland 2021 · 99 min. · FSK: ab 6 Regie: Uli Decker Drehbuch: Rita Bacacs, Uli Decker Kamera: Siri Klug Schnitt: Amparo Mejias, Frank J. Müller |
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Identität zwischen Höhen und Tiefen | ||
(Foto: Flare Film) |
»Menschen wie ich sollten von der Liebe lieber Abstand halten und unser Leben in den Dienst der Menschheit stellen, zum Beispiel als Nonne oder Missionsärztin.« – Wie sehr können rigide und perfide gesellschaftliche Normen über Generationen die persönliche Entwicklung und Entfaltung bestimmen? Wie sehr dringen sie in unsere intimsten Gedanken und Wünsche vor und verursachen physische Bedrängnis? Fürchterliches Herzrasen, wochenlang Blut schwitzen und nur durch den Gedanken zittert der ganze Körper. Symptome purer Panik, von Ausgrenzung und eigener Verdrängung. Über allem ein grauer Schleier, eine riesige dunkle Wolke und das Unvermögen, sich selbst lebendig zu fühlen. Schuld und Heilung im Katholizismus.
Uli Decker hat für die Realisation ihres Langfilmdebüts Anima – Die Kleider meines Vaters sechs Jahre am Existenzminimum gelebt. Alle ihre Reserven und Überzeugungen hat sie dieser Hybrid Documentary gewidmet. Bereits vor 17 Jahren, als ihr Vater plötzlich starb, entstand die Idee, ihre Familiengeschichte in ein Drehbuch zu verwandeln. Praktisch als direkte Reaktion auf das Enthüllen des Doppellebens, mit dem der Vater seine zwei Töchter bis dahin unfreiwillig umgeben hatte. Noch für Jahre verfolgte Decker das Projekt dennoch nicht konkret weiter. Es kam ihr zu nah und allein der Gedanke, wie das direkte Umfeld in ihrem Heimatdorf nach der Veröffentlichung auf ihre Familie reagieren könnte, hielt sie zurück oder ließ sie zumindest zögern. Schließlich wurde die Zusammenarbeit mit der Drehbuchautorin Rita Bakacs entscheidend für die Wiederaufnahme. Decker sei zu Beginn von Persepolis inspiriert gewesen, das Budget ließ eine solche Umsetzung allerdings nicht zu. Und dennoch erinnern die Animationen durch Collagen mit Familienfotos an diesen Ursprung. Für die Regisseurin ermöglichen sie den Ausdruck und das Mischen von Tieftraurigem und Komischem, dem Sichtbarem und das Kreieren des Verborgenen: »Ich schluckte ein paar Tabletten von Oma und bereitete mich auf das Ende vor. Am nächsten Tag wachte ich mit Kopfschmerzen wieder auf. Mit höllischen Kopfschmerzen.«
Für den Film nutzt die Regisseurin eigene Erinnerungen und die Tagebucheinträge ihres Vaters, um einen Dialog zwischen ihm und ihr als Tochter zu imaginieren. Gleichzeitig erzählt sie das Aufwachsen ihres Vaters und ihr selbst in der tiefen bayrischen Provinz. Wäre dieser Film Fiktion, könnten wir ihn auch als klassischen Coming-of-age bezeichnen.
Nach der Geburt seiner ersten Tochter ist seine Frau noch für eine gewisse Zeit auf der Wochenbettstation. Ihre Abwesenheit bedeutet für ihn in diesem Moment vor allem die Möglichkeit zu transvestieren. Auf einem Foto im Familienalbum betrachtet er sein erst wenige Wochen altes Kind. Der Text daneben beschreibt die Szene mit: »Meinem Pappi glaube ich alles.« Uli Decker kommentiert dazu aus dem Off: »Du hast mir also dein Doppelleben in die Wiege gelegt und ich musste dich vom ersten Tag meines Lebens mit deinem geheimen Dasein teilen.«
Das Geheimnis trennt den Mann und seine Familie, denn der Ausdruck seiner inneren Leidenschaft für die Transvestie existiert parallel zum Familienleben. Für alle bedeutet es die Spannung eines Kartenhauses auszuhalten, das in jedem Augenblick einzustürzen droht. Er ist sich seines Konstrukts, dem sich seine Familie unterordnen muss und auch seinen Folgen, bewusst.
Anima exploriert die Seelen ihrer Protagonisten in dieser scheinbaren Bilderbuchfamilie, mit dem großen Wunsch, sie frei zu lassen.