07.12.2023

Filmvibrationen

Lucy Kerr, Familiy Portrait
Ausdruckstarkes Abdriften: Lucy Kerrs Familiy Portrait
(Foto: IFFMH | Lucy Kerr, Familiy Portrait)

Filme zwischen Flow und Mystik: Das 71. IFFMH zeigt zukunftsweisende Werke eines neuen Kinos

Von Dunja Bialas

Wie eine weibliche Leiche, die sich ans Ufer gerettet hat, sieht sie aus. Ihr tief­nasses Haar klebt am Kopf, das zart­ro­sa­far­bene Hemdchen glitscht Katy am Leib. Ihre Augen sind seltsam schwarz und ausdruckslos, als sei das Leben aus ihr entwichen. Sie ist ein bild­li­ches Echo aus dem Traum, den sie ihrem Freund am Vormittag, noch schlaf­trunken erzählt hat: von der Mutter, deren Augen ausdruckslos werden und die den Kontakt zur irdischen Welt verliert.

Dieses kurze Bild der Wieder­gän­gerin aus dem Wasser schiebt sich als irri­tie­render Stör­mo­ment in das Lang­film­debüt Family Portrait der ameri­ka­ni­schen Filme­ma­cherin Lucy Kerr. Immer wieder kehren nach dem Sehen die Gedanken zu diesem Bild zurück, an eine Stelle, die auch wie ein Fehler wirkt, wie ein Anschluss­fehler, der doch beab­sich­tigt ist. Wenn die Aufmerk­sam­keit an einer Stelle hängen bleibt, ist das – so hat es Roland Barthes für die Foto­grafie beschrieben – die Stelle oder das »Punctum«, das subversiv die Bild­in­ten­tion unter­läuft und Rätsel aufgibt. Der kurze Film­mo­ment in Family Portrait ist das Punctum des Inter­na­tio­nalen Film­fes­ti­vals Mannheim-Heidel­bergs: Er ist enig­ma­tisch, vers­tö­rend, abgründig, und zieht inmitten eines in Pastell­farben gemalten Portrait einer texa­ni­schen Familie tiefe Zweifel über das familiäre Konstrukt ein.

Kerrs Film war im Wett­be­werbs­pro­gramm »On the Rise« zu sehen und einer der wenigen Filme, die akade­misch verwur­zelt und zugleich in der Kunst behei­matet sind. Als choreo­gra­phierte Fami­li­en­auf­stel­lung entwirft Family Portrait den Fami­li­en­zu­sam­men­halt und auch das Ausein­an­der­driften der Familie als viel­glied­rige Körper­skulptur, ähnlich wie ihr Kurzfilm Site Of Passage. Ein groß­ar­tiger Auftakt des Films, wenn Katy, das narrative Zentrum dieser weißen Mittel­stands­fa­milie, an den Armen ihrer Cousins, Cousinen, Tanten, Schwager und Nichten zieht und das große Chaos der ausein­an­der­stre­benden Menschen zum Flussufer hindrängt, wo das Foto aufge­nommen werden soll.

Filme im Aufbruch

Das Festival von Mannheim-Heidel­berg ist einer der wenigen Orte weltweit, an denen Filmen wie dem von Kerr noch einmal eine heraus­ra­gende Aufmerk­sam­keit geschenkt wird. Der Wett­be­werb »On the Rise« versam­melt Werke, die im Aufbruch begriffen sind, von Filme­ma­cher*innen, die zwar gerade erst beginnen, aber auch schon deutlich vernehmbar sind. Anders als andere »Newcomer«-Festivals – das 1952 gegrün­dete Festival von Mannheim-Heidel­berg ist unter ihnen das älteste –, akzen­tu­iert Festi­val­leiter Sascha Keilholz für seine Programm­aus­wahl den Nach­wuchs­ge­danken jedoch nicht. Ihm ist wichtiger, dass die gezeigten Debüt­filme eine starke Hand­schrift zeigen und auf einen Horizont des Kinos hindeuten, an dem sich zukünf­tige Erzäh­lungen und Erzähl­weisen erahnen lassen. Dafür verzichtet er auch auf das sonst so wichtige Postulat der Welt­pre­mieren. Festivals wie Rotterdam, Locarno, Venedig und Cannes versam­meln, wenn sie erste Film zeigen, auch die inter­es­santen Filme. So wie Lucy Kerr, die ihren stillen und berü­ckenden Film als erstes in Locarno gezeigt hat. Das lässt sich schwer über­bieten, will man Welt­klasse zeigen.

