03.01.2008

»Präsident Putin wird diesen Film lieben!«

Viggo Mortensen
Der Killer und seine Bilder

David Cronenberg über seinen Film Eastern Promises, Gewalt, die harte Arbeit, jemanden zu töten, über das neue Russland, Tätowierungen und das Zeichensystem Körper

Der Kanadier David Cronen­berg, geboren 1943, gehört zu den wich­tigsten Autoren­fil­mern der Gegenwart. Seine faszi­nie­rend-eigen­sin­nigen Werke – u.a. Die Fliege, Crash, eXistenZ – kreisen vor allem um das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper und zur modernen Technik und Wissen­schaft. Seine letzten beiden Filme – A History of Violence (2005) und Eastern Promises, jetzt im Kino- konfron­tieren Gangs­ter­welt und Zivil­ge­sell­schaft. Eastern Promises erhielt soeben drei Golden Globe-Nomi­nie­rungen – unter anderem in der Kategorie „Bester Film“.

Mit dem Regisseur sprach Rüdiger Suchsland

artechock: Ihre Filme sind immer spannend, oft Thriller und haben einen hohen Unter­hal­tungs­wert, zugleich aber sind Sie anspruchs­volles Autoren­kino. Wie würden Sie Ihren idealen Zuschauer charak­te­ri­sieren?

David Cronen­berg: Manche Menschen sind nur an seichter Unter­hal­tung inter­es­siert, und andere inter­es­sieren sich für philo­so­phi­sche Fragen und mehr, als Unter­hal­tung – und genau die sind meine Zuschauer! Ich denke, eine der größten Faszi­na­tionen des Kinos ist, dass man für die Dauer eines Films ein anderes Leben leben kann. Dass man Urlaub von sich selber nehmen kann. Leider ist es eine Tendenz in der aktuellen Kino­kultur, dass immer mehr Menschen im Kino nur noch Zerstreuung suchen, und nicht verstehen, dass es auch Kunst sein kann, dass es uns in unserem Innersten heraus­for­dert. Auch das leistet Kino. Und leider richten sich zu viele Produ­zenten zur Zeit nach dem Einfachen, suchen inhalt­lich den kleinsten gemein­samen Nenner und wollen es allen recht machen. Es gibt zwar genug Anzeichen dafür, dass dieses System gerade aufhört zu funk­tio­nieren – aber noch dominiert sein Denken das Kino.
In meinen Filmen können die Zuschauer für eine Weile in ein anderes Leben eintau­chen – das sie viel­leicht niemals wirklich leben wollten, aber das sie neugierig macht.

artechock: Welches Leben ist Ihrer Ansicht nach in Eastern Promises das faszi­nie­rendste?

Cronen­berg: Das von Nikolai, der Figur, die Viggo Mortensen spielt: Ein Fahrer der Mafia, der die Dreck­ar­beit macht, und nach oben kommt. Er ist tough, aber er hat auch eine bestimmte Form von Mitleid und Mensch­lich­keit, er ist nicht unnahbar. Im Laufe des Films enthüllt er uns und Anna, der Figur, die Naomi Watts spielt, diese andere Seite von sich selbst.

artechock: Die wohl spek­ta­kulärste Szene des Films ist ein Messer­kampf in einem Badehaus, die Gewalt ist da sehr natu­ra­lis­tisch, der Ange­grif­fene Nikolai ist nackt – was wollten Sie uns damit über Gewalt sagen?

Cronen­berg: Es ging mir bei der Nacktheit ganz klar um Verletz­lich­keit. Nicht um Sex. Obwohl Nacktheit im Kino fast immer einen sexuellen Aspekt hat. Wenn es das hier auch geben sollte, ist es höchst subli­miert. Neulich dachte ich mir: Eigent­lich ist das ein bisschen wie die Duschszene in Hitch­cocks Psycho. Man ist nackt und nass, und einer mit dem Messer hat es auf einen abgesehen. Diese Verletz­lich­keit leuchtet jedem ein. Die Bilder sollten nicht durch impres­sio­nis­ti­sche Schnitt­technik geprägt sein, wie bei den Bourne-Filmen, die eigent­lich eine Wegschnei­de­technik ist.
Denn Gewalt ist physisch. Es geht alles um Körper. Es geht alles um die Zers­törung von Körpern. Genau genommen gibt es in diesem Film wenig Gewalt, nur fünf Minuten von 100. Aber diese Szenen haben eine große Wirkung. Im Kino muss man das auch erfahren können: Ich zeige das nicht jenseits der Kamera, das wäre frivol. Es ist harte Arbeit, jemanden zu töten, und wenn es das ist, was die Figur nun mal tun muss, möchte ich, dass Sie das spüren und sehen. Gewalt ist Zers­törung des mensch­li­chen Körpers, nicht Statistik. Ich bestehe auf dieser Wirk­lich­keit. Und ich will alles sehen. Die Kampf­szene muss physisch Sinn machen; sie muss mecha­nisch Sinn machen; sie muss Körper-Sinn (body sense) machen.

