24.11.2016

Es ist Zeit – auf der Suche nach dem, was kommt

Dokumentarfilm HAPPY
Auch so kann der Dokumentarfilm heute aussehen: Happy

Duisburg trinkt eben doch lieber Bier als Sekt, verströmt Intellektualität und hält es wie jedes Jahr: Es stellt die Filme in den Mittelpunkt und nicht das Feiern der eigenen Arbeit – Impressionen von der 40. DUISBURGER FILMWOCHE 2016

Von Nora Moschuering

»Es ist Zeit« war das Motto oder der Unter­titel der dies­jäh­rigen Duis­burger Filmwoche. Ein Ruf in die Zukunft, weniger ein Blick in die Vergan­gen­heit. Ja, es war ein Jubiläum. Nein, es wurde nicht gefeiert. Kein »40 Jahre 40 Filme«, kein Best-off, keine Galerie mit 40 Plakat­mo­tiven oder eine Antho­logie mit Bonmots aus den Gesprächs­pro­to­kollen. Nein, Duisburg trinkt eben doch lieber Bier als Sekt und hält es wie jedes Jahr: Es stellt die Filme in den Mittel­punkt und nicht das Feiern der eigenen Arbeit.

Die »Zeiten in Duisburg« wie der Festi­val­leiter Werner Ruzicka in seinem Vorwort schreibt, stehen für die kritische und öffent­liche Ausein­an­der­set­zung mit dem Doku­men­tar­film. Wie jedes Jahr also pilgerte man im Anschluss an den Film hinüber in den Bespre­chungs­saal, in dem eine Stunde über die jeweilige Arbeit disku­tiert wurde und ging anschließend – also gefühlt fast Alle – eine rauchen, um sich dann wieder in den Kinosaal zu setzen, Trailer von Thomas Heise und der nächste Film und im Anschluss daran das nächste Gespräch. Die sorgsam geführten Gesprächs­pro­to­kolle können auf der Homepage herun­ter­ge­laden werden.

Über Festivals zu berichten ist immer unbe­frie­di­gend, weil man eben nicht einen Film hat, sondern eine Vielzahl davon und im Fall von Duisburg eben auch eine sehr hete­ro­gene Auswahl, denn den Doku­men­tar­film gibt es nicht, ja nicht einmal eine Tendenz. Aber für die Struk­tu­rie­rung des Textes habe ich drei Blöcke ausge­macht, zwei davon eher inhalt­lich, einer eher formal.

Block 1: Der Land­schafts­film

Irgendwie haftet dem Land­schafts­film immer eine merk­wür­dige Nostalgie nach der guten alten Zeit an, nach dem Zurück zur Natur, dem Graben in der Erde, dem Fällen der Bäume und dem freien Blick zum Horizont (der Block »Arbeit, Industrie und Stadt«, fehlte übrigens dieses Jahr komplett). Landstück von Volker Koepp ist dafür wohl das beste Beispiel, ein gedie­genes Alters­werk, ein Mann übrigens, der sich, ähnlich wie der Regisseur Rudolf Thome in Serpil Turhans Rudolf Thome – Überall Blumen, in die Land­schaft Bran­den­burgs zurück­zieht um dort Wein zu trinken und über Verän­de­rungen nach­zu­denken. Koepp und Thome denken über die Vergan­gen­heit und den Wandel nach, mit dem Unter­schied, dass Thome zusätz­lich an die Zukunft denkt (zu Turhans Film später mehr). So ist Koepps Film nicht wirklich inter­es­sant, aber irgendwie Genuss. Sigmund Steiner aller­dings verrennt sich in seinem Film Holz Erde Fleisch Mirr auf dem Feld, dem Wald und bei einem Schäfer um seinen Vater besser zu verstehen, der sich wünscht, dass er den Hof übernimmt. Das macht er formal zwar konse­quent, er bleibt dabei aber so sehr in alten patri­ar­cha­li­schen, unfle­xi­blen Rollen, dass das kleine Mädchen – auch eine mögliche Erbin – erst mal gefragt werden muss, ob sie denn wohl doch lieber noch auf einen Mann warten sollte. Papa hievt sie dann über den Bach und das ist schon entzü­ckend, aber ... wo soll das hinführen? Irgendwie ärgerlich. Da ist Mirr von Mehdi Sahebi, über die Land­rei­ni­gung des Staates im Nordosten Kambo­dschas und das Leiden der Klein­bauern, die zur ethni­schen Minder­heit der Bunong gehören, viel inter­es­santer. Zu dem Film, ebenso wie zu Nikolaus Geyr­hal­ters Homo Sapiens, beides auch Land­schafts­filme, im nächsten Block mehr.

