03.08.2023
Cinema Moralia – Folge 302

Sause in der Sommerpause

Nietflix
Ende des Sharing-Streamens

Schneeballsysteme, Banalitätenbomber und öffentliche Vorwürfe gegen Kulturstaatsministerin Claudia Roth – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 302. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Auf dem Weg zum Einkaufen in der Stadt fühlte ich mich dann, wie ein Wesen, das von einem anderen Planeten herun­ter­ge­fallen ist. Schuld daran ist sicher auch das plötzlich ausge­bro­chene Früh­lings­wetter. Aber nicht nur.«
Rudolf Thomé, Moana-Tagebuch, 18.11.2009

»Die Seri­en­blase ist geplatzt«, der ganze Seri­en­boom »war in Wahrheit ein Schnee­ball­system, wir haben uns alle dem Rausch der Gold­grä­ber­stim­mung hinge­geben«, erzählt die Seri­en­au­torin und »Kontrakt 18«-Initia­torin Annette Hess (»Weis­sensee«, »Ku'damm 56« und »Ku'damm 59«) im Wiener »Standard«, und gibt sich über all das sehr verwun­dert.

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Die Lage ist tatsäch­lich ernst, und der aktuelle Streik der Dreh­buch­au­torinnen und Schau­spieler in Hollywood wird alles noch etwas schlimmer machen: Sky streicht seine deutschen Fiction­pro­duk­tionen, Disney kürzt massiv, Paramount verhan­delt mit Banken wegen neuer Kredite. Der viel­mil­li­ar­den­schwere Strea­ming­boom, angeblich das Geschäft der Zukunft, ist erst einmal gestoppt. Alles wird schmaler, kleiner, zugleich teurer.

Angebote und Platt­formen werden ganz verschwinden. »Der Markt ist gesättigt« heißt das im Kapi­ta­lis­mus­deutsch. Und wenn die öffent­lich-recht­li­chen Sender in Deutsch­land nicht nur »Funk«, sondern einen Funken Verstand und Kunden­ver­s­tändnis und kreativen Esprit hätten, und klüger wären, als sie sind, dann würden sie längst nicht nur ihr Programm in soge­nannten Media­theken zum Nach­gu­cken anbieten, sondern ihre ganzen Media­theken – in denen man sich nicht nur deswegen nicht zurecht­findet, weil das Menü ultra­kom­pli­ziert und oldschool ist, und nicht verläss­lich funk­tio­niert –, wenn sie also ihre ganzen Media­theken zu einer großen öffent­lich-recht­li­chen Megathek zusam­men­schmeißen würden.

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Es ist ein tolles Interview geworden, weil Frau Hess kein Blatt vor den Mund nimmt: »Das Ganze ist in Wahrheit ein Schnee­ball­system gewesen, und dieser Elefant stand schon lange im Raum.« »Die Berufs­an­fänger werden es schwer haben. Und viele haben in den letzten Jahren an Seri­en­kon­zep­tionen gear­beitet, mit der großen Hoffnung, einen Coup zu landen. Das war ein Stück weit umsonst, und es herrscht großer Frust. Auch bedingt durch die massive Absa­ge­welle der letzten Monate – die noch lange nicht abgeebbt ist.«
»Früher wollten alle fürs Kino schreiben, heute wollen alle ihre eigene Serie kreieren und sind sich zu schade für Unter­hal­tung. Das rächt sich jetzt.«

Auch vor KI hat Hess keine Angst: »Ich bilde mir aber ein, dass man die Seelen­lo­sig­keit wahrnimmt. Ich habe ChatGPT aufge­for­dert, einen Liedtext im Stil von Till Lindemann zum Thema Bauern­opfer zu schreiben. Antwort: 'Sowas machen wir hier nicht. Wir gehen respekt­voll mitein­ander um.' Das Ding kann keinen Dreck, keinen Sex, keine Unkor­rekt­heit, nichts Gefähr­li­ches. Wider­sprüch­lich­keit und Doppel­bö­dig­keit – alles, was Geschichten aufregend macht, kann KI nicht. Aber das wollen die Leute sehen, das wird gebinged. Deshalb wird uns das als Geschich­ten­er­zähler nicht ersetzen. ... KI ist ein Bana­li­tä­ten­bomber.«

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In einem Punkt möchten wir Frau Hess aller­dings korri­gieren und ihr wünschen, dass sie in Zukunft, wenn sie wieder mehr Zeit hat, ihre Lektü­re­liste ändert. Sie behauptet – und ich finde, da tut sie ein bisschen naiver, als sie vermut­lich ist: »Es ist nicht mein Job, ich bin ja keine Produ­zentin. Aber ich finde schon inter­es­sant, dass das nicht mal jemand durch­ge­rechnet hat. Wo kommt das ganze Geld her, das da rein­ge­pumpt wird, und wie soll da ein Gewinn heraus­kommen?«

