26.01.2006

Die geraubte Sicherheit

Daniel Auteuil und Julliette Binoche in CACHE
»Ein Film ist 24 mal Lüge pro Sekunde«
Caché von Michael Haneke

Michael Haneke über Kinoerinnerungen, Manipulation, sein Interesse für die Abgründe der Zivilisation und seinen neuesten Film Caché

Anfang Dezember gewann Michael Hanekes neuer Film Caché, einer beklem­menden Studie über Terror und Paranoia, über die Wieder­kehr des Verdrängten, die eine groß­bür­ger­liche Pariser Familie heim­su­chen, insgesamt fünf europäi­sche Filmreise, darunter die Auszeich­nung für den »Besten Film« und die »Beste Regie«. Auch beim Festival von Cannes wurde der Film mit dem Regie­preis ausge­zeichnet.

Der 1942 in München geborene Öster­rei­cher Michael Haneke gehört zu den span­nendsten Film­re­gis­seuren der Gegenwart. Mehrfach war er mit seinen Filmen – Benny’s Video, Funny Games, Code inconnu, La pianiste – im Wett­be­werb von Cannes vertreten, und gewann jeweils wichtige Preise – die »Goldene Palme« blieb ihm bisher aller­dings versagt. Hanekes Filme sind psycho­lo­gi­sche Fall­stu­dien über die Patho­logie der reichen Kons­um­ge­sell­schaft und bewegen sich im Bereich des Unbe­wussten, der Angst und der versteckten Gewalt.

Mit dem Regisseur sprach Rüdiger Suchsland.

(Das Interview wurde in Köln am 16. Juni 2005 geführt – aus Anlass der bevor­ste­henden Deutsch­land­pre­miere des in Deutsch­land geför­derten Films beim NRW-Film­kon­gress – vielen Dank an Katharina Blum und die Film­stif­tung NRW für Vermitt­lung.)

artechock: Warum sind Sie Film­re­gis­seur geworden?

Michael Haneke: Das frage ich mich auch manchmal. Ich wäre lieber Pianist geworden, aber leider hat mein Talent nicht gereicht. Gott sei Dank. Denn ich kenne viele Pianisten, die mittel­mäßig begabt sind. Das ist schreck­lich. Natürlich kann jeder machen, was er will. Es inter­es­siert mich dann nur nicht.
Warum habe ich, nie Shake­speare oder Tschechow aufge­führt, obwohl ich 20 Jahre am Theater gear­beitet habe, und beides für mich das Beste sind, was es in der drama­ti­schen Literatur gibt? Weil ich mich das nicht getraut habe. Weil ich es unver­ant­wortbar fand, notwendig so meilen­weit hinter dem Autor zurück­zu­bleiben. Diese perma­nente Form von Scheitern wollte ich mir nicht antun. Als Filme­ma­cher fühle ich mich dem Autor Haneke gewachsen. Das ist eine gute Lösung.
[Ich wollte auch etwas werden, das mir ange­messen ist, bei dem ich mich nicht verbiegen muss.] Wenn Sie selber die Dreh­bücher schreiben und sie verfilmen, ist die Chance, eine Identität zwischen Inhalt und Form zu finden, größer, als in jeder anderen Kunst.

artechock: Wie hat sich Ihr eigener Blick entwi­ckelt? Was ist Ihre erste Kino­erin­ne­rung?

Haneke: Meine Groß­mutter hat mich ins Kino mitge­nommen – da war ich viel­leicht vier oder fünf Jahre alt. Der Film war Hamlet von Lawrence Olivier. Am Anfang dieses Films braust draußen ein heftiger Sturm, die Wogen des Meeres klatschen an das Schloss, es ist Nacht und alles sehr dunkel. Ich habe so vor Angst geschrieen, dass meine Groß­mutter mit mir nach drei Minuten wieder gehen musste. Ich weiß nicht genau, ob das meine erste Erin­ne­rung ist, oder ob mir das meine Groß­mutter später erzählt hat.

artechock: Es gibt den spezi­ellen Haneke-Touch, einen Blick auf die Dinge und die Verhält­nisse. Wie hat sich dieser Blick entwi­ckelt?

