Italien/B/F 2022 · 148 min. · FSK: ab 6 Regie: Felix Van Groeningen, Charlotte Vandermeersch Drehbuch: Charlotte Vandermeersch, Felix Van Groeningen Kamera: Ruben Impens Darsteller: Alessandro Borghi, Luca Marinelli, Filippo Timi, Elena Lietti, Gualtiero Burzi u.a. |
||
Mehr als nur ein Haus und zwei Leben in den Bergen... | ||
(Foto: DCM Film Distribution GmbH) |
»Kann die Vergangenheit ein zweites Mal vergehen?«
– Paolo Cognetti, Acht Berge
Man könnte es schon ein wenig mit der Angst kriegen, sieht man sich die ungewöhnliche Häufung an Bergfilmen an, die gerade in die Kinos kommen oder schon liefen: Adrian Goigingers großartiger Märzengrund vor kurzem, Hannah Dooses toller Wann kommst du meine Wunden küssen? in Kürze und jetzt Felix Van Groeningens und Charlotte Vandermeerschs Verfilmung von Paolo Cognettis 2017 erschienenem Spiegel-Bestseller Acht Berge. Und tatsächlich funktionieren diese Filme nicht viel anders als einige der Filme Luis Trenkers und Arnold Fancks, in denen die Idealisierung eines der Heimat- und Bergwelt verbundenen Lebens der Dekadenz der Städte und ihrer Bewohner gegenübergestellt wird. Und in der Frauen dann doch eher destruktive Kräfte haben, gegen die nicht einmal die Berge und alte Männerfreundschaften bestehen, so wie in Fancks Der heilige Berg, in dem Trenker, Leni Riefenstahl und Ernst Petersen dem Drama ihrer Gefühle und den Bergen sowieso heillos ausgeliefert sind.
Wer die Filme Felix Van Groeningens kennt, die vor intensivster Beziehungsarbeit nur so vibrierenden The Broken Circle Breakdown oder Beautiful Boy, weiß, dass auch Van Groeningen dysfunktionale Beziehungen besonders interessieren und dass ihm ein Buch wie das von Paolo Cognetti nicht nur der Bergwelt wegen als Vorlage dient – die nicht anders als bei Trenker und Fanck als Tableau für ein neues, anderes, vielleicht besseres Leben steht – sondern dass es Van Groeningen immer auch um den Weg dorthin geht, und der ist dann tatsächlich erheblich komplexer und moderner als die Wege der Bergfilme der 1920er und 1930er Jahre.
Denn Acht Berge, für den Van Groeningen und seine Regie-, Drehbuch- und Lebenspartnerin Charlotte Vandermeersch ihre erste Einladung in den Wettbewerb um die Goldene Palme und den Preis der Jury (zusammen mit Jerzy Skolimowskis EO) erhielten, lässt sich fast ein ganzes Leben Zeit, um die Geschichte einer Freundschaft zu erzählen. Es ist die von Bruno (Alessandro Borghi) und Pietro (Luca Marinelli), die sich kennenlernen, als die Familie Pietros Mitte der 1980er ein Haus in Grana, im Herzen des Aostatals, mieten und der elfjährige Pietro auf seinen Erkundungen den gleichaltrigen Kuhhirten Bruno kennenlernt und trotz völlig unterschiedlicher Lebenslinien – der eine geht wie in so vielen Märchen in die weite Welt, der andere bleibt zu Hause – mit ihm verbunden bleiben wird.
Im ersten Anschein mag diese Geschichte ein wenig archaisch wirken und gerade wegen der wie in Fancks Der heilige Berg eher »störenden« Frauenrollen scheinbar einem altbackenen hetero-normativen Beziehungsmodell verpflichtet sein. Doch im Kern der Geschichte geht es dann eigentlich viel weniger um die Beziehungen selbst, sondern wie man und frau sich gleichermaßen aus den Beziehungen befreien. Und das sind beileibe nicht nur Bruno und Pietro, die sich immer wieder neu aus ihrer eigenen Beziehung emanzipieren, sondern es ist auch Pietros Mutter, die sich im ersten Teil des Films emanzipiert, es ist Pietros Vater, der in Bruno den »besseren« Sohn hat und an dieser Beziehung arbeitet und es ist dann auch Brunos Frau, die handelt und Bruno seinen passiven (Auto-)Aggressionen überlässt und einer Vision von Freiheit, die weder mit unserer Gegenwart noch irgendwelchen sozialen Entitäten kompatibel ist.
Vandermeersch und Van Groeningen fügen diesen intensiven Lebens- und Beziehungsabgründen eine philosophisch-spielerische Weite hinzu, eine Suche nach Authentizität und sinnvollem Leben, die mit der großartigen Kamera von Ruben Impens und ihren hyperreal fotografierten Bergbildern dann doch mehr ist als diese einfache Geschichte einer Freundschaft, mehr als ein kritischer Heimatfilm, in der einer geht und der andere bleibt; in der viel mehr über das Kleine einer Freundschaft das Große einer ganzen Welt erzählt wird und aufregend und mutig dem ganzen Gedöns über all die Sinnsuchen unserer Zeit und das »richtige« Leben und den »wahren« Traum der gute alte Joseph Conrad entgegengehalten wird: »Wir leben wie wir träumen – allein.« Und am Ende die Sonne dann doch aufgeht, egal wie oft sie auch untergegangen sein mag.