Wir bei »artechock« haben genau das geschrieben, schon vor vielen Jahren und zwar mehr als einmal. Schon 2018 stand an dieser Stelle unter dem Titel: »Die Wutbürger von Netflix und ihre Schulden«: »Die Finan­zie­rungs­frage ist die offene Flanke des Unter­neh­mens.« »Der Streaming-Dienst erkauft seinen rasanten Ausbau in Eigen­pro­duk­tion nämlich mit einem rasant wach­senden Schul­den­berg… im opera­tiven Geschäft sind solche Kosten auch mit 137 Millionen Abon­nenten nicht einzu­spielen.«

Wir haben sehr klar geschrieben, dass es bei Netflix um nichts anderes geht, als mit Dumping-Preisen komplett destruktiv die Konkur­renz einfach noch ein bisschen schneller sterben zu lassen, als man selber sterben wird. Es ging darum, das Kino kaputt zu machen, und darum hat ein Film­fes­tival wie das von Cannes voll­kommen recht, wenn es solchen üblen Wert­ver­nich­tern nicht auch noch den roten Teppich ausrollt – wie das viele deutsche Beob­achter, also soge­nannte Film­kri­tiker, an Cannes gerne gehabt hätten.

Oder, bei anderer Gele­gen­heit: »Sie häufen riesige Schulden über­ein­ander, und es ist schon jetzt klar, dass es zu einer Flur­be­rei­ni­gung kommt und zu einer gegen­sei­tigen Kanni­ba­li­sie­rung dieser Streamer. Man fragt sich heute eigent­lich nicht mehr: Wird Netflix verkauft? Sondern man fragt sich nur noch. An wen wird Netflix verkauft? Und man kann ziemlich sicher sein, dass wir in den nächsten zwei drei Jahren eine Art Erdbeben in der Strea­ming­land­schaft erleben...«

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Durch die Sommer­fe­ri­en­zeit und die parla­men­ta­ri­sche Sommer­pause suppt die Film­po­litik irgendwie trotzdem weiter. Denn die soge­nannte »Kultur­staats­mi­nis­terin« – ihr tatsäch­li­cher Titel ist »Bundes­be­auf­tragte für Kultur und Medien« (BKM) – hat bekannt­lich schon Anfang des Jahres angekün­digt, die Film­för­de­rung grund­le­gend zu refor­mieren. Claudia Roth war damit zwar schon im Februar spät dran, lässt sich aber viel mehr Zeit, als angekün­digt.

Die Reaktion vieler Verbände auf die Vorschläge folgt dem Agen­da­set­ting durch die Bundes­kul­tur­mi­nis­terin.

Immer wieder zu lesen ist auch die Behaup­tung, erst Pandemie und Streaming hätten die Film- und Kino­land­schaft massiv verändert, und nun müsse die Politik reagieren. Tatsäch­lich wird in dieser Darstel­lung wieder das Narrativ der BKM bestätigt und zudem tut man so, als ob die Krise an Pandemie und Streaming läge und nicht an schlechten Bedin­gungen in Deutsch­land, nicht an einem Fernsehen, das sich aus der Verant­wor­tung zieht, und überhaupt an Markt­ver­än­de­rungen, die nicht etwas mit den letzten drei Jahren zu tun haben.

Viele Ansätze der BKM gehen in die richtige Richtung: Format offener zu fördern, wieder mehr Genre zu fördern, ist gut. Aber es ist zu allgemein und unent­schieden. Die Förderer schießen mit Schrot, um überall ein bisschen dabei zu sein.

Zwei Schwach­stellen von Roths Konzept sind offen­sicht­lich: Sie blendet das immer geringere Enga­ge­ment des öffent­lich-recht­li­chen Rundfunks aus und scheut den Kampf um die Erfüllung des Kultur­auf­trags, der Film ganz explizit beinhaltet. Trotzdem werden immer weniger Kinofilme co-produ­ziert.
Zweiter Punkt: Film­för­de­rung ist oft Länder­sache. Auf jedes einzelne der 16 Bundes­länder kann die BKM nur durch öffent­liche Debatte oder durch Verhand­lungen mit allen 16 Ministern Einfluss nehmen.