artechock: Die Offenheit des mensch­li­chen Leibes und seine Verschlos­sen­heit, seine Abgren­zungen nach Außen haben sie immer inter­es­siert. Die Haut als Ober­fläche und Grenze des Fleisches ist in Ihren Filmen ein Zeichen­system…

Cronen­berg: Wenn Sie die Praxis des Täto­wie­rens in Eastern Promises anspre­chen: Durch Recher­chen kam ich auf ein fantas­ti­sches Buch mit dem Titel: »Russian Criminal Tatoo« – über die Kultur des Täto­wie­rens in russi­schen Gefäng­nissen. Das war ein hervor­ra­gender visueller Schlüssel zu der Figur des Nikolai, seinem Charakter und seiner Herkunft – seiner Substanz. Es versinn­bild­licht sein ganze Leben und die rituelle Struktur seiner Existenz: Täto­wie­rungen dienen der Iden­ti­fi­ka­tion, sie sind eine Verge­wis­se­rung von Identität.

Diese Täto­wie­rungen sind aber auch wie ein Kainsmal. Sie schließen den Einzelnen aus der Gesell­schaft aus, berauben ihn seiner Indi­vi­dua­lität: Er wird ein Teil der Verbre­cher-Gruppe. Ein dialek­ti­scher Prozess: Diese Täto­wie­rungen erzählen seine persön­liche Geschichte, schaffen sozusagen erst seine Identität, und zugleich des-indi­vi­dua­li­sieren sie ihn, markieren ihn als Verbre­cher und lassen sich nicht mehr – oder nur unter großen Schwie­rig­keiten – abstreifen. Jeden­falls gilt: Die Haut lügt nicht (zumindest scheinbar, denn ihr Film zeigt etwas anderes).

artechock: Man könnte also sagen: Analog zum Kainsmal zeigt sich die Schuld auf der Ober­fläche der Haut…

Cronen­berg: Ja. Tatsäch­lich ist das Mal, das Gott in der Bibel auf Kains Stirn legt, offen­kundig das erste Tattoo. Im Fall von Nikolai sind die Täto­wie­rungen eine große Ehre, etwas, wonach er sich lange gesehnt hat: Wenn Semyon (der von Armin Mueller-Stahl gespielt wird) sagt: »It’s time you joined us«, bedankt er sich (»Thank you, Papa.«) Er wird ein gemachter Mann in der Mafia. Er wird akzep­tiert als »one of us«, einer, dem man trauen kann – und das alles bezeichnen diese Sterne auf Nacken und Knien. Das ist ein Zeichen der Akzeptanz und der Zugehö­rig­keit; er ist damit bezeichnet als einer, dem man zu trauen hat. Sollte er je im Gefängnis landen, würde er einen hohn Status in der Hier­ar­chie haben. Wenn man aller­dings ein Tattoo fälscht, und man das heraus­findet, wird es nicht sehr nett. Man wird ermordet. Oder die old-school-Jungs kommen zu einem, und sagen: Hey, das Tattoo auf Deinem Finger sagt, Du wärst im St. Peters­burg-Knast gewesen, aber wir wissen, dass Du nie da warst. Mach das Tattoo weg, Du hast 20 Minuten… Dann schneiden sie einem den Finger ab, oder gleich die ganze Hand. Also brennt man es weg, oder schneidet es weg – was gerade geht. Es ist ziemlich brutal.

artechock: In Eastern Promises gibt es auch einen Hinweis auf »erzwun­gene« Tattoos. Was hat es damit auf sich?

