16.04.2021
Lovemobil-Debatte

Der bessere Max Ernst

Max Ernst
Max Ernst (links) mit Bundeskanzler Willy Brandt in dessen Olympia-Quartier in Feldafing, 1972
(Foto: Bundesarchiv/WikiCommons)

Warum Lovemobil das denkbar schlechteste Beispiel für eine Diskussion über Erwartungshaltungen an und wirtschaftliche Rahmenbedingungen für Dokumentarfilme ist

Von Arne Birkenstock

»Viel­leicht bin ich ja der bessere Max Ernst«, erklärte mir der Kunst­fäl­scher im Interview. „Richtig“ war daran nur: Seine Fälschungen atmeten den Zeitgeist der Gegenwart, waren dadurch an der Ober­fläche viel­leicht gefäl­liger und leichter zu verkaufen, als die Originale, die in den Zwanziger- und Dreißiger-Jahren entstanden sind. »Ich schaffe so eine größere Authen­ti­zität«, erzählte die Filme­ma­cherin, als es um ihr verkorkstes Langfilm-Debüt Lovemobil ging. „Richtig“ ist auch in ihrem Fall: Die hier geschaf­fene „Authen­ti­zität“ entspringt zwar keinem doku­men­ta­ri­schen Material oder echten Prot­ago­nis­tinnen, sondern dem biederen Blick einer Bildungs­bür­gerin auf das Milieu der Wohnwagen-Prosti­tu­tion. Aber erfüllt so die Erwar­tungen, die andere Bildungs­bürger aus Redak­tionen, Filmpreis- und Festi­val­kom­mis­sionen ans Sujet so haben, viel „besser“, als es der Origi­nal­sprech zweier Prosti­tu­ierter und ihres Zuhälters jemals könnte.

In beiden Fällen liegt eine gewisse Hybris, vor allem aber ein großes Miss­ver­s­tändnis zugrunde: Natürlich kann der künst­le­ri­sche Wert einer Fälschung nicht größer oder besser als das Original sein, auch wenn sich die Fälschung womöglich besser verkauft, weil sie ein wenig von der Kunst­ge­schichte seit Max Ernst und der Popkultur der 2000er Jahre mit den künst­le­ri­schen Schöp­fungs­ideen des Originals vermengt und so ein markt­kom­pa­ti­bles, den Erwar­tungs­hal­tungen von Gale­risten, Sammlern und Aukti­ons­häu­sern entge­gen­kom­mendes Kunst­hand­werk schafft. Und natürlich ist die von einer Regis­seurin imagi­nierte Authen­ti­zität im Lovemobil nicht deshalb „größer“, weil diese von ihr selbst künstlich herbei­ge­führte Vorstel­lungs­welt viel mehr den Erwar­tungen, Klischees und Vorur­teilen entspricht, die Kuratoren, Redak­teure und Preis­richter von Love­mo­bilen und ihren Bewoh­ne­rinnen so haben.

In Inter­views entschul­digt sich die Regis­seurin nun und bereut ihren vermeint­li­chen Kardi­nal­fehler, nämlich die fehlende Kenn­zeich­nung des Ganzen. Dass der eigent­liche Fehler viel früher geschehen ist und dass eine Tafel im Abspann aus einer Notlüge lediglich eine Notlösung, aber noch lange kein künst­le­ri­sches Konzept – und schon gar kein doku­men­ta­ri­sches gemacht hätte, kann sie nicht einge­stehen.

Wenn eine Regis­seurin Szenen mit Laien­dar­stel­lern und von ihr selbst und diesen mit ihr befreun­deten Darstel­le­rinnen impro­vi­sierten Dialogen insze­niert, dann ist das ein künst­le­risch zumindest frag­wür­diges Vorgehen, ein doku­men­ta­ri­sches Konzept ist es keines­falls. Es spricht überhaupt gar nichts gegen die visuelle Umsetzung und drama­tur­gi­sche Verdich­tung von doku­men­ta­ri­schem Material auch mit insze­na­to­ri­schen Mitteln, aber: Bildungs­bür­ger­li­ches Impro-Theater ist kein doku­men­ta­ri­sches Material!

