15 Jahre

Deutschland/Ö 2023 · 144 min. · FSK: ab 12
Regie: Chris Kraus
Drehbuch:
Kamera: Daniela Knapp
Darsteller: Hannah Herzsprung, Hassan Akkouch, Christian Friedel, Albrecht Schuch, Adele Neuhauser u.a.
Einmal Klavier, immer Klavier...
(Foto: Wild Bunch / Central Film)

Hochkultur verrecke!

Chris Kraus’ Fortsetzung seines großen Erfolges ist so vorhersehbar wie überraschend, vor allem aber wegen der aufregenden Performance von Hannah Herzsprung sehenswert

»It’s better to burn out than to fade away.«
– Neil Young, My My, hey hey (Out of the Blue)

Es passiert eher selten, dass ein vor fast zwei Jahr­zehnten gesehener Film noch Bilder, ja sogar Emotionen hervor­ruft. Chris Kraus‘ Vier Minuten aus dem Jahr 2006 ist so ein Film. Und das nicht nur wegen der unge­wöhn­li­chen Geschichte, die sich mit der 20-jährigen »System­spren­gerin« Jenny beschäf­tigt, die (unschuldig) wegen Mordes einsitzt und kurz nach Antritt ihrer Haft­strafe auf die Pianistin Traude trifft, die im Frau­en­ge­fängnis Klavier­un­ter­richt gibt. Traude erkennt die musi­ka­li­sche Hoch­be­ga­bung Jennys, unter­richtet sie und baut trotz Jennys mangelnder Impuls­kon­trolle eine musi­ka­li­sche, aber auch eine private Beziehung zu ihr auf, die Kraus dazu nutzt, nicht nur ein unge­wöhn­li­ches Bezie­hungs­ge­füge zu konstru­ieren, sondern die Geschichte auch klug mit Dritter Reich-Historie zu verzahnen.

Vier Minuten endet emotional mit einem völlig ambi­va­lenten Happy End, das nicht nur durch die erzählte Geschichte, sondern auch durch seine über­ra­genden Haupt­dar­stel­le­rinnen Monica Bleibtreu als Traude Krüger und Hannah Herz­sprung als Jenny von Loeben zu einem groß­ar­tigen Film wurde. Zwar bekam Hanna Herz­sprung damals »nur« den baye­ri­schen Filmpreis für die beste Nach­wuchs­dar­stel­lerin – aber nur, weil Monica Bleibtreu den für die beste Haupt­dar­stel­lerin erhielt. Doch für Herz­sprung war es dann auch der Start in eine erfolg­reiche Karriere, die zwar immer wieder an unglück­li­cher Rollen­aus­wahl gelitten hat – man denke nur an die unsäg­liche Lehre­rin­nen­rolle im letzten Aufguss von Das fliegende Klas­sen­zimmer im letzten Jahr – aber dennoch das gehalten hat, was sie damals mit der Rolle der Jenny verspro­chen hatte.

Und da das Schicksal ja manchmal doch seine gerechten Momente hat, erhält Herz­sprung 9.460.800 Minuten nach Vier Minuten doch noch den Baye­ri­schen Filmpreis als beste Haupt­dar­stel­lerin. Und wieder ist es die Rolle der Jenny, für die Herz­sprung ausge­zeichnet wird, aller­dings für die Fort­set­zung, die, so wie der Titel es mehr als andeutet, 15 Jahre nach Jennys furiosem Abschluss­kon­zert einsetzt.

Was in den 15 Jahren passiert ist, ist dann auch schnell erzählt und genauso schnell ist auch klar, dass 15 Jahre in Haft noch keinen neuen Menschen machen, sondern Jenny ganz die alte ist – trotz ihres Versuchs, in einer christ­li­chen Reso­zia­li­sie­rungs­gruppe ihre System­spren­ger­ge­fahr in den Griff zu kriegen. Und als ob es die 18 Jahre seit Vier Minuten nicht gegeben hat, versenkt sich Herz­sprung in diese Rolle und spielt sie so furios wie damals, ist ihr Spiel sogar noch diffe­ren­zierter, vor allem die leicht verschleppte Arti­ku­la­tion, die in wunder­barem Einklang mit ihrer verschleppten Körper­sprache steht und sich nur dann auflöst, wenn Musik im Raum erklingt oder diese Wut, diese herrliche, diese unbe­re­chen­bare Wut, die alle nur mögliche Kritik an einer verlo­genen Hoch­kultur auszu­drü­cken scheint, sich in ihr zu regen beginnt.