Haneke: Es gibt für mich drei Kino­er­fah­rungen: Die erste mit meiner Groß­mutter, die ich gerade erzählte. Dann wurde ich als Sechs­jäh­riger – es gab damals so ein Programm von skan­di­na­vi­schen Ländern für die Kinder der Kriegs­ver­lierer – zur Erholung drei Monate nach Dänemark geschickt. Eine Familie nahm mich auf, die waren sehr nett, aber für einen Sechs­jäh­rigen ist es trotzdem der absolute Horror, so lange von zuhause weg zu sein. Die haben mich mit ins Kino genommen. Da gab es einen Film, der spielte in der Savanne, man sah Giraffen, Löwen – es war super. Aber draußen regnete es. Und ich habe nicht verstanden, warum ich dann plötzlich nach der schönen Sonne wieder im Regen stand. Das war die zweite Erfahrung.
Die dritte Erfahrung war ein Film von Tony Richardson. Da dreht sich plötzlich der Darsteller in die Kamera und wendet sich an die Zuschauer – ich fiel vom Stuhl, dass man mir so die Illusion nahm. Ich glaube, wenn man diese drei Erfah­rungen zusammen denkt, dann sagt das was über meine Position dem Kino gegenüber: Wer das Kino nicht kennt, hat nicht die Distanz, die für seine Erfahrung nötig ist. Und die Gefahr der Mani­pu­la­tion ist somit viel größer. Das ist das Thema. Ich erfahre es immer wieder – selbst bei meinen Wiener Studenten, die sich immerhin mit Film beschäf­tigen, aber doch in einer ganz naiven Weise mit dem Medium umgehen.

artechock: Wie ließe sich solche Naivität aufbre­chen?

Haneke: Über den Schock. Filme müssen einen Nerv treffen. Je schmerz­hafter die Wunde ist, um so mehr werden sich die Leute auch dafür und dagegen entscheiden. Und das ist es schon, was ich als Filme­ma­cher will, denn das ist auch das, was ich selber will, wenn ich ins Kino gehe.
Der Film, der mich in meinem Leben am meisten weiter gebracht hat, war seiner­zeit Saló oder die 120 Tage von Sodom von Pasolini. Der Film hat mich völlig fertig gemacht. Pasolini zeigte Gewalt als das, was sie wirklich ist: Leiden der Opfer. Das fand ich uner­träg­lich. Das ist bis heute der Film, der mich am meisten aus der Bahn geworfen hat. Ich hab den auch nur einmal gesehen. Zuhause liegt eine DVD, aber ich habe bis heute nicht gewagt, ihn mir noch mal anzu­schauen. Der hat mich wirklich… Damals habe ich mich unun­ter­bro­chen gefragt: Halte ich das noch aus? Muss ich jetzt kotzen? Ich war drei Wochen krank nach diesem Film. Der ist ja uner­träg­lich. Aber der hat mich wirklich über sehr sehr viel nach­denken lassen.
In einer Gesell­schaft wie der unsrigen kann man Kino oder drama­ti­sche Kunst im weitesten Sinn nur so machen. Man kann sie nicht konsen­suell machen. Dann ist man dumm. Oder feig, oder zynisch.

artechock: Bei Ihrem Film Funny Games ist Ihnen ja auch von Teilen der Kritik vorge­worfen worden, dass Ihr Umgang mit Gewalt Selbst­zweck sei, dass es Ihnen nur um Provo­ka­tion ginge...