Doku­men­ta­ri­sches Material kann aus anony­mi­sierten Inter­views, aus Tage­büchern, Briefen oder was auch immer bestehen, aber es sollte eben einer doku­men­ta­ri­schen Realität, dem Milieu und denje­nigen entspringen, um deren Lebens­wirk­lich­keit es jeweils geht und nicht dem Kopf einer Regis­seurin, die mit diesem Milieu im Grunde nichts zu tun hat, und am Abend eines jeden Drehtages die Wohn­mo­bile verlässt und zurück­fährt nach Gifhorn, in das groß­bür­ger­liche Eigenheim ihrer Eltern.

Das Ergebnis einer vier­jäh­rigen Beschäf­ti­gung mit diesem Milieu hätte eben sein müssen, authen­ti­sches und doku­men­ta­ri­sches Material zu finden und, wenn sich dieses vers­tänd­li­cher­weise nicht beob­ach­tend mit der Kamera einfangen lässt, ein Konzept zu entwi­ckeln, mit dem dieses Material visua­li­siert und in einem Film erzählt werden kann. Die Regis­seurin hat mit der Entschei­dung, wegge­lau­fene Prot­ago­nis­tinnen durch daher­ge­lau­fene Laien­dar­stel­le­rinnen zu ersetzen, zual­ler­erst sich selbst und ihre eigene Arbeit verraten und dabei ganz nebenbei auch vier Jahre Recher­che­ar­beit in die Tonne gekloppt.

Diese Erkenntnis ist bitter und für die Kollegin schwer einzu­ge­stehen. Von ihr hören und lesen wir nun vor allem weiner­liche Vorwürfe: Der Redakteur hätte sich zu wenig Zeit genommen, sonst hätte sie sich ihm womöglich offenbart und ihr Problem geschil­dert. Die finan­zi­ellen Rahmen­be­din­gungen waren prekär und außerdem habe der Redakteur bei einer Mate­ri­al­sich­tung ja selbst eine authen­ti­sche Prot­ago­nistin aus dem Film geschnitten. Entschul­di­gung? Diesem Redakteur wurden sämtliche Prot­ago­nisten als »echt« präsen­tiert, natürlich rät er zur Konzen­tra­tion auf dieje­nigen, die aus seiner Sicht filmisch und drama­tur­gisch am besten wirken und funk­tio­nieren. Dass auch dabei viel­leicht unbewusst die bildungs­bür­ger­li­chen Reflexe und Klischees zum Tragen kommen, die die Filme­ma­cherin mit ihrer Insze­nie­rung bedient – siehe oben – geschenkt.

Und natürlich müssen wir über die prekären wirt­schaft­li­chen Rahmen­be­din­gungen für Doku­men­tar­filme und ihre Macher sprechen, über die üblich gewor­denen Rück­wärts­kal­ku­la­tionen bei den meisten Sendern und über die fatale Tendenz, den Filme­ma­chern einen immer größeren Lizenz­um­fang für immer weniger Geld abzu­pressen. Aber doch bitte nicht am Beispiel Lovemobil, sondern am Beispiel der vielen, vielen Filme, die ebenfalls unter dem Zwang zur Selbst- und Fremd­aus­beu­tung entstehen und die trotzdem nicht mit Laien­schau­spie­lern betrügen.

Für den NDR war das Ganze ein Schnäpp­chen: 36.000 Euro für neunzig Minuten Doku­men­tar­film zum öffent­li­chen Abfeiern des Films und der dafür verlie­henen Preise und dann noch einmal genau so viel Sende­strecke zum öffent­li­chen Abfackeln der Regis­seurin auf allen Kanälen von „Strg F“, über „Kultur­journal“ und „Panorama“ bis „Zapp“. Trans­pa­renz und damit auch Öffent­lich­keit im öffent­lich-recht­li­chen Rundfunk sind in so einem Fall richtig und wichtig. Eine derart einsei­tige und unre­flek­tierte Medi­en­kam­pagne gegen die eigene Debüt-Regis­seurin durch den Sender ist aber wider­wärtig und zutiefst unkol­le­gial!

