13.07.2023
Cinema Moralia – 300 - Was Kino wirklich ist...

Was Kino wirklich ist...

Barbenheimer
»Barbenheimer«: inzwischen auch ein Offline-Phänomen...
(Foto: Warner Bros./Universal)

»Barbenheimer«: Wir müssen wieder lernen, im Kino groß zu denken. Und diese beiden Filme könnten uns dabei helfen – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 300. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Because we’re all going to die.«
– Greta Gerwig

»I want to see both Barbie and Oppen­heimer, I’ll see them opening weekend. Friday I’ll see Oppen­heimer first and then Barbie on Saturday. I grew up seeing movies on the big screen. That’s how I make them, and I like that expe­ri­ence; it’s immersive, and to have that as a community and an industry, it’s important.«
– Tom Cruise

»...for if cinema were not first and foremost film, it wouldn’t exist.«
Jean Luc Godard

Kino ist das schönste Medium. Wir, die wir dieses Medium als Beob­achter begleiten und kommen­tieren, müssen über soviel reden und schreiben, das mit Kino eigent­lich nichts zu tun hat, dass wir darüber manchmal das Wesent­liche vergessen.

Dieses Wesent­liche ist nicht irgendein Film­fes­tival, das kürzen muss. Es ist nicht eine Film­pro­duk­tion, die Insolvenz anmeldet, auch wenn einem das sehr leidtut. Schon eher die Regis­seure, die gerade mit dieser Firma arbeiten, auf sie gehofft haben, und deren Film nun gefährdet ist.

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Das Wesent­liche sind auch nicht marginale Filme, die für begrenzte Filter­blasen und über­sicht­liche Echo­kam­mern gemacht werden, die nur für die Kunst­ga­lerie entstanden sind, die über ein Film­fes­tival hinaus niemanden inter­es­sieren, die für Kritiker oder für andere Filme­ma­cher gedreht wurden. Solche Gruppen sind manchmal inter­es­sant für uns, aber unin­ter­es­sant fürs Kino.

Das Wesent­liche ist noch nicht mal das Kino selbst, dieser Ort. Denn eigent­lich geht es um eine Erfahrung, wie man sie viel­leicht leichter im dunklen Raum des Kinos macht, aber genauso als Fern­seh­zu­schauer oder vor seinem Computer machen kann. Es geht in erster Linie um Filme, nicht um Orte.

Das Wesent­liche sind die Filme, die wider­sprüch­lichste Publi­kums­gruppen vereinen und die einen Raum schaffen, in dem sie für diese andert­halb oder zwei oder manchmal auch drei Stunden, die ein Film dauert, unter­schied­lichste Gruppen verschmelzen. Erst dann, wenn das geschieht, ist Kino Gesell­schaft.

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Um das Kino hat man sich in den letzten Jahren viele Sorgen gemacht. Und man macht sie weiter. Es scheint so, dass die Einschläge näher kommen, auch wenn es den Streamern im Augen­blick noch schlechter geht, als den Film­ver­lei­hern und den Abspielstätten. Trotzdem hat man Tom Cruise und seinen Film Top Gun: Maverick im letzten Jahr als Retter des Kinos bezeichnet. Und trotzdem glaubt man, dass heute in diesen Wochen wieder die Rettung des Kinos nötig ist.

In den nächsten zwei Wochen könnte sich in dieser Lesart das Schicksal des Kinos entscheiden. Denn morgen startet mit Mission: Impos­sible – Dead Reckoning Teil 1 einer der großen Block­buster dieses Sommers. Der muss die Grundlage legen. Nächste Woche sind es dann zwei Filme, die unter­schied­li­cher nicht sein können und in deren Unter­schied­lich­keit man jetzt wohl tatsäch­lich mehr erfahren kann darüber, wohin die Reise in der Kino­zu­kunft gehen wird. Beide Filme haben viele Chancen auf Publi­kums­zu­spruch und Kult­po­ten­zial, und sind doch keine natür­li­chen Kassen­er­folge.

Die Rede ist von Greta Gerwigs Barbie und von Oppen­heimer von Chris­to­pher Nolan.

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Wir müssen wieder lernen, im Kino groß zu denken. Und diese beiden Filme könnten uns dabei helfen. Vergan­gene Woche hat David Steinitz in der »Süddeut­schen Zeitung« Imax-Chef Rich Gelfond inter­viewt, der mehr als 1800 Kinos in knapp 90 Ländern betreibt. Der Mann hat also einen gewissen Überblick. Die Botschaft des Kino-Machers war opti­mis­tisch: »Unser bestes Jahr bislang hatten wir 2019, also kurz vor der Pandemie. Die Umsätze von damals dürften wir aber dieses Jahr knacken. Nach der Pandemie will man nicht mehr auf der Couch sitzen. Die Leute wollen was erleben. Aber während zum Beispiel die Ticket­preise für Konzerte und Sport-Events stark gestiegen sind, ist ein Kino­be­such bei uns noch gut finan­zierbar.«
Filme, die eine Kino­aus­wer­tung hatten, liefen online viel besser als Filme ohne Kino­aus­wer­tung.

