76. Filmfestspiele Cannes 2023
Worüber die Deutschen in Cannes so reden |
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Anders als Eureka Slow Cinema mit unerhörter Intensität: Los Delincuentes | ||
(Foto: Cannes 2023 Media Library) |
»If you thought that it’s a festival for rapists, you wouldn’t be here listening to me, you would not be complaining that you can’t get tickets to get into screenings.
To tell you the truth, in my life, I only have one rule, it’s the freedom of thinking, and the freedom of speech and acting within a legal framework.«
– Thierry Frémaux, Künstlerischer Leiter der Filmfestspiele von Cannes
»Steigt Hertha heute ab?« – so hieß unsere Schlagzeile vor einem Jahr. Mit Fragezeichen. Die Hoffnung, die sich damals leider nicht erfüllt hat, ist am Samstag nun Wirklichkeit geworden, und der »Big City Club« aus dem Westend der Hauptstadt ist jetzt da, wo Berlin sich auch in manch' anderer Hinsicht befindet.
Filme in Cannes sind nicht nur für mich immer verbunden mit Fußball. Die beiden Diegos und Roger Koza aus Argentinien habe ich als »Weltmeister« begrüßt, ihnen
gratuliert, und mich mit Diego Lerer lange über das Endspiel und über das Viertelfinale gegen die Niederlande unterhalten.
Francesco und Anna Maria aus der italienischen Hauptstadt bangen mit dem AS Rom und haben sich letzten Donnerstag das bleierne 0:0 gegen Leverkusen angeschaut und mir am Ende eine jubelnde Sprachnachricht geschickt, als das Erreichen des Finales gesichert war. Francesco aus Lissabon ist für Benfica, schwärmt von dessen deutschem Trainer und ist überzeugt,
dass in Portugal Spiele verschoben werden: Es sei nicht unwahrscheinlich, dass der FC Porto am letzten Spieltag 11:0 gewinne und damit die Tordifferenz ausgleiche. Die Spanier interessieren sich dafür, ob Cadiz und Almeria in der Liga bleiben und ob Girona sich für die Euro-League qualifiziert.
Und ich bin nicht der Einzige, der findet, dass der FC Bayern nicht Meister werden darf. Am Ende wird es wahrscheinlich aber wieder so kommen, so wie dann am Ende auch ein Film die Goldene
Palme bekommt, der sie nicht verdient hat.
Aber das ist Schicksal – und Fußball hat viel mit Schicksal zu tun, aber auch damit, dass man dieses Schicksal gelegentlich bezwingen und bändigen kann. Und so könnte es so sein, dass gegen alle Wahrscheinlichkeit Red Bull dem deutschen Fußball in dieser Saison wirklich Flügel verleihen könnte.
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Geld schießt Tore. Das gilt nicht nur für den Fußball, sondern auch für den Film. In Deutschland ist es das nicht vorhandene Geld, das dafür sorgt, dass das deutsche Kino dauerhaft am Boden liegt. Während es in den USA gerade losgeht, dass weniger Geld in Serien fließen, entdeckt die deutsche Filmförderung die Serien gerade erst so richtig.
Ein allgemeines Gesprächsthema unter den Deutschen bei den diesjährigen Filmfestspielen sind immer wieder die Auftritte der sogenannten Kulturstaatsministerin – insbesondere zuletzt beim Deutschen Filmpreis. »Sie hat eine Parteitagsrede gehalten« sagt einem ein Fernsehredakteur, ein anderer sagt: »Das ist stillos; das hat alle geärgert, selbst die, die ihr politisch nah sind«; ein dritter sagt »Sie sollte sich mal politisch zurückhalten, das haben ihre Vorgängerinnen auch gemacht.« Ein vierter Gesprächspartner, kein Redakteur sagt: »Kulturstaatsminister kommen und gehen, das Kino bleibt.«
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Womit man endlich mal aufhören muss, das sind die deutschen Cannes-Mythen und diese ganzen depperten Klischees über die Filmfestspiele von Cannes. Dass hier ein mafioses Freunderl-Netzwerk am Werk sei, dass der künstlerische Leiter Thierry Frémaux ein eitler Sonnenkönig sei, dass Cannes »arrogant« und »snobistisch« sei, dass es hier nur darum ginge, Filme von alten Männern zu zeigen.