Und nun lehnen sich alle mehr oder weniger selbst­ge­fällig zurück: Der Sender in seiner verlo­genen Aufklärungs­pose, die Regis­seurin mit halb­her­zigen Entschul­di­gungen für eine unter­las­sene Tafel im Abspann und die Festi­val­ku­ra­toren mit didak­ti­schen Diskursen über Hybrid­formen im Doku­men­tar­film. Mein Problem damit: Lovemobil i st kein Doku­men­tar­film, sondern ein Spielfilm, der unter falscher Flagge gesegelt ist.

Und doch müssen wir Doku­men­tar­filmer fassungslos mit ansehen, wie sich „dank“ dieses Machwerks Kriterien verschieben:

  • Der Kollege Marc Wiese sieht sich mit seinem Doku­men­tar­film „Die Unbeug­samen“ plötzlich in einen Pseudo-Lovemobil-Skandal verstrickt, zu dem Thomas Brussig in der SZ völlig richtig anmerkt: »Es ist fies, beide Filme in einen Zusam­men­hang zu stellen. (...) Als wollte die Zeit ihrer Leser­schaft mal Koks geben (...), anstatt ihr in bewährter Manier einen gut gereiften Single Malt zu kredenzen.«
  • Gut 100 Kolleg*innen unter­zeichnen in einer Geste hilflosem Aktio­nismus eine Erklärung voller Allge­mein­plätze und verpflichten sich darin dem einzig wahren Dokfilm.
  • In den öffent­lich-recht­li­chen Sendern werden schon neue Formulare und Vertrags­an­hänge entworfen, mit denen man sich künftig gegen unsere betrü­ge­ri­sche Zunft absichern kann. Mehr Büro­kratie wagen!
  • Gestern tele­fo­nierte ich mit einem Autor, der seine eigenen guten Ideen zur Umsetzung eines Filmes zurück­ziehen wollte, weil er eine rufschä­di­gende Pseudo-Skan­da­li­sie­rung fürchtet.

Geht’s noch? Hier verrut­schen Maßstäbe auf höchst gefähr­liche Weise, weil ein völlig falscher Film zur Referenz wird. Aber: Lovemobil i st kein Maßstab und schon gar keine Referenz. Jeden­falls nicht für künst­le­ri­sches doku­men­ta­ri­sches Arbeiten. Wir sollten über verlogene und über­zo­gene Erwar­tungs­hal­tungen an Doku­men­tar­filme reden, über die vermeint­lich publi­kums­taug­li­chen Anfor­de­rungen zur Erfüllung spieß­bür­ger­li­cher Klischees. Unbedingt disku­tieren sollten wir auch über die wirt­schaft­li­chen Rahmen­be­din­gungen und den öffent­lich-rechtlich und staatlich „geför­derten“ Zwang zur Selbst­aus­beu­tung im Doku­men­tar­film! Für all das gibt es zahllose Filme und Beispiele. Der mediokre Spielfilm Lovemobil gehört nicht dazu.

Arne Birken­stock ist Regisseur und Produzent. Für seinen kontro­vers disku­tierten Doku­men­tar­film Beltracchi – Die Kunst der Fälschung über den Kunst­fäl­scher Wolfgang Beltracchi erhielt er 2014 den Deutschen Filmpreis für den besten Doku­men­tar­film. Er produ­ziert Doku­men­tar­filme von Regis­seu­rinnen und Regis­seuren wie u.a. Yasemin Samdereli, Uli Gaulke, Enrique Sánchez Lansch, Florian Opitz, Marcus Vetter, David Bernet und Milo Rau, zuletzt Das neue Evan­ge­lium. Arne Birken­stock vertritt die Sektion Doku­men­tar­film im Vorstand der Deutschen Film­aka­demie.