Mit Film, Text und Eleganz |
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Above and Below: ein Dokumentarfilm, der Flagge zeigt |
Von Nora Moschuering
»We don’t do it nice for you – filmcrew« – Zitat Thomas Hirschhorn, zusammen mit seiner Hybris. Der Klebebandkünstler, u.a. bekannt durch seine abermalige Versenkung der »Concordia« in einer New Yorker Galerie und seinem begehbaren »Crystal of Resistance« auf der Biennale in Venedig, erbaut ein Monument in der Bronx, das »Cramsci Monument«. In Duisburg lief der gleichnamige Film von Angelo A. Lüdin. Aber viel interessanter als die zitierte Dokumentarfilmer-Beschimpfung ist die Frage, ja vielleicht auch das Problem, das dahinter steckt. Inwiefern ändert sich die Wirklichkeit für und vielleicht auch durch den Film? Welche Position nimmt der Beobachter ein?
»Ausgänge« hieß es auf der 39. Duisburger Filmwoche. Der Leiter des Festivals Werner Ružička schreibt in der Einleitung zum Katalog dazu: »Sich in die Bilder und über sie hinaus denken; sich im Dunklen leiten und aus ihm verleiten lassen: Duisburg hält die Fackel und sucht nach Ausgängen.« Ein Ausgang ist auch immer ein Eingang. Und die Wahl eines Ausgangs auch immer die Absage an einen anderen. Das müssen in Duisburg auch die Filmemacher lernen, denn eine der Fragen, die sie oft beantworten mussten, war die nach dem, was man in dem jeweiligen Film eben nicht sehen konnte. Neben dem Filmeschauen hält Duisburg auch die Fackel für das Sprechen über Filme hoch. Die zahlreichen Gesprächsprotokolle (die ersten von 1980), die sich auf der Homepage finden, bilden eine Art Archiv des Dokumentarfilms, zeigen Themen und den formalen Umgang der letzten 35 Jahre.
26 Dokumentarfilme aus dem deutschsprachigen Raum liefen auf der diesjährigen Filmwoche. Den Beginn machte Arlette – Mut Ist Ein Muskel von Florian Hoffmann, der an der DFFB in Berlin studiert und dort als Studentensprecher der letzten Jahre auf der Präsidenten-Findungs-Odysee der Hochschule immer wieder in Erscheinung getreten ist. Ausgangspunkt für Arlette war der Dokumentarfilm Carte Blanche aus dem Jahr 2011 von Hoffmanns Mutter Heidi Specogna. In ihm zeigt Specogna, wie der Internationale Gerichtshof in Den Haag das Verfahren gegen den kongolesischen Milizenführer Jean-Pierre Bemba vorbereitet (der Film lief auch in Duisburg und erhielt einen Preis). Arlette ist eine der Protagonistinnen, eine Kriegsversehrte, ein Opfer des Regimes. In Hoffmanns Film geht Arlette auf eine Reise, um sich in Europa in medizinische Behandlung zu begeben. Das Publikum des Filmes Carte Blanche war bei der Vorführung in Locarno so berührt, dass sie dies finanziell ermöglicht haben – Filme mischen sich an dieser Stelle also mehrere Male in die Realität ein und verändern sie. Hoffmann begleitete Arlette auf ihrer Reise. Er filmt Arlette nicht frontal, sondern Arlette tritt mit der Kamera in einen Dialog, der sich weniger durch die Sprache als vielmehr durch ihr Gesicht und ihr Verhalten der Kamera gegenüber darstellt.
Das Thema Flüchtlinge trat in Duisburg zwar immer wieder auf, aber neben Arlette – der sich weniger um Flucht, als mehr um Fluchtursachen dreht, gab es in Duisburg wenig Filme die sich direkt mit dem Thema beschäftigt haben. Es bleibt abzuwarten, wie sich das im nächsten Jahr darstellt, denn trotz aller Dramatik handelt es sich um ein relativ junges Thema. Der einzige Film der wirklich konkret auf die Debatte Bezug nahm war Lampedusa im Winter von Jakob Brossmann, der den Publikumspreis des Festivals erhielt. Die italienische Insel Lampedusa ist für viele Flüchtlinge eine Art erster Schritt auf europäischem Boden. Die Insulaner leben dort schon seit einigen Jahren in einer Art permanenter Ausnahmesituation. So ist es ein Film sowohl über Fliehende, als auch über Aufnehmende, die sich in solidarischer Gemeinschaft auf der Insel zusammenfinden. Ein weiterer Film, der sich, wenn auch nicht mit den aktuellen Flüchtlingen, aber doch mit Emigranten beschäftigt, war Siamo Italiani von Alexander J. Seiler, Rob Gnant und June Kovach aus dem Jahr 1963, der in einem Extra zu sehen war. Der Film handelt von italienischen Gastarbeitern in der Schweiz und den Reaktionen und Sorgen der Bevölkerung. Es ist erstaunlich wie diese, 50 Jahre früher, den unbestimmten Ängsten von heute gleichen. Auch Iraqi Odyssey von Samir legt einen Fokus auf die 60er Jahren. Der schweizer-irakische Regisseur erzählt die Geschichte seiner eigenen irakischen Großfamilie und damit auf sehr persönlicher Ebene auch die politische Geschichte eines ganzen Landes.