Zwei, die zum ersten Mal hier sind, sprechen mit mir darüber, dass man hier ja »so viel Hollywood«
zeigen würde, und warum denn »Indiana Jones« hier läuft, das sei doch keine Kinokunst. Sie sollten mal nach Venedig gehen, antworte ich, und dass Jahrmarkt und Spektakel zum Kino selbstverständlich genauso dazugehören, wie asketische Kunstfilme. Nicht nur Gewohnheitstrinker erklären einem, dass man auf einem Bein nicht stehen kann.
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Natürlich sind die Filmfestspiele von Cannes zunächst einmal eine Schau des aktuellen Kinos. Aber gleichzeitig ist dies natürlich auch ein großes Geschäft. Und wir wollen nicht vergessen, dass solche Filmfestivals auch politisch sind und selber politische Akteure. Der Wettbewerb zwischen den Filmfestivals ist Politik und jemand wie der Festivaldirektor Thierry Frémaux ist selbstverständlich ein Spitzenpolitiker. Es geht um Vorherrschaft, es geht um Macht, es geht um Sichtbarkeit und um das Gesehen-werden – auch hier kann man das Ganze durchaus mit dem Treiben in Versailles vergleichen, von dem der Eröffnungsfilm erzählte. Cannes ist hier ganz klar die Nummer eins, es muss aber seine Stellung auch behaupten. Und die Streamer – damit ist ja nicht nur Netflix gemeint, sondern man könnte jetzt auch noch fünf andere Namen nennen – diese laufend neuen Player sagen im Grunde genommen, wenn sie ganz unverblümt und offen reden: Wir wollen gar kein Kino machen und wir wollen auch kein Kino haben. Wir wollen, dass die Leute zu Hause bleiben und vor der Glotze hängen und unsere Streams einen nach dem anderen anschauen. Das Ganze soll aber dann möglichst mit öffentlichen Geldern finanziert werden, die der Filmförderung zur Verfügung stehen.
Hier setzt das Filmfestival von Cannes jetzt an und hier hält es dagegen. Da hat Cannes eine ganz klare Linie gefahren und zwar schon sehr früh, vor sechs oder sieben Jahren. Sie lautet: »Wenn ihr von Netflix und Co Eure Filme bei uns zeigen wollt, dann müsst ihr Euch an bestimmte Spielregeln halten. Die wichtigste Spielregel: Die Filme müssen ins Kino kommen. Ansonsten nicht mit uns. Wir zeigen Filme, die fürs Kino gemacht sind. Wenn ihr Netflix und Co eure Filme bei uns zeigen wollt,
dann müsst ihr uns vertraglich und verbindlich zusagen, dass diese Filme auch ins Kino kommen und dort zu sehen sind.«
Diese harte Politik – eine harte Tür kann man sagen – ist von allen möglichen Seiten angegriffen worden. Nicht zuletzt aus Deutschland. Die deutsche Filmkritik hat erklärt, das ginge ja gar nicht, Cannes sei von gestern, man müsste sich auf die neuen Verhältnisse einlassen, pipapo. Was deutsche Filmkritiker eben immer gerne sagen.
Jetzt aber, gerade in
dieser Ausgabe kann Thierry Frémaux beweisen, dass er von Anfang an Recht hatte, dass er nicht von gestern ist, sondern gestern schon Politik für morgen gemacht hat. Dass er bereits gestern schon von morgen war; dass Cannes genau das Richtige gemacht hat. Denn jetzt kriechen alle Streamer zu Kreuze, jetzt geht es ihnen schlecht. Es gibt eine Kannibalisierung zwischen den Streamern, die alle ums Überleben kämpfen. Sie häufen alle riesige Schulden übereinander, und es ist schon jetzt klar,
dass es zu einer Flurbereinigung kommt und zu einer gegenseitigen Kannibalisierung dieser Streamer. Man fragt sich heute eigentlich nicht mehr: Wird Netflix verkauft? Sondern man fragt sich nur noch, an wen wird Netflix verkauft? Und man kann ziemlich sicher sein, dass wir in den nächsten zwei, drei Jahren eine Art Erdbeben in der Streaming-Landschaft erleben; dass hier kein Stein auf dem anderen bleibt und wenn wir in 5 Jahren bei den Filmfestspielen von Cannes sind, dann wird es
manche der jetzigen Akteure überhaupt nicht mehr geben. Vielleicht wird es den Namen noch geben, aber sie werden nicht mehr unabhängige Entscheider sein.
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Wie »weiblich« Cannes sei, fragt nicht nur eine Redaktion aus Deutschland. Tatsächlich ist Cannes relativ »weiblich«, falls wir überhaupt verstehen, was damit gemeint sein soll. Denn es gibt mit Iris Knobloch eine Präsidentin, die dem ganzen Festival vorsteht, und zwar nicht direkt über die Auswahl entscheidet, aber deren Wort natürlich trotzdem Gewicht hat.
