Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte

Deutschland 2009 · 94 min. · FSK: ab 12
Regie: Birgit Schulz
Drehbuch:
Kamera: Isabelle Casez, Axel Schneppat
Schnitt: Katharina Schmidt
Otto Schily, ehemals Anwalt der APO

Die Lust an der Dissidenz

»Der Wider­spruch ist das Zeichen der Wahrheit.« Vom Philo­so­phen Hegel stammt dieses Zitat; es fällt in diesem Film, als Horst Mahler versucht, seine poli­ti­sche Biogra­phie zu erklären, die ihn vom APO-Anwalt über Unter­grund und Haft in Stammheim zum NPD-Mitglied und Holocaust-Leugner werden ließ. Im ersten Moment scheint dieser Weg wie Hegels Ausspruch schwer vers­tänd­lich. Man könnte es aber auch einfacher, aber nicht weniger doppel­sinnig sagen, mit Otto Schily, der Mahler seiner­zeit die Gesamt­aus­gabe von Hegels Werken ins Gefängnis gebracht hat, die dieswer dann in den folgenden Jahren durch­ar­bei­tete: »Nur Idioten ändern sich nicht.«

Otto Schily, Hans-Christian Ströbele und Horst Mahler – drei Namen, die aufs Engste mit der deutschen Poli­tik­ge­schichte seit den sechziger Jahren verbunden sind. Drei hoch­be­gabte deutsche Anwälte, die stärker als ihre Kollegen gegen Unge­rech­tig­keit und die Miss­stände des Rechts­staats kämpfen wollten. Sie waren wohl nie wirkliche Freunde, aber eine Zeit lang waren sie enge Kollegen, bevor sie ihr Weg zunächst allmäh­lich, dann radikal vonein­ander distan­zierte.

Der erste Eindruck, nachdem man Birgit Schulz' hoch­in­ter­es­sante Zeitreise durch vier Jahr­zehnte bundes­re­pu­bli­ka­ni­scher Poli­tik­ge­schichte hinter sich hat, ist bloßes Erstaunen: Warum eigent­lich ist nicht früher jemand auf die Idee gekommen, diese Geschichte zu erzählen? Die Geschichte jener drei »Links­an­wälte«, die sich im West-Berlin der späten Sechziger in den Nachwehen des 2. Juni 1967 kennen­lernten, die als APO-Anwälte berühmt wurden und 1969 das »sozia­lis­ti­sche Anwalts­kol­lektiv« gründeten, deren Lebens­wege sich dann aber radikal trennten. Ein Jahr später ging Mahler in den Unter­grund, wurde RAF-Anhänger und wegen verschie­dener Delikte im Rahmen seiner »Unter­s­tüt­zung einer krimi­nellen Verei­ni­gung« später zu 14 Jahren Haft verur­teilt. Otto Schily und Hans-Christian Ströbele vertei­digen zunächst ihn und später weitere führende RAF-Terro­risten bei den Stammheim-Prozessen, danach landeten sie im Bundestag bei den Grünen. In den späten 80ern mündete ihre schlei­chende Distan­zie­rung vonein­ander in mehr oder weniger direkte poli­ti­sche Gegner­schaft: Ströbele ist bis heute das links­al­ter­na­tive Gewissen seiner Partei, die Schily bereits 1989 verließ und zur SPD wechselte.

Was die Geschichte dieser etwa gleich­alten Männer so faszi­nie­rend macht, ist die Bewegung, die sie von einem gemein­samen Ausgangs­punkt zu scheinbar völlig entge­gen­ge­setzten poli­ti­schen Haltungen führte – obwohl sie von sich selbst jeweils sagen würden, sie seien sich treu geblieben. Es ist wie eine ganz Hegelsche dialek­ti­sche Entfal­tung eines Stand­punkts, der in seine Extreme zerlegt wird, in Haltungen, die aber sämtlich in ihm bereits angelegt sind.

Die Regis­seurin, die lange Inter­views mit allen Dreien führte und diese in ihrem Film geschickt mit Archiv­ma­te­rial montiert, sowie mit einem eingän­gigen elek­tro­ni­schen Sound­track unterlegt, symbo­li­siert den genannten Ausgangs­punkt zu Beginn durch eines der wenigen Fotos, das alle drei gemeinsam während des Mahler-Prozesses zeigt, in dem Schily und Ströbele den Kollegen vertei­digten.

Das Bild stammt von 1973, dem Prozess gegen Horst Mahler. Da ist die gemein­same Geschichte schon fast vorbei. Begonnen hatte sie sieben Jahre früher: am 2. Juni 1967 in Berlin, als der Student Benno Ohnesorg aus bis heute unge­klärten Umständen von der Polizei erschossen wurde.