Block 2: Der insze­nierte Doku­men­tar­film

Erstaun­lich viele Filme in Duisburg versuchten mithilfe der Insze­nie­rung ihren Prot­ago­nisten näher zu kommen. Das distan­ziert, verfremdet und bietet damit Schutz und macht Mut sich doch selber zu zeigen. Neben dem eben schon erwähnten Mirr, der den Förder­preis der Stadt Duisburg erhielt, sticht besonders Brüder der Nacht heraus, der mit dem 3-Sat-Doku­men­tar­film­preis ausge­zeichnet wurde. Aber auch Vreme von Dragana Jovanovic oder Die Geträumten von Ruth Beckermann, Safari von Ulrich Seidl, Homo Sapiens und Leben – Eine Gebrauchs­an­lei­tung arbeiten auf diese Art und Weise.
Brüder der Nacht von Patric Chiha, der eigentlich vom Spielfilm kommt, inszeniert die Schönheit junger, bulgarischer Roma die sich in Wien prostituieren. Wie er das macht, ist einerseits unheimlich schön, andererseits auch sehr traurig. Er gibt ihnen Beleuchtung, Kostüme, Requisiten in denen sie sich austoben können und in denen sie die Regisseure ihrer eigenen Wirklichkeit werden. Ein Spiel in dem alle Nein sagen dürfen und jeder Platz zum Erzählen hat.

Mirr von Mehdi Sahebi handelt von den Bunong im Nordosten Kambo­dschas, die ihre eigene traurige Geschichte und Realität nach­spielen. Der Staat hat die Bauern enteignet, um riesige Kaut­schuk­plan­tagen anzubauen. Die Bunong, selber ein schrift­loses Volk, geben so eindrück­lich ihr Leben wieder und weiter, das sonst vergessen oder gar vertrunken wird ... und wer weiß, was der Film bewirken kann?
Homo Sapiens von Nikolaus Geyr­halter ist nicht die Insze­nie­rung von Prot­ago­nisten, sondern von Räumen und Dingen. In langen Einstel­lungen, fast meditativ, führt er an Orte, die schon längst von den Menschen verlassen wurden und in denen nur noch der Wind die Dinge und Pflanzen bewegt. Das ist sehr schön, auf seine melan­cho­li­sche, apoka­lyp­ti­sche Art und Weise.

Die Geträumten von Ruth Becker­mann ist ein bisschen zu schön für Duisburg. Erzählt wird die große Liebes­ge­schichte von Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Sind Liebes­briefen, die eigent­lich nicht für die Öffent­lich­keit gedacht waren, Dokumente oder Gedichte? Becker­mann macht sie zu ihrem Drehbuch. Die Konver­sa­tion der beiden zog sich über Jahre hin. Die Prot­ago­nisten – er Schau­spieler, sie Musikerin – lesen die Briefe vor. Briefe werden zum Dialog. Durch die Stellung der beiden zuein­ander, ihre Blicke, die Gespräche in den Rauch­pausen, entsteht eine Spannung, die den Inhalt der Briefe lebendig werden lässt.

Hand­fester wird es bei Leben – Eine Gebrauchs­an­lei­tung von Jörg Adolph und Ralf Bücheler. Ein Update von Harun Farockis Leben – BRD von 1989, in dem dieser die Rollen­spiele, Schu­lungen und Übungen abfilmt, in denen wir unser Leben theo­re­tisch Vor-üben oder unsere Probleme Nach-bear­beiten. Die beiden sind näher dran, weniger distan­ziert und abstrakt als Farocki. Dadurch wird es leider aber auch weniger ironisch und unheim­lich. Nichts­des­to­trotz erfährt man viel über unseren Status Quo und was sich in den letzten dreißig Jahren geändert hat. Es scheint mehr Sinnsuche, Selbst-Coaching, Roboter, Howls und Yoga-Kurse zu geben.

