19.06.2008
61. Filmfestspiele Cannes 2008

Weder Barbaren noch Vollidioten

Schulklasse
Echte Schüler, echte Sprache

Filmfest-Eröffnung: Laurent Cantet über seinen neuen Film Entre les murs und das Drama der Schule

Zum ersten Mal seit 21 Jahren gewann vor vier Wochen mit Entre les murs ein fran­zö­si­scher Film die Goldene Palme bei den Film­fest­spielen von Cannes. Am Frei­tag­abend eröffnet der Film über einen enga­gierten Lehrer und seine Schul­klasse das Münchner Filmfest. Regie führte der 47 Jahre alte Franzose Laurent Cantet. Cantet ist berühmt für ins Mark gehende Sozi­al­dramen, die am Beispiel Einzelner zugleich immer gesell­schaft­liche Vorgänge deutlich machen: Ressources humaines zeigte 1999 ein persön­li­ches Drama innerhalb moderner Arbeits­welten, L’emploi du temps, für den Cantet 2001 in Venedig den »Goldene Nach­wuchs­löwen« gewann, handelte von einem Manager, der über­ra­schend entlassen wird, und dies seiner Familie nicht gestehen kann, Vers le sud 2005 von weib­li­chem Sextou­rismus. Cantets Filme kamen bisher sämtlich, wenn auch nur in kleiner Kopi­en­zahl auch ins deutsche Kino.

Mit dem Regisseur sprach Rüdiger Suchsland.

artechock: Woher kam die Idee für Ihren neuen Film?

Laurent Cantet: Ich wollte schon längere Zeit einen Film über die Schule drehen. Dieser Ort ist besonders geeignet, um wie unter einem Brennglas die Chancen und Probleme gesell­schaft­li­cher Ungleich­heit und sozialer Inte­gra­tion, um kultu­relle und gesell­schaft­liche Ausschluß­me­cha­nismen, um Arbeit und Macht zu betrachten. Ich hatte also schon ein Drehbuch, bevor ich meinen letzten Film drehte, aber es war noch unaus­ge­reift. Dann las ich das Buch von Francois Begaudeau, der das, was ich nur von Außen kannte, von Innen betrach­tete.

artechock: Was hat Ihnen an dem Buch so gefallen?

Cantet: Endlich einmal schrieb ein Lehrer über seine Schüler nicht von oben herab. Er beschrieb sie weder als wilde Barbaren, noch als Voll­idioten.

artechock: Die Zusam­men­set­zung der Klasse wirkt wie ein Mikro­kosmos der Gesell­schaft...

Cantet: Ja, ich wollte in gewisser Weise den Zustand der heutigen Welt darstellen: Da ist ein Lehrer. Er weiß zwar viel, und hat viel­leicht auch recht, und in jedem Fall hat er die Macht, aber er ist allein, in der Minder­heit. Seine Schüler reagieren vor allem auf die Macht, die er zeigt, sie wehren sich. Die Kernfrage ist: Wie reagieren Menschen aufein­ander, die nichts mitein­ander gemein haben, wenn sie gezwungen sind, zusam­men­zu­ar­beiten?

artechock: Sprache ist dabei in ihrem Film überaus wichtig...

Cantet: Exakt! Es gibt eigent­lich überhaupt nur zwei Sprachen: Die offi­zi­elle, die wir in der Schule lernen, und die Sprache, die wir mitein­ander reden. Der Konflikt des Films ist die unauf­lös­liche Spannung zwischen beiden. Keine der Figuren im Film hat da völlig recht, und die richtige Antwort. Der Film soll die Zuschauer dazu bringen, über solche Fragen nach­zu­denken. Etwa: Wie kann ein Junge überhaupt korrektes Fran­zö­sisch sprechen, wenn er zuhause kein Wort Fran­zö­sisch hört?

artechock: Formal betrachtet ist Entre les murs eine Buch­ver­fil­mung. Wie streng halten Sie sich an die Vorlage?

Cantet: Nicht sehr. Diese Art von Strenge inter­es­siert mich nicht. Ich wollte keine Adaption, sondern eine Erwei­te­rung. Der Film ist ein Werk aus eigenem Recht. Die Charak­tere im Film weichen zum Teil stark von der Vorlage ab.

artechock: Wieviel war impro­vi­siert?

Cantet: Am Ende doch ziemlich viel. Das hat sich während der Arbeit ergeben. Der Dreh war wie eine normale Schul­klasse; Francois, der Buchautor spielte ja selbst die Rolle des Lehrers. Er hat den Unter­richt begonnen, und wir haben gefilmt. Zuvor hatten wir immer verein­bart, was wir erreichen wollten. Die Schüler hatten nie ein Script in der Hand. Die Sprache des Films ist ihre, und genau darum ist er sprach­lich so präzis: Es gibt Stern­stunden des Ausdrucks, und im nächsten Moment stottern sie wieder: »Ich weiß was ich meine, aber ich kann es nicht sagen.«

artechock: Wie beur­teilen Sie die Rolle des Lehrers?

Cantet: Der Lehrer im Film – und ich glaube, Francois ist in der Wirk­lich­keit sehr ähnlich – ist zunächst: Er ist mutig. Er riskiert sich selbst, seine Position. Das machen wenige Lehrer, die meisten achten zunächst einmal darauf, selber gut auszu­sehen. Aber Francois riskiert nicht weniger, als seine Schüler. Er ist ein bisschen wie Sokrates, und versucht, seine Schüler durch geschickte Fragen zum Ziel zu führen. Darin hat er etwas sehr Kalt­blü­tiges, Intel­lek­tu­elles – etwas typisch Fran­zö­si­sches, für das mache Frank­reich hassen, und andere es gerade beneiden.

artechock: Er behandelt sie auch wie Erwach­sene, das heißt, er fordert sehr viel von Ihnen. In Deutsch­land würden bestimmt viele aufjam­mern: 'er über­for­dert sie'.

Cantet: Ich sehe das anders: Er nimmt sie ernst. Es wäre belei­di­gend, würde er sie mit Samt­hand­schuhen anfassen, sich bemühen, »kind­ge­recht« zu sein. Aber er hat nicht immer recht. Er ist kein Superhero. Ich habe versucht zu vermeiden, dass mein Film eine Art neue Version von Der Club der toten Dichter werden würde, mit einem Lehrer, der alles besser weiß, und immer recht bekommt – das wäre mir zu idea­lis­tisch gewesen.