»Was den Fall so düster macht ist, dass viel Beweis­ma­te­rial verschwunden ist. Gab ja auch Film­auf­nahmen, die sind merk­wür­di­ger­weise vernichtet worden. Deshalb bleibt natürlich ein großer Zweifel, was da wirklich geschehen ist«, resümiert Otto Schily. Dagegen bringt Horst Mahler die wider­sprüch­li­chen Einschät­zungen gut auf den Punkt: »Für mich war es die Bestä­ti­gung der marxis­ti­schen Theorie über die Rolle des Staates als Instru­ment der Herr­schenden; für Schily der Zusam­men­bruch rechts­staat­li­cher Illu­sionen, er hat sich da als Liberaler radi­ka­li­siert.«

Schon in diesen unter­schied­li­chen Reak­tionen wird der Unter­schied der Tempe­ra­mente erkennbar, die auch drei verschie­dene Varianten der Bewegung von ‘68 reprä­sen­tieren: Ströbele – der betrof­fene Gewis­sens­mensch; Schily – der Reformer, der den Rechts­staat verbes­sern will; Mahler der Revo­lu­ti­onär, der auch zur Gewalt bereit ist. Viel­leicht waren die jewei­ligen Haltungen tatsäch­lich schon damals verschie­dener als sie auf den ersten Blick scheinen, viel­leicht gibt es zugleich aber, diesen Eindruck legt zumindest der Film nahe, unter­gründig zwischen den Männern eben doch mehr Gemein­sam­keiten als man von heute aus gesehen wahrhaben möchte.

Am blas­sesten erscheint alles in allem Hans-Christian Ströbele. Und zugleich am humansten: Glaubhaft schildert er, wie die Ermordung Benno Ohnesorgs und ihre Vertu­schung zu seinem »Schick­salstag« und Anlass seiner Poli­ti­sie­rung wurde: »Das hat mein Gerech­tig­keits­emp­finden mobi­li­siert.« Eindrück­lich beschreibt er die Erschüt­te­rung bei seinem letzten Besuch bei Holger Meins vor dessen Tod durch Hunger­streik. Bis heute strahlt Ströbele im Vergleich zu seinen Kollegen von einst immer etwas Jungen­haftes aus, aller­dings auch etwas Naives: So konnte er sich während des Stammheim-Prozesses »nicht vorstellen«, dass Vertei­di­ger­ge­spräche abgehört wurden – was Baden-Würt­tem­bergs Justiz­mi­nister noch während des Prozesses zugab. Eben­so­wenig, dass Waffen in den Stamm­heimer Zellen versteckt sein könnten.

Demge­genüber wirken Schily und Mahler cooler, härter. Sie sind die eigent­li­chen Antipoden eines unaus­ge­spro­chenen Dramas, das extrem viel erzählt über die Poli­tik­ge­schichte unseres Staates, wie über den Geist jener zweiten Grün­dungs­ge­ne­ra­tion der west­deut­schen Republik, die noch als Kind den Krieg erlebte, aber nicht mehr selbst kämpfen musste. Genau damit hat dann auch der einzige Augen­blick im Film zu tun, an dem man einmal sieht, wie Otto Schily doch von seinen Gefühlen übermannt wird und mit den Tränen kämpft: Bei einer Bundes­tags­rede, als er von seinem Onkel erzählt, der als Flie­ger­of­fi­zier getötet wurde, seinem Bruder, der in Russland schwer verwundet wurde, und seinem Schwie­ger­vater, der als Partisan gegen die Wehrmacht kämpfte. Das einzige Gefühl, dass sich Schily ansonsten öffent­lich zu zeigen erlaubt, ist Zorn: Etwa in seinen Reden und Inter­views während des Stammheim-Prozesses, als er in weiten Teilen der Öffent­lich­keit als Terror-Sympa­thi­sant verächt­lich gemacht wurde, und sich manche Politiker aller Parteien zu aus heutiger Sicht unglaub­li­chen Äuße­rungen und Vorver­ur­tei­lungen hinreißen ließen, wie zu Taten, die jeder demo­kra­ti­schen Gesinnung Hohn sprechen. »Wir führen gegenüber der Macht das Argument des Rechts ins Feld« sagte Schily damals.

Im Gedächtnis bleiben gerade diese Passagen über Stammheim, in denen von Einschüch­te­rung erzählt wird, von Sonder­ge­setzen zum Ausschluß der Vertei­diger die Rede ist, vom Versuch der Krimi­na­li­sie­rung der RAF-Anwälte auch durch demo­kra­ti­sche Politiker, zeigt Schulz hervor­ra­gend, was sich in den letzten 35 Jahren bei uns verändert hat, und welchen Dienst vor allem Schily durch seine hart­nä­ckige, aber nie paktie­rende Vertei­di­gung der Ange­klagten, dem Rechts­staat erwiesen hat. Wo Ströbele von Gerech­tig­keit spricht, beharrt Schily in aller Eloquenz vor allem auf Rechts­staat­lich­keit und sieht hier bis heute seine seiner­zei­tige Vertei­di­gung ganz auf einer Linie mit seinem späteren Verhalten als Innen­mi­nister: Recht und Ordnung sind zwei Seiten derselben Medaille, es kann das eine nicht ohne das andere geben.