Was dem Kino und seinen Machern vor allem helfen würde, sind einfach viel viel weniger Büro­kratie und viel viel mehr Flexi­bi­lität.
Nicht immer neue Vorschriften, mögen sie auch noch so guten und wichtigen Sachen dienen, wie der Diver­sität, der Gleich­stel­lung und der Umwelt. Aber auch so etwas muss letzt­end­lich die Gesell­schaft selber regeln, es kann und wird nicht durch Vorschriften von oben aufok­troy­iert werden.

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Aber Claudia Roth hat noch anderen Ärger, der ausnahms­weise mal nichts mit ihrer Zustän­dig­keit für Kino und Film zu tun hat. Die Frank­furter Allge­meine berichtet über einen Fall, den wir hier auch erwähnen wollen. Denn alles ist leider so typisch für das Poli­tik­ver­s­tändnis dieser Minis­terin; das Schlimmste hat ja auch im letzten Jahr die Causa »documenta XV« gezeigt. Eine Minis­terin, die nämlich eigent­lich eine anti­po­li­ti­sche Minis­terin ist, die ausschließ­lich aufs eigene Image bedacht ist, darauf, gut und bedeutsam auszu­sehen, aber nichts riskiert, nichts wagt, für nichts steht, außer für ein paar wohlfeile Allge­mein­plätze, die Bekennt­nisse zu Menschen­rechten oder zu einem anstän­digen Umgang mit der deutschen Vergan­gen­heit – alles gut, aber Selbst­ver­s­tänd­lich­keiten.
Eine Minis­terin, die ansonsten alles aussitzt wie Helmut Kohl zu seinen aller­schlimmsten Zeiten, die sich nicht festlegt, und die Politik eigent­lich nur für ihren Parteitag macht, aber nicht für die Menschen, für die sie zuständig ist.

Es geht um den Vorwurf, dass die Minis­terin ihren Amts­pflichten nicht nachkomme. Unter dem Titel »Die Staats­mi­nis­terin ist betroffen und schaut zu« steht (leider hinter der Paywall), dass Mitar­beiter der »Arolsen Archives« – einer Insti­tu­tion, die den Auftrag hat, alles, was man über Opfer und Verfolgte des NS-Regimes in Erfahrung bringen kann, zu sammeln und der Öffent­lich­keit zur Verfügung zu stellen – massive Mobbing­vor­würfe gegen die Leitung der Behörde erheben.

Die FAZ berichtet, dass der Rechts­an­walt Daniel Vogel der BKM ein Dossier geschickt hat, in dem mehr als 25 Mitar­beiter der Direk­torin und dem Vize­di­rektor Steffen Baumheier vorwerfen, an dem Archiv »eine Kultur der Angst geschaffen zu haben«.

Von syste­ma­ti­schem Drang­sa­lieren ist die Rede, Einschüch­te­rung, Krankheit, Depres­sionen und Angst­zu­ständen, Verun­treuung und Vettern­wirt­schaft, Sadismus und persön­li­cher Demontage, Druck und Sätzen wie »Ich mache dir das Leben zur Hölle«. Man könnte das noch lange weiter­erzählen.

Entschei­dend aber ist, dass Roth, als Chefin des BKM mit 16,4 Millionen Euro jährlich allei­niger Finanz­geber, an der Aufklärung und auch nur unab­hän­giger Prüfung der Vorwürfe komplett desin­ter­es­siert ist. Ja, die grüne Poli­ti­kerin gibt den Beschwer­de­füh­rern keine Akten­ein­sicht und versucht die Affäre lautlos zu entsorgen.
Roth spielt auch hier auf Zeit, oder ist zu faul oder zu unor­ga­ni­siert, um ihre Aufgaben frist­ge­recht zu erledigen. Zunächst sollte ihr Bericht Anfang August vorliegen, nun ist von Herbst die Rede.
Nach­fragen der FAZ blieben unbe­ant­wortet. »Außerdem, so die Klage der Mitar­beiter, sei nichts unter­nommen worden, um sie während der laufenden Unter­su­chung vor weiteren Angriffen zu schützen, obwohl die Schikanen seither andau­erten, wie 23 nament­lich genannte Mitar­beiter in einem neuer­li­chen Brief an Staats­mi­nis­terin Roth beklagen.«
Nach Ansicht des Anwalts hat Roth die Amts­pflicht, gesetz­wid­riges Verhalten nicht zu finan­zieren.

Wie passt die Duldung poten­ti­eller Will­kür­herr­schaft und undurch­sich­tigen Gebarens zu einer Minis­terin, die sich bei jeder Gele­gen­heit für Trans­pa­renz und Respekt einsetzt?

Warten wir ab, ob Claudia Roth diesen Fall aussitzen kann.