Dann haben wir in diesem Jahr so viele Frauen wie noch nie im Wettbewerb, was ja auch nicht schlecht ist. Ob es etwas Gutes ist, ob es per se das Festival besser macht, das werden wir erst am Ende wissen. Denn allein die Tatsache, dass ein Film von einer Frau stammt, macht diesen Film nicht besser und nicht wichtiger. Am Ende geht es um die Qualität, und ich glaube, man wird in dieser Geschlechterdebatte den Frauen keinen Gefallen tun, wenn man Filme nur deswegen zeigt, weil sie von einer Frau kommen. Man wird schon auf Qualität achten müssen; falls die Filme von Frauen alle schlecht sein sollten, dann ist es besser, den einen oder anderen Film nicht zu zeigen, weil sonst sehr schnell so geredet wird, dass es heißt, der Film laufe ja nur deswegen, weil er von einer Frau ist.
Hier können wir auch nochmal zu dem Film von Johnny Depp kommen. Den hat ja nun eine Frau gemacht mit einem Hauptdarsteller, der auch »umstritten« ist und die Frau selbst ist auch »umstritten«, zumindest bei manchen – weniger in Frankreich, mehr woanders, weil sie sich nicht so benimmt wie manche Filmkritikerinnen und Funktionäre es gerne hätten. Auch bei Johnny Depp muss man aber ganz eindeutig sagen: Hier gilt nicht nur die Unschuldsvermutung, sondern es gibt sogar ein
Gerichtsurteil, das ihn freigesprochen hat. Daran muss man erinnern, wenn jetzt manche an die längst hinterlegten Vorwürfe erinnern. Es darf doch nicht sein, dass man eine Person damit öffentlich hinrichten kann, dass man einen Vorwurf erhebt, dann wird dieser Vorwurf zwar widerlegt, aber es bleibt immer etwas hängen und deswegen darf man dann angeblich keine Johnny-Depp-Filme mehr in Cannes zeigen. Man sieht, dass dies aus Sicht des Festivals auch genauso gesehen wird. Auch mit der
Auswahl dieses Films gibt das Festival ein ganz klares Statement ab: Ein Statement für die Kunst oder ein Statement für die richtige Perspektive auf die Kunst.
Es kann hier nicht darum gehen, ob es einzelne deutsche Filmkritikerinnen gibt, die sich bei diesem Film dann unbehaglich fühlen. Es geht um die Frage: Haben die Leute gute Filme gemacht? Wenn ja, dann wollen wir sie zeigen. Punkt. Und wenn wir sie nicht zeigen, dann liegt das an ihrer Qualität und nicht daran, dass sich diese
Menschen in den Augen mancher schlecht benommen haben. Oder weil uns die Persönlichkeit nicht passt.
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Es geht eben beim Film auch nicht um patriarchalische »Macker«, wie sich die sogenannte »Kulturstaatsministerin« ebenfalls beim Filmpreis die Sache wieder mal viel zu einfach machte. Es sind auch Frauen, und dann kann man natürlich über vermeintliche Frauen und über Mackergehabe von Frauen reden, auch von Politikerinnen, aber auch das geht ja letztlich am Thema komplett vorbei.
Es geht um künstlerische Freiheit. Und um Toleranz.
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Kein Hahn kräht nach Cannes als einer Bühne für Befindlichkeiten.
1959 bekam Black Orpheus die Goldene Palme. Direkt danach hielt der französische Kulturminister, der Schriftsteller André Malraux, eine Rede, in der er seine Bewunderung für das Kino ausdrückte: die erste Kunst der Welt.
Malraux war ein Optimist. Er glaubte: »was das Kino uns mehr und mehr zeigt, ist jedes Jahr, dass die Menschen trotz allem, was sie trennt, trotz den ernsthaftesten
Konflikten einige fundamentale Träume teilen.«
Die Wahrheit sah allerdings schon immer anders aus: Die Menschen waren noch nicht bereit für das Universelle und Perspektiven, die ihnen nicht passen, und sie sind es auch heute noch nicht. Das Screening des Films Hiroshima, mon amour sollte zum Beispiel von der amerikanischen Delegation blockiert werden.