Gegen den beliebten Vorwurf der Eitelkeit und Selbst­herr­lich­keit wird Schily sogar von Mahler in Schutz genommen: »Es war keine Eitelkeit, sondern das Bewusst­sein, dass er zu einer geistigen Elite innerhalb der Anwalt­schaft gehörte.« Es ist überhaupt Mahler, der über­ra­schen­der­weise für die Ex-Kollegen immer wieder freund­liche und einsichts­volle Worte findet. Neben dem Gerech­tig­keits­kämpfer und Gutmensch Ströbele und dem Recht­staats-Feti­schisten und Schön­geist Schily ist Mahler der Revo­lu­ti­onär, dessen Utopismus und Anar­chismus noch in seinen übelsten rechts­ex­tremen Verren­nungen etwas Sympa­thi­sches ausstrahlt – auch wenn er heute als einer erscheint, der sich rettungslos verrannt hat, eine irgendwie absurde, aller­dings auch traurige Figur. »Eine Tragödie«, sagt Schily über Mahler, und nach Schulz' Film dominiert funda­men­tales Unver­s­tändnis darüber, wie ein derart intel­li­genter Mensch zum Rechts­ra­di­kalen und Holocaust-Leugner werden konnte, der vor einem Haufen Neonazis theo­re­tisch über­frach­tete, mitunter verwor­rene und manchmal nur wider­liche Reden hält, die sein Publikum erkennbar über­for­dern. Kurz nach den Dreh­ar­beiten wurde Mahler, nach eigenem Vers­tändnis nach wie vor ein Revo­lu­ti­onär, wegen Volks­ver­het­zung zu sechs Jahren Haft verur­teilt. Oder sollte es ihm, der es schon als Anwalt verstand, jeden Prozess zur Bühne für seine poli­ti­schen Ansichten zu instru­men­ta­li­sieren, auch hier wieder vor allem um schiere Provo­ka­tion der Mächtigen gehen?

Wer Schulz' Film sieht, bekommt zumindest den Eindruck, dass es Mahler viel weniger um Ideologie geht als um den Charme der Dissidenz. Darin ähnelt er den beiden anderen.

Was den drei früheren »Links­an­wälten« über alle Gräben jeden­falls gemeinsam ist, ist die Lust am Wider­spruch und eine seltsame Unbe­küm­mert­heit gegenüber Mehr­heiten. Darin sind sie nicht nur Erben der Revolte von 1968, sie stehen auch in der Tradition eines liber­tären, indi­vi­dua­lis­ti­schen, an Gesin­nungs­ethik gekop­pelten Frei­heits­ver­s­tänd­nisses, dessen unter­schied­liche Facetten sie in ihren Biogra­fien leben und beglau­bigen. Dieses Frei­heits­ver­s­tändnis entstammt, auch wenn solcher Wider­stands­geist in Deutsch­land eher schwach ausge­prägt ist, ganz der klas­si­schen bürger­li­chen Kultur. Deren unter­schied­liche Facetten, seine Triumphe wie Abgründe, entfalten sich in allen drei kompli­zierten Biogra­fien. Der Unter­titel des Films lautet »eine deutsche Geschichte«. Und das ist diese hoch­in­ter­es­sante Zeitreise tatsäch­lich: Eine Geschichte, die einer­seits viel erzählt von der Geschichte der Bundes­re­pu­blik, davon wie der west­deut­sche Staat erst auch innerlich zur Demo­kratie wurde.

Alle drei Anwälte gehörten jener Über­gangs­ge­ne­ra­tion an, der man einmal die »Gnade der späten Geburt« unter­stellte: zu jung, um noch Soldat zu werden, aber alt genug um das Terror­system der Nazis am eigenen Leibe zu erleben. Alle drei eint eine gewisse elitäre Grund­hal­tung, das selbst­be­wußte Gefühl, unge­wöhn­lich, etwas Besseres und zu beson­deren Aufgaben geboren zu sein. Schulz arbeitet dies sehr gut heraus. Indirekt erzählt sie in der Geschichte der drei Anwälte auch ein Stück deutscher Geis­tes­ge­schichte, sie erzählt, wie die Bundes­re­pu­blik wurde, was sie ist.

Ein hoch­span­nender, irri­tie­render Doku­men­tar­film, jenseits der beliebten Wohl­fühl­do­ku­men­ta­tionen, heraus­ra­gend, gerade weil man das Kino nicht mit eindeu­tigen Antworten verlässt.