Das Auswahl­kri­te­rium für den Wett­be­werb des IFFMH lässt sich als eine Cine­philie der Filme­ma­cher*innen beschreiben, die kaum Kompro­misse eingeht und deshalb so stark wirken kann. Jede der Hand­schriften der 16 Wett­be­werbs­filme ist eigen und unge­wöhn­lich, bisweilen irri­tie­rend und heraus­for­dernd und versetzt die Zuschauer*innen in einen ästhe­ti­schen Unru­he­zu­stand: auch das Publikum befindet sich, ange­sichts der neuen Stimmen des Kinos, »on the rise«.

Inten­siver Filmflow

Besonders intensiv wirkte Animal der grie­chi­schen Regis­seurin Sofia Exarchou, der für den Europäi­schen Filmpreis nominiert ist und beim IFFMH den Fipresci-Preis der inter­na­tio­nalen Film­kritik erhielt. Auch dieser Film ist ein Grup­pen­por­trait. Er zeigt Saison-Arbeiter*innen, die als Anima­teure für ein All-inclusive-Hotel in Grie­chen­land arbeiten. Animal führt die Entmensch­li­chung innerhalb eines als »Themen­park« aufge­fassten Urlaubs vor, und zeigt die langsame Erosion von Kalia, einer erfah­renen und müde gewor­denen Anima­teurin, die in Sex- und Alkohol-Exzessen neue Energie für die nächsten Anima­ti­ons­num­mern zu tanken sucht – und dabei unwei­ger­lich untergeht. Ein ener­ge­ti­scher, rauer, vers­tö­render und authen­tisch wirkender Parforce­ritt, für den Dimitra Vlagopoulou in Locarno den Preis als beste Darstel­lerin bekam. Dazu kommen die choreo­gra­phierten Auftritte der Anima­teure, die immer wieder höchst poetische Momente in der dyspho­ri­schen Arbeits­welt entfalten – aber auch entsetz­li­ches Fremd­schämen beim Zuschauer für reflex­artig klat­schenden Urlauber. Auch wenn sie sich für das Urlaubs­volk wenig inter­es­siert, denun­ziert Exarchou jedoch nicht, wie es viel­leicht ein Ulrich Seidl gemacht hätte. Animal, mit seinen einsamen Indi­vi­duen in einer entfrem­deten Welt kühler Tausch­ver­hält­nisse, wirkt eher wie eine tröst­liche Umarmung: Im perfor­menden Tier, dem Animal, sieht Exarchou auch die Seele, die Anima.

Family Portrait und Animal entfalten einen inten­siven Filmflow, verzichten auf eine klas­si­sche Narration mit Plot­points und Figu­ren­kon­flikten. Die Prot­ago­nisten sind hier im Zwiespalt mit ihrem Milieu, das Sujet verlagert sich hin zu den Rändern, die unsere (reale) Welt berühren. So ergibt sich, ganz nahe an den Figuren dran, ein langsamer und stetiger, sich aufs Ungewisse öffnender Erzähl­fluss.