Cronen­berg: Man erzwingt Täto­wie­rungen gewaltsam, um den Träger iden­ti­fi­zierbar zu machen. Es ist wie ein Stempel im Pass, der die Einreise verbietet. Wie ein Juden­stern – aber am Körper. Diese Täto­wie­rungen struk­tu­rieren ein regel­rechtes internes Kasten­system – so etwas gibt es nicht nur in Russland, sondern auch in den USA. Bestimmte Verbre­chen und Eigen­schaften begrenzen die Möglich­keiten der Täter – z.B. wer homo­se­xuell ist, ein Päderast oder ein Kinder­schänder – zählen gegen einen und brand­marken die Verant­wort­li­chen – egal wie loyal einer ist, wie tough, wie über­le­bens­fähig, was für ein guter Kämpfer, guter Dieb, was auch immer... Es gibt einen Doku­men­tar­film, der phan­tas­tisch ist: Gedreht in russi­schen Gefäng­nissen, wo Gefangene ihre Täto­wie­rungen vorzeigen, und deren Bedeu­tungen erklären – er heißt »The Mark of Cain«.

artechock: Diese Verträge mit der Mafia sind eine Art Teufels­pakt. Eastern Promises ist auch ein Film über ein mora­li­sches Dilemma…

Cronen­berg: Alle Charak­tere des Films sind – wie in A History of Violence und den meisten meiner Filme – nicht, was sie anfangs scheinen. Und man kennt sie nie völlig. Man fragt sich, was noch alles heraus­kommen könnte. Und wie es weiter­geht? Der nächste Morgen wird kompli­ziert. was passiert mit diesen Typen? Das letzte Bild ist beun­ru­hi­gend und rätsel­haft: Bei aller Ehre erschre­ckend. Er hat eine Linie über­schritten. Es gibt kein Zurück.

artechock: Das Bild des neuen Russland, das sie zeigen, ist wenig schmei­chel­haft… Wie haben Sie recher­chiert?

Cronen­berg: Ich habe Dosto­jewski gelesen, einiges andere über das alte Russland mit seiner tausend­jäh­rigen Kultur. Russland ist etwas einma­liges, weder Asien, noch Europa. Und wir wollten in dem Film die dunklen Seiten der klas­si­schen »russi­schen Seele« erkunden: Sehr fata­lis­tisch, sehr depressiv, sehr dunkel. Es stimmt, dass der Film das Aufkommen eines neuen Russland behandelt. Aber das ist dem alten präso­wje­ti­schen Russland leider sehr ähnlich. Aus diesem neuen Russland kommt derzeit eine Form des Kapi­ta­lismus, die sehr roh ist, sehr »basic«, sehr brutal. Es erinnert uns daran, wie der Kapi­ta­lismus wirklich aussah, vor seiner Verfei­ne­rung während der letzten hundert Jahre.

artechock: Fürchten Sie nicht die Rache der Mafia, oder des Geheim­dienstes? Sie zeigen Ex-KGB bzw. FSB in keinem guten Licht…

Cronen­berg: Jedes Land hat ein Äqui­va­lent dafür. Und genau genommen ist mein FSB-Agent ja der Held meines Films. Er ist sehr heroisch – ich bin sicher: Präsident Putin wird diesen Film lieben! [Lacht]

artechock: Wie arbeiten Sie eigent­lich, wenn Sie ein Projekt angehen?

Cronen­berg: Wenn ich einen Film beginne, dann denke ich zu Beginn nicht thema­tisch. Ich versuche, so konkret wie möglich zu denken – physisch und emotional und natürlich prag­ma­tisch: Was für Möglich­keiten habe ich überhaupt. Was ich unbedingt zu vermeiden versuche, ist, in irgend­einer Hinsicht zu abstrakt zu werden. Ich habe das schon öfter erklärt: Man kann Abstrak­tionen und Konzepte nicht mit der Kamera aufnehmen, und ein Schau­spieler kann sie nicht filmen. Das gibt es höchstens in alle­go­ri­schen Thea­ter­s­tü­cken, da tritt dann einer auf und ist »der Stolz«, oder »die Demut«, oder »die Scham« oder so was. Man muss zunächst sehr konkret werden, außerdem kann man nur über solche Verdeut­li­chung universal werden. Also: Jede Figur des Films muss eine konkrete Herkunft haben, jede Figur braucht einen Namen.

artechock: Am Ende des Films scheint das Leben symbo­lisch über den Tod zu siegen…

Cronen­berg: Nun, wir sind beide hier – und das ist es, was am Ende zählt. Ich denke, das gibt Anlass zur Hoffnung. Aber die Figur, die Naomi Watts spielt, sagt einmal: »Life and death go together«. Und ich denke, jeder Künstler ringt auf die eine oder andere Weis mit der Frage, was die Natur des Lebens ist und was die Natur des Todes. Für mich ist das in jedem meiner Filme ein entschei­dendes Thema