Haneke: Ich bin überhaupt kein Provo­ka­teur! Da hat man den Film falsch verstanden. Ich habe immer geglaubt, das kann man gar nicht so verstehen. Man kann ihn nur als einen Tritt in die Magen­grube verstehen. Und so sollte es auch sein.
Man sagt ja von mir oft: Das ist ein Provo­ka­teur. Aber mit dem Film wollte ich tatsäch­lich provo­zieren. Der Film sollte eine Ohrfeige sein, eine aufde­ckende Ohrfeige. Weil mich diese Art, wie Gewalt norma­ler­weise im Kino darge­stellt wird, einfach ankotzt. Weil sie immer konsu­mierbar darge­stellt wird. Und ich wollte sie einmal unkon­su­mierbar machen. Ich habe einmal einen zynischen Satz gesagt – der aber stimmt – weil mich jemand gefragt hat: »Ja wollen Sie denn die Leute aus dem Kino treiben?« Darauf habe ich geant­wortet: »Schauen Sie: Wer den Film ange­schaut hat, der hat ihn offenbar nötig gehabt. Wer ihn nicht nötig gehabt hat, ist vorher raus­ge­gangen. Also kommen Sie mir jetzt nicht, und beklagen sich, dass der Film so gruselig war. Denn offenbar wollten Sie ihn ja doch sehen, sonst hätten Sie, wenn er ihnen zu grausig war, ja gehen können.«

artechock: Aber es kann ja eigent­lich nicht ein gewünschter Erfolg sein, wenn man dann als Zuschauer rausgeht...

Haneke: Doch, in einem gewissen Maße. In so einem Fall schon. Es ist viel­leicht kein Erfolg… Aber das so genannte „normale“ Publikum, das emotional reagiert – warum müssen die sich das anschauen, obwohl es eigent­lich widerlich ist? Nur weil es spannend ist? Ich will den Zuschauer zu der Frage bringen, warum er nicht raus geht. Im Hollywood-Main­stream zahlt der Zuschauer dafür das Geld, dass er seine Aggres­sionen ausleben kann ohne schlechtes Gewissen. Das finde ich zynisch. Wir, die wir hier sitzen, sind dafür überhaupt nicht reprä­sen­tativ, denn wir sind alle Fach­idioten. Wir sind profes­sio­nell inter­es­siert, an fach­li­chen Fragen, und das ist eine ganz andere Art der Rezeption.

artechock: Aber Film­kri­tiker reagieren natürlich auch emotional...

Haneke: Ja klar. Ich habe gar kein Problem damit, dass Leute meine Filme miss­ver­stehen. Das liegt in der Natur der Sache. Es ist ja ein Thema von allen meinen Filmen, dass Kommu­ni­ka­tion eine sehr beschränkte Sache ist.

artechock: Sind Sie Zivi­li­sa­ti­ons­pes­si­mist?

Haneke: Natürlich.

artechock: Warum?

Haneke: Aufgrund von Beob­ach­tung. Da muss ich gar nicht forschen. Das fällt ins Auge. Ich glaube in der Tat, dass wir alle versaut sind. Durch eine Form von Reali­täts­wie­der­gabe und Illu­sio­nie­rung in den Medien, der wir nicht gewachsen sind. Und je jünger Menschen sind, um so weniger sind sie diesen Formen gewachsen. Ich selbst gehöre noch zu der Gene­ra­tion, die noch ohne Fernsehen aufge­wachsen ist. Als der Fernseher rauskam, hatten wir nicht gleich eins zuhause. Heute ist das leider ganz anders.

artechock: Aber auch die Kindheit erlebt doch eine Evolution. Kinder haben heute doch schon mit acht, neun Jahren eine klare Distanz zu Bildern aus Kino und Fernsehen...

Haneke: Ich halte die Bedin­gungen unter denen Kinder heute aufwachsen, die Fernsehen und Kino vom Babyalter an inha­lieren, in der Tat für eine Gefahr. Weil die Fähigkeit zur Distan­zie­rung fehlt. Darum pole­mi­siere ich immer wieder über solche Fragen. Nicht, weil ich die Leute für deppert halte.

artechock: Zugleich arbeiten Sie selbst in Ihren Filmen oft mit Kindern. Was suchen Sie da? Viel­leicht eine verlorene Unschuld? Oder eher gerade das Gegenteil davon, einen ganz erwach­senen Sinn für die Wirk­lich­keit?