Alice in Amyland

The Sweet East des New Yorkers Sean Price Williams erhielt den Rainer-Werner-Fass­binder-Preis für das beste Drehbuch. Williams’ Film erzählt aber eher von dem Ausbruch aus dem Plot-Gefängnis, wie es Dreh­bücher mit ihren Plot­points und Twists bisweilen sind. In unauf­ge­regter Linea­rität erzählt der Film davon, wie Lillian als femi­nis­ti­sche Picara, eine Schelmin, an immer neue Herren gerät, die ihr die abgrün­digen Ecken ameri­ka­ni­scher Parallel-Commu­ni­ties zeigen. Alles beginnt mit dem Schritt hinter den Spiegel auf dem Klo eines abge­rockten Clubs beim Klas­sen­aus­flug. An der Seite eines Akti­visten gerät sie auf einer Antifa-Demo in die Fänge eines Anhängers der White Supremacy, bei dem zu Hause sie dann in Haken­kreuz-Bett­wä­sche schläft – das ist großartig-ironi­scher Agitprop. Sie rettet sich in die Arme einer Gruppe homo­se­xu­eller Isla­misten mit vers­tö­renden Männer­bund-Ritualen, entkommt ihnen und gerät in die Fänge mora­li­sie­render Mönche. Um schließ­lich, wie mit einem Finger­schnippen, wieder zu ihren lang­wei­ligen Klas­sen­ka­me­ra­dinnen in ihrem Heimatort und in die Enge ihres Eltern­hauses zurück­zu­kehren.

Sean Price Williams schert sich keinen Deut um Erzähl­logik, Figu­ren­ge­stal­tung oder gar Plau­si­bi­lität, er hält es eher wie der britische Filman­ar­chist Andrew Kötting und macht einfach nur, was er will. Der Dreh­buch­preis für The Sweet East kam deshalb zwar über­ra­schend, wurde aber als gleich­falls anar­chis­ti­sche Jury-Entschei­dung sehr begrüßt.

Über­bie­tungs­äs­thetik

Anders als diese absichts­voll trashige Film-Karne­valske gefiel sich der von Wim Wenders co-produ­zierte italie­ni­sche Wett­be­werbs­bei­trag An Endless Sunday in endloser Über­bie­tungs­äs­thetik. Drei jugend­liche Drifter durch­streifen die Outskirts von Rom als enger­gie­ge­la­dene und halb­kri­mi­nelle Kombo, die allen­falls viel­leicht auf den Weg der Tugend zurück­finden kann. Brenda ist von Alex schwanger, Kevin ist der jüngste und drauf­gän­ge­rischste von ihnen. Regisseur Alain Parroni porträ­tiert das Dreier-Gespann als Ausge­stoßene und Perspek­tiv­lose, die die Welt als einzigen Jahrmarkt erleben – zumindest steigert sich die Kamera von Andrea B. Manenti in immer neue Höhen­flüge und gekippte Perspek­tiven hinein, ohne dass ihr jemals der Atem ausginge, im Gegenteil. Das produ­ziert permanent ästhe­ti­schen Über­schuss, der zwar gut zu den immer aufge­regten Prot­ago­nisten passt, aber auch wahn­sinnig auf die Nerven geht, buchs­täb­lich. Ruhe kehrt nur kurz ein, als Lars Rudolph in seiner ganzen Kauzig­keit auftreten darf.

Die Erfahrung des zeit­genös­si­schen Italiens als Coming of Age versieht An Endless Sunday mit einem dicken Ausru­fe­zei­chen. Zurück bleibt eine schale Poetik der Misere und ein entleertes Neor­rea­lismo-Zitat, der Film konnte aber die Jury in Venedig, wo der Film seine Premiere feierte, über­zeugen (Orrizonti-Spezi­al­preis) wie auch die ökume­ni­sche Jury von Mannheim-Heidel­berg.

Mysti­fi­zie­rung

Akzen­tu­ieren könnte man auch die Mysti­fi­zie­rung der Welt, die im Über­bie­tungs­gestus von An Endless Sunday ebenfalls enthalten ist. Auch andere Film des Wett­be­werbs wirkten magisch-mysti­fi­zie­rend, was sich neben dem Flow als ein weiterer Trend des dies­jäh­rigen Programms ausmachen ließ. Erwäh­nens­wert ist Marco Righis sehr medi­ta­tiver Where The Wind Blows (Il vento soffia dove vuole), ein fernes Echo auf Robert Bressons Un condamné à mort s'est échappé ou Le vent souffle où il veut. Hier wird der Katho­li­zismus, der auch schon in An Endless Sunday eine Rolle spielte, in das Rauschen der Bäume auf dem Land gebettet, während sich Inzest unter einem Geschwis­ter­paar andeutet. Immer wieder wird der Beicht­stuhl aufge­sucht, und über allem steht die Frage: Kann man jemanden zum Glauben bringen? Und, viel allge­meiner: Was ist ein guter Mensch? Und dann gibt es noch den von der Gemein­schaft ausge­stoßenen Lazarus. Er verweist nicht nur auf die biblische Wieder­gän­ger­figur, sondern im Dialog der Filme auch auf Lars Rudolph, den skurrilen Einsiedler bei Alain Parroni.