Aber die Botschaft war auch sehr klar: In der Krise steckt nicht das Kino und das Film­schauen, sondern die Film­pro­duk­tion. Er wünscht sich »große« bild­kräf­tige Filme. »Premi­um­er­fah­rungen«.
Die Kino­er­fah­rung des Zuschauers soll »so immersiv wie möglich« gestaltet werden, riesige Leinwände, super­duper-Sound­sys­teme und eigens dafür konzi­pierte Kameras. Chris­to­pher Nolan ist einer der größten Imax-Fans, ein Verächter des 3-D-Hypes, der seine letzten Filme mit Imax-Kameras gedreht hat. Sie seien der »Gold­stan­dard«.

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Gut, und jetzt diese Filme. Was ich von Barbie halten soll, das weiß ich noch nicht so richtig. Kann man sich den Film vorstellen? Wenn nicht, dann spricht das ja viel­leicht sogar für den Film. Auf Oppen­heimer freue ich mich schon seit Monaten, spätes­tens seit ich die ersten Trailer gesehen habe.

»Coun­ter­pro­gram­ming«, »Gegen­pro­gram­mie­rung« ist der Fach­be­griff für die absicht­liche Planung von zwei Film­starts am selben Tag, die sich an vermeint­lich sehr unter­schied­liche Ziel­gruppen richten. Das gab es in Hollywood schon 2008. Da starteten Mamma Mia! und The Dark Knight am selben Wochen­ende.

Die besten Trailer sind aber die jetzt auftau­chenden »Barben­heimer«-Filme.

Auch wenn vieles hier ironisch daher­kommt, gibt es einen echten Enthu­si­asmus für beide Filme, der die Vorfreude beflügelt – so sehr, dass sich »Barben­heimer« zu einem Offline-Phänomen entwi­ckelt hat. Nolan-Fans, Barbie-Fans und Cineasten haben das Eröff­nungs­wo­chen­ende der Filme zu einer Ausrede für ein überaus unwahr­schein­li­ches Doppel­fea­ture gemacht – ziemlich beein­dru­ckend, wenn man bedenkt, dass Oppen­heimer eine dunkel einge­färbte dreis­tün­dige Geschichts­stunde über den Mann ist, der für Hiroshima mitver­ant­wort­lich ist, während Barbie ein schwin­del­erre­gender, spru­delnder Zucker­rausch zu sein scheint. Dennoch sind die Fans so begeis­tert, dass der Hype um »Barben­heimer« zieht. Gerwig und ihre Haupt­dar­stel­lerin Margot Robbie spielen mit und haben ihre Eintritts­karten für Oppen­heimer in den Netz­werken zur Schau gestellt, und auch Cillian Murphy (der Oppen­heimer spielt) ist mit dabei.

Es gibt jetzt leiden­schaft­liche Diskus­sionen über die Reihen­folge, in der man die Filme sehen sollte. Für manche bedeutet »Oppen­barbie«, dass man Oppen­heimer zuerst sehen sollte, während »Barbie­heimer« bedeutet, dass man Barbie zuerst sehen sollte.

Da liest man dann Dinge wie: »The schedule needs to be black coffee and a cigarette oppen­heimer around 11 (its 3 hours) mimosas and brunch barbie around 6/7 dinner, drinks, club,« oder »›Barbie­heimer? Oh yeah, I’m there. I have it all planned out. First, I’m seeing Barbie, then Oppen­heimer, then Barbie AGAIN if I’m sad from Oppen­heimer‹.«

Memes, Witze und Fanar­tikel gibt es zuhauf, »Barben­heimer«-Shirts, Internet-Bilder von rosa Atom­pilzen, Bilder von Margot Robbies Barbie, die Cillian Murphys Oppen­heimer küsst, sind allge­gen­wärtig. Die Farb­kom­bi­na­tionen Rosa und Schwarz zusammen sind zu einem visuellen Kürzel geworden

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Mindes­tens noch ein weiterer Film verbreitet schon jetzt ähnliche Erwar­tungs­vor­freude, zumindest bei mir: Napoleon.

Hype und Kult und Subjek­ti­vismus und irra­tio­nale Begeis­te­rung und Vorfreude wie als Kind auf Weih­nachten – das ist Kino wirklich.