Haneke: An eine Unschuld der Kindheit glaube ich nicht. Ich arbeite gern mit Kindern, weil es mit ihnen lustig ist. Nur – man muss sie halt finden. Um die Kinder­dar­steller für meine Filme zu finden, habe ich so eine Frau, die spezia­li­siert ist auf das Suchen von Laien und Kindern. Die sucht sehr lange, und schleppt Hunderte von Kindern an, mit Fotos und Tests. Das ist immer eine mühsame Prozedur. Aber wenn man dann eines hat, das gut ist, dann ist es ganz leicht. Kinder können ja nicht lügen. Jeden­falls nicht als Schau­spieler. Wenn sie richtig verstehen und empfinden, was sie spielen sollen, dann stimmt jeder Satz. Wenn nicht, dann kann man machen, was man will – es wird nie hinhauen. Insofern ist die Arbeit leichter, als mit mittel­mäßigen Schau­spie­lern.

artechock: Gibt es Filme­ma­cher, denen Sie nach­ei­fern, die Sie beein­flusst haben?

Haneke: Inwieweit ich „beein­flusst“ bin, das müssen die Kritiker fest­stellen. Ich will es gar nicht wissen. Da wird man nur steril. Einflüsse, sofern sie bewusst werden, lähmen einen ja. Es kostet Kraft, zu vermeiden, dass sie sichtbar werden. Bresson hat einmal mit einem Stendhal-Zitat geant­wortet: Es sind die anderen Künste, die mich die Kunst des Schrei­bens gelehrt haben. So könnte ich es auch sagen. Literatur ist mir am wich­tigsten. Dann kommt die Musik. Aber ich könnte keinen Einfluss geltend machen.
Die zwei Filme­ma­cher, die mich am meisten beein­flusst haben, sind sicher Bresson auf der einen Seite, Hitchcock auf der anderen. Weil beide in ihrem Bereich absolute Meister sind.

artechock: Also die Reduktion und die Mani­pu­la­tion?

Haneke: Hitchcock ist ja nur an der Ober­fläche ein Mani­pu­lator. Wenn man genau hinschaut, ist er der Analy­sator der Mani­pu­la­tion. Einfach so die Leute zu mani­pu­lieren, ist ja leicht.
Aber der Thrill ist bei ihm nur ein Mittel, um die Geschichte zum Rollen zu bringen. Das gilt auch für meine Filme Funny Games oder den neuen Film Caché. Darum gibt es dort gar keine Lösung am Schluss. »Wer es war«, ist völlig unin­ter­es­sant.

artechock: Ist das eine Absage an das Geschichten erzählen?

Haneke: Nein, ich muss die Geschichte als Vehikel benutzen, um etwas erzählen zu können. Was ich erreichen will, ist die Irri­ta­tion der Zuschauer. Nur eine Irri­ta­tion bewirkt wirklich etwas. Man will aus dem Kino nicht so raus­kommen, wie man rein­ge­gangen ist – das wäre verlorene Zeit. Aber Thriller oder andere Genre­stoffe inter­es­sieren mich überhaupt nicht. Ich könnte am laufenden Band Thriller drehen. Wenn man das einmal kann, dann kann man es.

artechock: Ihre eigenen Filme bedienen sich auch der Reduktion...