Block 3: Der poli­ti­sche Doku­men­tar­film

Mit der Flücht­lings­krise beschäf­tigt sich der schon im Rahmen der Berlinale viel bespro­chene und hoch­ge­lobte Film Havarie von Philip Scheffner, der in Duisburg den ARTE-Doku­men­tar­film­preis erhielt. Der Film ist einer der wenigen Fälle in dem ein gutes Konzept sowohl formal, als auch inhalt­lich konse­quent durch­ge­halten wird. 3½ Minuten Handyfilm werden auf 90 Minuten gezogen. Und so wird das Bewegen der Bilder zu einem Ticken der Uhr oder einem mensch­li­chen Herz­schlag (Dinge die man auf der Tonebene auch hört). Man hat Zeit die einzelnen, sich immer leicht verän­dernden, stark pixeligen Bilder von Sekunde zu Sekunde neu zu befragen. Da treibt ein Flücht­lings­boot auf dem Meer, mit 13 Männern auf ihm. Weit weg sind sie und sie warten, wie alle. Auf der Tonebene besteht der Film aus Material, das Scheffner gefilmt hat, um einen ganz anderen Film über das gleiche Thema zu machen. Er hat nach den Insassen geforscht, nach dem Mann, der das Video gemacht hat, nach anderen Flücht­lingen und anderen Schiffen. Jedes dieser Gespräche wird als Ton bis zum Schluss laufen gelassen. Man hört, wie der Handy­filmer vom Konflikt in Nord­ir­land erzählt und anschließend seine Vögel füttert. Man wartet auf die Ankunft des Heli­ko­pters. Als dieser nach 90 Minuten kommt, beginnt für die 13 auf dem Schlauch­boot wieder ein neues Warten. Das Warten auf das Rettungs­schiff. Die »Adventure of the Seas«, das Kreuz­fahrt­schiff, dessen Funk­ver­kehr mit der spani­schen Küsten­wache man verfolgt hat, und von wo aus gefilmt wurde, setzt seine Reise fort.

Bruder Jakob ist der Bruder des Filme­ma­chers Eli Roland Sachs. Jakob konver­tierte zum sala­fis­ti­schen Islam. Darüber hat der Bruder einen Film gemacht. Was erst aus der Distanz geschieht, nähert sich immer weiter an. Jakob macht mit, er liest seine eigenen Texte, er steht Rede und Antwort. Er ist auf der Suche nach dem Sinn und hat dabei den Glauben gefunden – irgendwo in sich drinnen. Er bekommt eine voll verschlei­erte Ehefrau und zusammen bleiben sie weiter auf der Suche, während die Familie daneben steht. Zumindest der Dialog zwischen den beiden Brüdern ist wieder da.

Zwei sehr starke Filme. Dagegen ärgert Un solo colore von Jörg Burger. Burger wollte einen Film über Flücht­linge machen – aha – aber da war alles schon abgegrast an der Küste, also stieß er etwas ins Hinter­land vor und voilà da fand er auch Flücht­linge. In der Gemeinde Camini kümmert sich besonders ein Paar um sie, die nicht genau wissen, was sie in der Einsam­keit den ganzen lieben langen Tag tun sollen. Die Flücht­linge kommen in ihren kurzen Kommen­taren fast schon arrogant rüber, weil der Film verpasst, beide Seiten darzu­stellen und statt­dessen etwa 1/3 unre­flek­tiert das Paar reden lässt. Der Film bedarf eines Gesprächs, weil er von sich aus nicht funk­tio­niert, oder – was noch schlimmer ist – sogar falsch funk­tio­niert.

Offshore – Elmer und das Bank­ge­heimnis von Werner Schweizer funk­tio­niert zwar besser, so ganz glücklich ist man aber auch nicht. Der Film eines Schwei­zers über das Bank­ge­heimnis. Das gab es noch nicht, obwohl es über das Thema schon eine Menge Filme gibt (Falciani und der Banken­skandal von Ben Lewis beispiels­weise ist dem Film nicht nur im Titel ähnlich). Offenbar wird Selbst­kritik in der Schweiz nicht gerne gesehen. Es geht um den ehema­ligen Bank­ma­nager Rudolf Elmer, der die Seiten wechselt. Daneben auch um Schweizer selber, ein Linker der mitt­ler­weile einen Weinberg besitzt – dessen Produkte er in Duisburg immer wieder anpreist. Zwei Männer im ähnlichen Alter und aus der gleichen Gegend, mit unter­schied­li­chen Lebens­ent­würfen. Das kann man machen, schwierig wird es bei Elmar. Es scheitert an seiner fehlenden Moral, denn er ist mitnichten ein Bekehrter oder gar Idealist, sondern eine Art Mitläufer, der beleidigt ist, weil er von der Bank entlassen wird, für die er zuvor jahrelang gear­beitet hat. Das heißt, auch brav Geld auf Offshore-Konten gelagert hat. Stellt sich die Frage: Was macht man, wenn die Realität nicht in den Film passt? Dieses Dilemma stärker zu thema­ti­sieren wäre eine Möglich­keit gewesen, gerade wenn die andere Seite, also Schweizer selber, anschei­nend immer schon idea­lis­tisch gewesen ist.