Was Kraus macht, um diese Momente zu provo­zieren, ist dann aller­dings so abstrus, grotesk und melo­dra­ma­tisch, dass man sich als Zuschauer wirklich entscheiden muss, mitgehen zu wollen. Geht man mit, machen auch die anderen Darsteller, machen Albrecht Schuch, Hassan Akkouch oder Christian Friedel und ihre Geschichten Spaß, ist es dann auch die wilde Emotio­na­lität von damals, die wieder lebt und einen weiteren Film so durch­tränkt, als würde der alte Punk der 1970er und 1980er an die Tür klopfen und Eintritt fordern, was Jenny im Lauf des Films dann auch ganz im Sinne Neil Youngs (und Johnny Rottens) formu­liert: »So lang du lebst, verschwende dich!« Und es ist dann auch das Unbe­re­chen­bare des Punks, was diesen Film besonders macht, weil er sich einfach nicht um die konven­tio­nellen Erzähl­ste­reo­typen des deutschen Films kümmert, sondern macht, was er will.

Wie er das macht, kann dann jedoch genauso schmerz­voll sein, geht man nicht mit, entscheidet man sich nach der ersten halben Stunde gegen diesen Weg, der eben nicht mutig, sondern feige ist, weil Vier Minuten mit über­großen Gesten und über­am­bi­tio­nierten, erzäh­le­ri­schen Bausteinen einfach noch einmal erzählt wird. Auch hier gibt es wieder Schatten der Vergan­gen­heit, die bewältigt werden müssen, und eine Gegenwart, die im Schatten dieser Vergan­gen­heit steht und dementspre­chend versehrt ist. Wie viel span­nender wäre es doch gewesen, Herzprung einmal nicht die Rolle spielen zu lassen, die ihr – einem Fluch gleich – auf den Leib geschrieben scheint und die sie viel­leicht schon einmal zu oft gespielt hat. Was für ein anderer Film hätte das sein können, eine Jenny zu sehen, die es endlich einmal anders macht, die sich wenigs­tens ein kleines bisschen, ein klein wenig unvor­her­seh­barer entwi­ckelt hat.

Was bleibt, sind dafür ein paar andere Über­ra­schungen und die wie auch immer gelagerte Gewiss­heit, dass es ein Prequel nicht geben dürfte, denn das hat Nora Fing­scheidt mit ihrem System­sprenger bereits vor ein paar Jahren reali­siert.

Achterbahnfahrt der Gefühle

Mitreißend: Hannah Herzsprung strahlt in der Hauptrolle von Chris Kraus' 15 Jahre

»Welche Farbe sehen Sie denn, wenn Sie sich erinnern?« – »Schwarz«

Jenny von Loeben trägt, das wird schon vor der zwangs­weise verord­neten Psycho­sit­zung bei der Thera­peutin klar, sehr viel Dunkel­heit und Ärger in sich. Sie hat mehr als nur ein Aggres­si­ons­pro­blem. Sie leidet vor allem unter dem Gewicht ihrer Vergan­gen­heit.
Die immer noch junge Frau, die 15 Jahre im Gefängnis war, steckt aber auch voller Poesie und Sensi­bi­lität. Sie ist eine hoch­be­gabte, ausdrucks­starke Pianistin. Sie will kein Klavier mehr anfassen, aber sie kann nicht von ihm lassen. Und natürlich sind es das Klavier und die Kunst, die diesen Film voran­treiben.

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Anfangs lebt das ehemalige Wunder­kind Jenny in einer christ­lich-thera­peu­ti­schen Wohn­ge­mein­schaft. Kraus hat ein Ensemble aus wunderbar kaputten Figuren zusam­men­ge­stellt.
Jenny will dieser Welt entkommen. Jenny lernt einen jungen syrischen Musiker kennen, die beiden verlieben sich und durch ihn und durch die Musik findet sie zur Musik und ins Leben zurück.

Doch das Leben hat sich in den letzten 15 Jahren stark verändert. Die Welt ist zwei-geteilt und über das Analoge, Haptische, mögli­cher­weise Echte, Natür­liche hat sich das Digitale gelegt: Eine künst­liche gekün­s­telte Medi­en­welt mit ganz eigenen Regeln und Gesetzen.