Haneke: Ich würde es eher Aussparen nennen. Kino­zu­schauer sind durch die irre Geschwin­dig­keit heutiger Filme dazu verdammt, nur noch passiv zu reagieren und die Wirk­lich­keit auf der Leinwand nur noch in Frag­menten wahr­zu­nehmen. Gucken Sie sich doch bitte mal diese wahn­wit­zigen Schnitte in einem 08/15-Hollywood-Film an! Darum redet man ja von „Zerstreu­ungs­kino“, weil die Zuschauer darin zerstreut werden – wahrsten Sinn des Wortes: In tausend Stücke zerfetzt werden sie von den Eindrü­cken in ihrer Fülle. Man muss dem Zuschauer die Zeit zurück­geben, Zeit, die er braucht, um einen Gedanken zu fassen. Und die er braucht, um einen Schritt zurück zu gehen, Distanz einzu­nehmen und das Ganze zu betrachten. Obwohl ich natürlich mir bewusst bin, dass die Welt sich uns immer frag­men­ta­risch darstellt, dass Kommu­ni­ka­tion sich immer nur in Frag­menten ereignet.

artechock: Gibt es Einflüsse auf Ihr Werk, die außerhalb des Films liegen? Sie haben einst am Theater begonnen...

Haneke: Theater inter­es­siert mich nicht. Der einzige, der mich inter­es­siert, ist Tschechow. Das habe ich aber immer vermieden selbst zu machen, denn das kann man nur machen, wenn man die absolute Topbe­set­zung hat.

artechock: Sie haben dann lange fürs Fernsehen gear­beitet, und auch Ihre ersten eigenen Regie­ar­beiten sind Fern­seh­filme...

Haneke: Ich war beim Südwest­funk, als Redakteur, der jüngste Fern­seh­dra­ma­turg Deutsch­lands. Das erste, was ich als Regisseur gemacht habe, hieß »Was kommt danach?«, eine Produk­tion für das Dritte Programm, ein Zwei­per­so­nen­stück. Dann gab es eine ZDF-Produk­tion, die ist gott­sei­dank verschwunden – ein völliger Scheiß­dreck. Es gibt eine VHS-Kasette. Bei all meinen Retro­spek­tiven ist die nie aufge­taucht. Es war eine Kata­strophe, der ganze Film von A bis Z, ein furchtbar rühr­se­liger Mist. Das mache ich nie wieder: Etwas machen, von dem ich glaube, dass es nichts wird. Und Bedin­gungen zu akzep­tieren, die es unmöglich machen, dass etwas Gutes dabei heraus­kommt. Dann kam noch mal der Südwest­funk mit »Drei Wege zum See« nach Ingeborg Bachmann. Heute inter­es­siert mich Fernsehen überhaupt nicht. Finan­ziell ist es nicht inter­es­sant, und man muss das Niveau so weit herun­ter­schrauben.
Damals war es auch schon schlecht, aber es gab noch einzelne gute Leute. Etwa Peter Beauvais. Das war ein Beses­sener. Der hat tolle Fern­seh­filme gemacht. Der Beauvais war super. Ein Vollprofi. Er hat von Schau­spie­lern viel verstanden. Ein Arbeits­tier, ein Worca­holic, der hat zwei, drei Produk­tionen gleich­zeitig gemacht. Aber er ist heute in Verges­sen­heit geraten. Das ist das Schicksal der TV-Regie. Wenn Du tot bist, bist Du tot. Es gab natürlich Ausnahmen: Peter Lili­en­thal – ein Genie! Seine Fern­seh­filme waren absolut genial. Ich hab von dem im Fernsehen Filme gesehen – die waren zum Nieder­knien gut. Um Licht­jahre allem anderen, was da zur gleichen Zeit in Deutsch­land im Kino passiert ist, voraus. Das ist heute im Fernsehen nicht mehr möglich. Weil das Fernsehen sich das nicht leisten kann. Fernsehen muss Quote haben und der Lili­en­thal war teilweise natürlich ein Quoten­killer. Aber das war das Span­nendste, was es im Fern­seh­film­raum gab.
Noch besser war der Eberhard Fechner mit seiner Biogra­phie der „Comedian Harmo­nists“ – grandios! So etwas wäre heute nicht mehr möglich. Das ist einfach nicht mehr drin. Es geht nicht. Und das ist ein Jammer.

artechock: Warum gibt es das heute nicht mehr?

