American Honey

Großbritannien/USA 2016 · 164 min. · FSK: ab 12
Regie: Andrea Arnold
Drehbuch:
Kamera: Robbie Ryan
Darsteller: Sasha Lane, Shia LaBeouf, McCaul Lombardi, Arielle Holmes, Riley Keough u.a.
Verlustgeschichten des amerikanischen Traums

Easy Dreamer

»Nawfside cooling, shorty, yeah that’s where I stay
Heard you was a lame boy, get up out my face
And my ex keep calling, swear that she be in the way
And I need a thick Redbone shorty where I lay
Bad bihh in LA tell me that she’ll make the trip
Shorty bad as hell, yeah, with them Kylie Jenner lips
Uber every fucking where, pre-rolls in my VIP
Canada jawn, yeah I think that bitch from the 6«

Uber Ever­yw­here by madeintyo, Prod. K Swisha

Wenn das Leben scheiße ist, müssen die Träume nicht groß sein, die einem am Leben erhalten. Nur unter diesem Einge­ständnis lässt sich begreifen, was die jugend­lich-jungen Prot­ago­nisten in American Honey umtreibt, als Teil einer Drücker­ko­lonne durch Amerikas Mittleren Westen zu ziehen und Zeit­schrif­tenabos zu verkaufen. In einer Zeit, da eigent­lich keiner mehr noch Zeit­schriften liest und ihr prozen­tualer Anteil am Verkauf ein Witz ist. Und eigent­lich könnte hier schon Schluss sein, denn mehr Sinn und mehr Plot wird in diesem fast dreis­tün­digen Film im Grunde nicht geboten.

Doch da American Honey – in Cannes mit dem Preis der Jury ausge­zeichnet – ein Film der Englän­derin Andrea Arnold ist, die nicht nur in Fish Tank bewiesen hat, wie filigran und über­ra­schend man eine Coming-of-Age-Geschichte erzählen kann, sondern auch in ihren für Trans­pa­rent verant­wor­teten Folgen gezeigt hat, wie brennglas-intensiv, komplex und doch fast spie­le­risch man in 30 Minuten verbor­gene Grup­pen­dy­na­miken charak­te­ri­sieren kann, so werden von ihr auch in American Honey Sinn und Plot mit etwas aufge­laden, das so selten ist wie Sauer­stoff im Weltraum: mit rauer Poesie, einer gnaden­losen ethno­gra­fi­schen Beob­ach­tungs­gabe und einer expres­sio­nis­ti­schen Hand­schrift, die einem noch wochen­lang im filmi­schen Gedächtnis haften bleibt, und die die wilden Striche zu einer langsamen Verfor­mung von Sinn und Schönheit werden lässt. Ein Film, der wie wenige andere gefangen hält wie die Schönheit einer bösen Blume oder die selige Wirkung einer gefähr­li­chen Droge.

Dabei ist es schwer zu dechif­frieren, wie es Arnold eigent­lich genau gelingt, diese Stärken filmisch umzu­setzen. Sind es ihre Neben­dar­steller, die sie auf Park­plätzen, Baustellen oder Messen gefunden hat oder ihre Haupt­dar­stel­lerin Sasha Lane, die Arnold während eines Urlaubs mit Freunden entdeckt hat, die mit Hollywood-Profis wie Shia LaBeouf und Riley Keough auch inhalt­lich eine reibungs­volle Trans­for­ma­tion zum Erwach­sen­werden vollzieht? Ist es Arnolds »engli­scher« Blick auf die »andere« Kultur Amerikas, das der armen Weißen, das sich kaum von dem zu unter­scheiden scheint, das in den 1970er Jahren der Däne Jacob Holdt von der margi­na­li­sierten Subkultur des »schwarzen« Amerikas foto­gra­fiert hat? Oder sind es Arnolds Anspie­lungen auf andere filmische Coming-of-Age-Situa­tionen, Paral­lel­welten des großen ameri­ka­ni­schen Traums, sei es Dennis Hoppers Easy Rider, Larry Clarks Kids oder Debra Graniks Winter’s Bone, die, kaum erwähnt, gleich wieder hinter sich gelassen werden?

Denn Arnold gelingt es über »ihre« Kids, die an jeder Haustür – mal reich, mal arm – klingeln, um ihre Abos loszu­werden, nicht nur den tiefen Riss der ameri­ka­ni­schen Gesell­schaft zu postu­lieren, sondern ihn auch spürbar zu machen. Jedes Eindringen in einen neuen Haushalt – und sei es auch nur die Kabine eine Truck-Drivers – erzählt eine weitere Verlust­ge­schichte des ameri­ka­ni­schen Traums, zeigt, dass wo es mal einen soliden Mittel­stand gab, nur mehr die Extreme am Ende der Skala übrig­ge­blieben sind. Und sie erklärt darüber hinaus die Identität der Eindring­linge, die jung und arm sind, frei und ohne Zukunft leben, denen die Drogen während ihrer Afterhour-Partys fast so egal sind wie das Geld und die über­rascht sind, wenn sie tatsäch­lich einmal jemand fragt, was denn ihr großer Traum im Leben sei.

Arnold unterlegt diese Beob­ach­tungen mit einem klugen, vibrie­renden, geilen Sound­track, der die Geschichte gleich noch einmal erzählt. Den iden­ti­täts­stif­tenden, dysto­pi­schen Southern Trap-Hip-Hop-Elementen des Anfangs, die die White Trash-Herkunft der von Sarah Lane verkör­perten »Star« und die ihrer Kollegen und Freunde untermalt, steht ein zunehmend stärker werdender Einfluss »utopis­ti­scher« Musik gegenüber, sei es Bruce Springs­teens mora­li­scher Aufbau­song »Dream Baby Dream« oder der den Titel des Films inspi­rie­rende, Geigen- und gitar­ren­las­tige, tröstende Country von »Lady Ante­bellum«.

Damit verrät Arnold die Geschichte ihrer Prot­ago­nisten keines­wegs. Denn die Hoffnung, die nicht nur musi­ka­lisch impli­ziert wird, ist real. Auch wenn es sich dabei um die letzte und einzige Hoffnung und viel­leicht basalste Fähigkeit der mensch­li­chen Natur handelt – die Fähigkeit auch außerhalb von kaputten Fami­li­en­ver­hält­nissen Bindungen einzu­gehen und – zu lieben.