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Albert Schuch spielt Jennys Gegen­spieler namens Gimmemore, einen Show­master und Host einer trashigen Fern­seh­show.
In der sehr witzigen, sarkas­tisch-bitteren Darstel­lung dieser Show, übt Chris Kraus auch boshafte Medi­en­kritik. Da ist zwar wenig neu, und die Wirk­lich­keit ist so absurd, dass man sie kaum mit Kritik über­bieten kann. Trotzdem ist die Kritik so notwendig wie über­zeu­gend.
In ihm erkennt Jenny einen Menschen aus ihrer Vergan­gen­heit wieder – und nun wandelt sich das Melodram mehr und mehr in eine Rache­ge­schichte voller mora­li­scher Untiefen.

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Der Regisseur Chris Kraus ist ein Solitär in der deutschen Kino­land­schaft: Er gehört keiner Schule an, weder der Berliner mit ihren ruhigen Einstel­lungen, noch der Ludwigs­burger mit ihrer Liebe zum Genre; er dreht keine Komödien mit Schweiger oder Schweig­höfer, und keine Krimis.
Seine Themen sind eher die Familie und das Melodram. Seine Idole heißen unter anderem Fass­binder – und wie dieser steht sich Kraus, der auch schon Romane schrieb, mit seiner bedin­gungs- und kompro­miss­losen Art manchmal auch selbst im Weg: Weil er meistens alles will, erreicht er mitunter weniger, als er erreichen könnte.
Aber an seiner großen Regie-Begabung und seinem Wissen kann man nicht zweifeln. Unter anderem ist Chris Kraus auch ein hoch­be­gabter Schau­spie­l­er­re­gis­seur, der Paula Beer und Hannah Herz­sprung entdeckte, um nur zwei besonders bekannte Schau­spie­le­rinnen zu nennen.

Mit Herz­sprung drehte er 2006 auch seinen bisher erfolg­reichsten Film: Das Arthouse-Drama Vier Minuten, in dem Herz­sprung die Haupt­rolle spielte, an der Seite von Monika Bleibtreu. Die Geschichte dieses Films war abge­schlossen: Trotzdem kommt jetzt, einein­halb Jahr­zehnte später, eine Art Nach­fol­ge­film mit der gleichen Haupt­figur und einer neuen Geschichte ins Kino: 15 Jahre.
Wieder geht es um Musik, einer Klavier­vir­tuosin und ihre inneren Dämonen.

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15 Jahre ist aber keine direkte Fort­set­zung des Vorläu­fer­films, sondern ein ganz eigen­s­tän­diges Werk, das alles will, und viel erreicht: Eine Achter­bahn­fahrt der Gefühle und Szenen, die kraftvoll ist und emotional zwingend, gele­gent­lich tief, auch manchmal kitschig, aber immer mitreißend und oft unter­hal­tend.

Oder, besser noch mit Peter Körte in der FAS ebenso höflich formu­liert: »15 Jahre ähnelt in seiner Melo­dra­matik und im Einsatz von Musik mehr einer Oper als einer realis­ti­schen Erzählung.«

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Wer sie vor fast 17 Jahren im Kino gesehen hat, kann Jenny sowieso nicht vergessen haben: Jenny, die Haupt­figur von Chris Kraus' Film Vier Minuten.
Aber auch Hannah Herz­sprung, die Haupt­dar­stel­lerin, die nun als eben diese Figur auf die Kino­lein­wand zurück­kehrt.
Noch mehr als der Vorgänger ist nun 15 Jahre Hannah Herz­sprungs Film. Sie hält diesen Film zusammen, sie verknüpft – natürlich auch, weil sie einen bipolaren, zwischen Manie und Depres­sion schwan­kenden Charakter spielt – durch ihre Energie, ihre Ausstrah­lung und ihr Können die vielen Pole und losen Enden dieses Films. Gerade durch dessen Schwächen strahlen die Stärken von Herz­sprung um so mehr.

Es ist unfassbar, dass diese tolle Schau­spie­lerin nicht zu den bekann­testen, viel­be­schäf­tigsten unserer Filmszene gehört!
Es ist auch schwer zu verstehen, warum sie in den meisten ihrer anderen Filme dieses große Können nicht ähnlich über­wäl­ti­gend auf die Leinwand bringen konnte.

Allein schon wegen Hannah Herz­sprung, aber auch um ihrer Mitspieler wie um der sehr beson­deren Filmmusik willen, sollte man 15 Jahre nicht versäumen.