Haneke: Heute sind die Ausnahmen nicht mehr möglich. Es sind immer nur die Ausnahmen, die zählen. Die Möglich­keit der Ausnahmen. Ich glaube aber überhaupt nicht, dass sich irgend­etwas beim Fernsehen in den letzten 30 Jahren verbes­sert hat. Ich glaube, dass das intel­lek­tu­elle Durch­schnitts­ni­veau der Dreh­bücher enorm gesunken ist. Das Fernsehen gleicht sich immer mehr dem Main­stream-Kino, das von Hollywood diktiert ist, an, auf einer ganz simplen Ebene. Und das muss es auch. Sonst kann es in diesem Kontext nicht bestehen. Das ist ja kein Vorwurf, es ist nur eine Fest­stel­lung.
Natürlich: Der Durch­schnitt von heute ist genau so ein Durch­schnitt wie ehedem. Aber ehedem waren eben Lili­en­thal, Fechner und solche Leute möglich. Und heute sind sie es nicht mehr. Weil das Fern­seh­pu­blikum inzwi­schen auf eine bestimmte Art von Niveau program­miert ist. Das ist ja das Dilemma: Wenn Sie dort etwas machen, was über das Niveau hinaus­reicht, verlieren Sie ja den Zuschauer, Sie gewinnen ja keine. Es ist das Gesamt­system, das diesen Effekt hat.

artechock: Sie sind ein Regisseur des Schre­ckens, des Horrors, der sich im Alltäg­li­chen verbirgt. Wie weit ist Ihr Werk von Edgar Allen Poe und von Franz Kafka über den Sie ja mal einen Film gedreht haben, mitbe­ein­flusst?

Haneke: Ich muss Ihnen sagen, ich kenne Poe überhaupt nicht. Das hat mich auch nie inter­es­siert. Ich habe öfter versucht, was zu lesen, aber es hat mich gelang­weilt. Kafka ist für mich ganz was anderes. Kafka ist eine der Säulen der Moderne. Ich habe »Das Schloß« verfilmt.

artechock: Kommen wir auf Ihren neuen Film Caché: Er handelt von einer Familie in Auflösung. Das Werkzeug dieser Auflösung ist ein Videofilm. Man weiß nicht recht, was er eigent­lich zeigt, aber er scheint eine versteckte »höhere Wahrheit« zu befördern. Sie selbst betonen immer wieder, dass Film ein Mittel der Mani­pu­la­tion und der Lüge ist, nicht der Wahrheit.

Haneke: Meine Filme fragen natürlich danach, was Wahrheit in den Medien und besonders im Kino überhaupt bedeuten kann. Als Filme­ma­cher kann ich nur nach Wahr­haf­tig­keit fragen. Ich bezweifle, dass ein Zuschauer durch das Betrachten eines Films der Wahrheit näher kommt. Ein Film ist 24 mal Lüge pro Sekunde. Viel­leicht dienen diese Lügen einer höheren Wahrheit, aber längst nicht immer. Das gilt natürlich auch für meine eigenen Filme. Code: inconnu ist von allen meinen Filmen noch derjenige, von dem am wenigsten erfunden ist.
Mein Umgang mit den Bildern will genau diese Frage aufwerfen: Inwieweit man den Bildern über den Weg trauen kann. Man kann es nicht – weder dem, was man sieht, noch dem, was vermeint­lich dahinter steckt, kann man wirklich trauen. Natürlich muss man dazu auch den Zuschauer hart angehen, ihm etwas zumuten. Der Film hat offenbar einen Nerv getroffen, der wichtig ist. Und den kann man nur auf eine zerspal­tete, zumutende Weise treffen. Das ist natürlich ein Gegen­pro­jekt zu aller Hollywood-Ästhetik.

artechock: Ihre Figuren sind diesmal wieder – im Gegensatz zu Ihrem vorhe­rigen Film Wolfzeit – wohl­si­tu­ierte Bürger.