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David Lisnard, der Bürgermeister von Cannes, gab in der Illustrierten »Gala« ein Interview. Darin erklärt er, dass die künstlerische Freiheit »ein Schatz« sei. Der Bürgermeister hat ein Buch mit dem Titel »Die Kultur wird uns retten« geschrieben. Das Magazin stellt ihm darum die Frage, ob die Kultur gerettet werden muss, bevor sie uns rettet und Lisnards Antwort lautet: »Ich beobachte gerade einen ungesunden Drift in ideologische Bereiche, in eine partielle Vision der Welt, in der kulturelle Produkte nur für die allgemeine Öffentlichkeit gestaltet werden. Wir müssen die künstlerische Freiheit verteidigen, wir können nicht öffentliche Gelder für Ziele verwenden, die ideologische Anerkennung sichern.« Der Bürgermeister glaubt, dass der Kampf gegen Diskriminierung ein politischer Vorwand ist und dass Kultur allzu oft als ein Vorwand benutzt wird. »Wir sind eine Demokratie und wir sollten stolz darauf sein, dass wir ein Gesetzesarsenal haben, das alle Minderheiten schützt und es ist allzu leicht für Menschen eine Minderheits- oder eine Opfer-Identität zu kreieren. Es kann zum System werden, zum Business, das sich bezahlt. Wokismus und internationaler Kapitalismus haben gemeinsame Interessen.«
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Brie Larsson, Jury-Mitglied und amerikanische Schauspielerin sagt bei der Pressekonferenz, auf Johnny Depp angesprochen: »Ich verstehe nicht, warum man mich immer wieder fragt, ob mich Johnny Depps Anwesenheit verstört. Ich denke, ich werde den Film sehen und ich weiß nicht, wie ich mich fühle, wenn ich es mache.«
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Ein weiteres, endlich mal ästhetisch-inhaltliches Thema ist wieder einmal »Slow Cinema«, also jene Filme, die ihr Tempo aufs Minimum reduzieren, die Zeit extrem dehnen, aber möglichst nie beschleunigen, die auf narrative Üblichkeiten verzichten, oder sie sogar bewusst mit Füßen treten. Üblichkeiten, die vielleicht, – das nur mal so als Frage –, ihre guten und universalen Gründe haben. Was wäre zum Beispiel die »Antigone« ohne Bewegung? Eine statische »Antigone«? Oder
eine die keinen Bruder hat, oder nur einen der noch lebt?
So ein Unsinn, oder?
Statisches Kino, bewegungslose Bewegung oder Slow Cinema kann Sinn machen, muss es aber keineswegs aus Prinzip. Eine gewisse Tendenz in der deutschen Filmkritik verteidigt aus meiner Sicht Langsamkeit und Antinarration aus Prinzip. Da fürchte ich, ist ein Kunstkitsch und auch eine gewisse kleinbürgerliche Spießigkeit am Werk, die es gediegen und behaglich haben will, kontrollierbar und ordentlich, übersichtlich.
Zum Beispiel gibt es hier zwei Filme aus dem Land des
Weltmeisters, aus Argentinien, die »Slow Cinema« praktizieren, aber ganz unterschiedlich. Los Delincuentes von Rodrigo Moreno bestätigte das extreme Talent dieses Regisseurs, das er 2006 in seinem ersten Spielfilm El custodio bereits an den Tag legte.
Der Argentinier entschuldigte sich umgeben von seinem Team erst einmal vor der Premiere auf der Bühne des »Salle Debussy« für die Länge seines Films. Dabei hat Los delincuentes von Anfang an eine unerhörte Intensität, die uns im Publikum geschlagene drei Stunden lang an unseren Sessel schraubte und die Zeit vergessen ließ. Ein Bankräuber- und Heist-Plot trifft sich mit einer Doppelgängergeschichte, mit einem Renoir-haften Realismus und Rohmer-Momenten. Das ganze ist nicht lethargisch, sondern ruhig.
Um diesen Unterschied geht es im Vergleich zu Eureka vom Argentinier Lisandro Alonso. Tatsächlich ist der auch eine Herausforderung an das Erzählkino. Drei – oder vier? – Geschichten, die nicht zusammengehören, lassen das Publikum bei allem Wohlwollen ratlos zurück, jedenfalls dessen mit Anstand größeren Teil, der von Filmen ein Minimum an Kohärenz erwartet, und später erzählen möchte.
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Grundsätzlich zu diskutieren wäre einmal mehr die Frage, was Kino eigentlich soll? Was ist Kino? Und worin unterscheiden sich Kino und Kunst? Darauf noch mal eine Erinnerung an Jean Luc Godard, der in einem Interview meinte: Kino ist das Gegenteil von Kunst. Ich glaube, er zielt damit auf exakt jenes Kino, das es sich am liebsten im Museum gemütlich machen würde.