Ganz auf die Mystik und die Möglich­keit, Brüche in der Erzähl­logik zu erzeugen, vertraute The Red Suitcase des nepa­le­si­schen Filme­ma­chers Fidel Devkota, der im Nachgang an Eindrück­lich­keit gewann. Etwas zu subtil geht es hier um die nepa­le­si­schen Wander­ar­beiter, die in Katar oft mit ihrem Leben bezahlen – und um den nepa­le­si­schen Bürger­krieg Anfang des neuen Jahr­tau­sends, der im kollek­tiven Gedächtnis der Bevöl­ke­rung weiter­lebt – mehr Expli­zit­heit, mehr Realismus hätten dem Film gut getan. Die vom hindu­is­ti­schen Glauben an die Wieder­ge­burt genährten Visionen und Träume aber lassen den Film auch schweben.

Brachialer ging es im ebenfalls mythen­durch­zo­genen in Flames zu. Der heute in Kanada lebende Pakistani Zarrar Kahn erzählt von der Über­grif­fig­keit des Patri­ar­chats auf zwei eigen­s­tän­dige Frauen. Mutter und Tochter gehen ihren ganz eigenen Weg, sie wurde nach einer trau­ma­ti­schen Erfahrung Allein­er­zie­hende, die Tochter studiert jetzt Medizin und beginnt hinter dem mütter­li­chen Rücken zarte Bande zu einem Kommi­li­tonen zu knüpfen. Über allem wacht der tyran­ni­sche Onkel, Bruder des verstor­benen Vaters. Die Dämonen des Patri­ar­chats insze­niert Zarrar Kahn als Hommage an den paki­sta­ni­schen Horror­film, was aber die Unge­reimt­heiten der Figu­ren­ver­hält­nisse nicht über­spielen kann. Dennoch gab es von der Jury den Inter­na­tional Newcomer Award, den Haupt­preis des Festivals.

Der »feminine Filme­ma­cher« Nicolas Winding Refn

Was Mannheim auch noch ist: Ein Ehren­preis, mit dem das Team des Festivals einen Filme­ma­cher mit einer inno­va­tiven und eindrück­li­chen Hand­schrift ehrt, und dabei auch ganz der eigenen Subjek­ti­vität folgen darf. Dieses Jahr wurde Nicolas Winding Refn mit dem Grand IFFMH Award ausge­zeichnet. Nach der Vorstel­lung von Drive, der auch über zehn Jahre nach seiner Entste­hung auf der Leinwand immer noch bedrü­ckende Gewalt entwi­ckelt, stand er persön­lich auf der Bühne, ein bewe­gender Moment für die vielen Fans im Kinosaal. Weiße Sohlen, dunkel­blaue Chino, graues Leinen­hemd, schwarze Horn­brille. Da Refn im Gespräch mit dem Moderator glaubhaft für sich behauptet, ein femininer Typ zu sein: Sollten die von ihm insze­nierten Gewalt­ex­zesse deshalb viel­leicht als Kompen­sa­ti­ons­an­stren­gungen gelten? Und die weib­li­chen Figuren und der punkt­ge­naue Einsatz des Sound­scapes wären dann wiederum die spezi­fi­schen Ausdrucks­weisen des »femininen« Regis­seurs. Sein Filme­ma­chen beschreibt Refn als tastend, von Szene zu Szene erkunde er, wohin sich die Geschichte entwi­ckeln könnte. Der kraftvoll-traum­hafte Film-Flow war damit sektio­nen­ü­ber­grei­fend stil­ge­bend für die dies­jäh­rige Ausgabe von Mannheim-Heidel­berg – und für ein narra­tives Kino, das auch aus der Vergan­gen­heit kommend in Richtung Zukunft weist.