Haneke: Meine Filme wenden sich natürlich an die Zuschauer der reichen Länder Europas. Das ist eine ungemein verwöhnte Gesell­schaft, die andere Gebiete der Erde ausnutzt. Und die nicht teilen möchte. Diese verwöhnte Gesell­schaft erlebt nun eine Kata­strophe – in einem privaten Raum ereilt sch der Schrecken. Natürlich nicht so, wie in einem Hollywood-Film. Hollywood entwirk­licht den Schrecken und Gewalt immer.

artechock: Jenseits solcher Themen – die Wahrheit in den Bildern – die in allen Ihren Filmen präsent sind, geht es diesmal auch um etwas anderes: den Umgang mit einer verdrängten Vergan­gen­heit, gut freu­dia­nisch (und wiene­risch): die Wieder­kehr des Verdrängten. Der Titel spielt darauf an: Caché, „Verborgen“, ist nicht nur der geheim­nis­voll Beob­achter, der die Haupt­figur belauert und terro­ri­siert, versteckt ist auch eine zentrale Episode aus seiner Vergan­gen­heit...

Haneke: Das gibt es in allen Ländern. In jedem Land ist es anders, weil das Verdrängte eine andere Gestalt hat. Persön­lich betrifft mich natürlich die Reaktion in meiner Heimat Öster­reich am meisten. Aber in allen Ländern kommt das vor. Natürlich ist Verdrän­gung schlecht. Das ist meiner Ansicht nach ein gefähr­li­cher Trend – dagegen wollte ich angehen.
Und dazu muss ich eine normale, aber offen­kundig in Wohlstand und Bildung lebende Familie nehmen, und ihr die Sicher­heit rauben. Nur so geht das auch für die Zuschauer. Und dass ist ja die Aufgabe von Kino: Nicht Zerstreuung, sondern das Nehmen der Sicher­heiten. Die Zuschauer sollen sich infrage stellen. Darum zeige ich Figuren, die sich infrage stellen – als Stell­ver­treter des Publikums sozusagen. Aber glauben Sie jetzt nicht, ich wüsste immer die Antwort. Ich weiß viel­leicht eine Frage. Und ich finde es viel produk­tiver, dem Publikum Fragen mitzu­geben, als Antworten.

artechock: Was werden Sie als nächstes tun?

Haneke: Keinen Film. Ich erhole mich mal. Der Druck ist für mich immer größer. Bei jedem Film erwartet man, dass er immer besser wird, als der vorherige. Ich mache jetzt als nächstes eine Oper. Auf meine alten Tage kann ich mir das noch gönnen. Ich bin ein großer Musik-Fan. Und weil 2006 Mozart-Jahr ist, und Mozart-Opern für mich das Non-plus-ultra sind, insze­niere ich in Paris den »Don Giovanni« – ich wollte immer »Cosi fan tutte« machen. Das macht aber der Chereau jetzt. Ich habe 20 Jahre am Theater gear­beitet, aber ich war immer an Häusern, die keinen Opern-Teil hatten. Dadurch hat sich das nie ergeben. Aber es macht mir natürlich Spaß – ich habe schon fürch­ter­li­ches Bauchweh. Die Oper ist ja im Prinzip viel näher am Kino dran, als das Theater. Ein guter Thea­ter­re­gis­seur ist ja ein Reagierer. Im Film ist es ganz anders. In der Oper haben sie noch ein stren­geres Konzept. In der Zeit, in der die Musik von A nach B kommt, muss auch die Szene von A nach B. Das heißt, es ist eine Frage kompletter Planung.
Das Pariser Opern­pu­blikum ist ja genauso reak­ti­onär wie das Wiener. Aber wenn Gerard Mortier mich für eine Insze­nie­rung anfragt, weiß er ja, dass er nicht die 365te Insze­nie­rung in Pumphosen bekommt.