Genannt werden sollen hier noch The Dazzling Light of Sunset von Salome Jashi, mein Favorit, über eine kleine Lokal­re­dak­tion in der Stadt Tsalen­jikha in Georgien. Kleine Geschichten werden zu einem Porträt der Stadt und zum Nabel ihrer Welt. Immer wieder posi­tio­nieren sich die scheinbar Schönen und die poli­ti­schen Gesti­ku­lierer auf den kleinen Bühnen, seien es wirkliche Bühnen oder die Bühnen des Medi­en­raumes. Oft ist der Schein, das Auftreten, hier wichtiger als der Inhalt und eine kleine, wilde Eule span­nender als eine Wahl.

Die »Carte Blanche«, der Nach­wuchs­preis des Landes NRW ging an Paradies! Paradies! von Kurdwin Ayub. Sie studierte an der Akademie Wien Malerei und expe­ri­men­tellen Anima­ti­ons­film. In Paradies! Paradies! beschreibt sie die sehr schräge Beziehung zu ihrem Vater, ein Kurde, der als Arzt in Wien lebt. Kurdwin fährt mit ihrem Vater in den Irak – ohne sie fährt er auch nicht –, die Mutter bleibt derweilen in Wien. Kurdwin löst sich nicht mehr von der Kamera, ab und an kann man ihr schwarzes Haar um die Kamera herum im Spiegel sehen. Ihre Stimme dagegen hört man ständig. Der Vater möchte eine Wohnung kaufen und schwärmt von der Heimat, der Cousin möchte nur weg. Der Vater fährt zu den Peschmerga-Kämpfern, wie ein Tourist. Da benutzt er so häufig das Victory-Zeichen, dass es noch alberner wirkt, als es das ohnehin schon tut. Paradies! Paradies! ist eigent­lich ein zutiefst ernster Film über Exil, aber gleich­zeitig auch lustig. Wie die Kamera in einem voll­kommen rosa Kinder­zimmer verharrt, während sich Onkel und Tante im Neben­zimmer streiten. Wie die Peschmerga-Kämpfer sich in einem Laden für Militär­be­darf drängen und über die modischen Jacken sprechen, das ist komisch und tragisch.

Ein weiterer Vater-Tochter Film hat den Publi­kums­preis der Rhei­ni­schen Post bekommen: Happy von Carolin Genreith. Genreith beschäf­tigt sich aller­dings auf eine viel naivere Weise mit ihrem Vater als Ayub. Die Naivität ist sicher Kalkül. Sie begleitet ihren Vater nach Thailand wo dieser seine neue, viel jüngere Frau heiraten will. Leider beschäf­tigt sich der Film eher mit einer verun­si­cherten Tochter als mit den wirklich drän­genden Themen, wie Einsam­keit im Alter, Prosti­tu­tion oder den Begriff von Liebe. Finden kann man das zwar alles, aber es wird einem auch leicht gemacht es zu vergessen. Der Film macht aber wirklich Spaß. Viel­leicht also nicht unbedingt ein Film für die Kritiker, Film­theo­re­tiker und Cineasten, die das Festival manchmal schon fast einschüch­ternd intel­lek­tua­li­sieren, aber eben doch eine Position, wie der Doku­men­tar­film heute aussehen kann. Auch bei Serpil Turhans Rudolf Thome – Überall Blumen nähert sich eine junge Frau einem älteren Mann, dem Regisseur Thome, an und das sehr klug, da sich beide im Medium auskennen und sie mitein­ander spielen. Thome trennt sich nach und nach von seiner eigenen Rolle als Filmender und Gefilmter und da sehen wir ihn plötzlich wie er ist, auf seiner Suche nach dem Leben, was noch kommt. Na also: Es ist Zeit