Der österreichische Filmemacher Nikolaus Geyrhalter (Unser täglich Brot, Elsewhere) kam bei der Preisverleihung noch einmal auf die Flüchtlinge zu sprechen, um auf eine Petition unter dem Titel »For a 1000 Lives« aufmerksam zu machen. Kurz darauf musste Geyrhalter – für ihn überraschend – dann noch einmal auf die Bühne, um den 3sat-Dokumentarfilmpreis entgegenzunehmen, den er für seinen Film Über die Jahre bekam. Nichts mit Flüchtlingen. Geyrhalter begleitet darin über zehn Jahre das Leben ehemaliger Angestellter einer Textilfabrik im Waldviertel. Die Zeit scheint still zu stehen an diesem Ort und bei der Frage der Bedeutung von Arbeit. Dabei entwickelt Geyrhalter einmal mehr anhand sehr persönlicher und sensibler Bilder eine große, übergeordnete Geschichte, eine Art gesamtgesellschaftlicher Zustandbeschreibung am Beispiel von wenigen.
Die Beobachtung von anderen und in ihnen die Spiegelung von sich selbst, sowie das eigene Sich-Suchen im Transitbereich zweier Länder, spielt bei einigen jungen Filmemacher eine zentrale Rolle. Josefina Gill beispielsweise, reiste in Was Die Gezeiten mit sich bringen von Deutschland nach Argentinien, wie ihr eigener Großvater 80 Jahre zuvor, und beschäftigte sich dabei mit der Vermessung ihrer eigenen Identität. Marcin Malaszczak stellt verschiedene Frauen in den Fokus, die mit ihm irgendwie in Zusammenhang stehen und malt in The Days Run Away Like Wild Horses Over The Hills ein Bild über sein Leben zwischen Deutschland und Polen.
Zaplyv, die Schwimmer der in Russland geborenen Filmemacherin Kristina Paustian, erzählt die surreale Geschichte russischer Sinn- und Glückssucher. Wie findet man das Glück in Russland und welche Gestalt kann es dabei annehmen? Die Gestalt eines ehemaligen Physikers zum Beispiel, der so wenig Charisma hat wie ein Topf? Hier ja. Er ist eine Art Guru aus Versehen, der aber doch ein Strahlen auf die Gesichter seiner meist weiblichen Anhänger zaubert, obwohl er – zumindest während des Filmes – kaum etwas zu sagen hat und schon gar nichts von Bedeutung. Was er zu bieten hat, ist lediglich eine Art Kneipp-Kur mit Anfassen und ab und an etwas Ausdruckstanz. Dazwischen zeigt Paustian immer wieder ein Mädchen, die unfreiwillig und immer skeptisch die dritte Person bildet, den Außenstehenden, der versucht das Ganze zu ergründen. Für den Film erhielt sie den Arte-Dokumentarfilmpreis. Auch Sag mir Mnemosyne von Lisa Sperling versucht etwas auf dem Grund zu gehen. Sie sucht nach Worten und Bildern, um daraus einen Menschen hervorzuschälen, den sie selber nie kennengelernt hat, ihren Großonkel. Dass er Kameramann war, das weiß sie über ihn. Damit gibt es eine erste starke Verbindung zu ihr, zu ihrem Leben und Wollen. So collagiert Sperling Filmausschnitte aus den Filmen des Onkels, mit Orten und Texten, die zu ihm, aber auch zu ihr passen. Immer mehr mischt sich seine mögliche Vergangenheit mit ihrer tatsächlichen Gegenwart. Dabei werden Lücken gelassen, die jeder Betrachter selber füllen kann. Sperling erhielt die »Carte Blanche«, den Nachwuchspreis des Landes NRW. Eine weitere junge Frau gewann den Förderpreis der Stadt Duisburg: Lin Sternal für ihren Film Eismädchen, eine Beobachtung der Beziehung zweier Schwestern und ihrer ehrgeizigen Mutter, die sie in die Welt des Eiskunstlaufs drängt.
Steckt Eismädchen in der Dreierkonstellation der zwei Töchter und ihrer ehrgeizigen Mutter, weitet Nicht alles schlucken – Ein Film über Krisen und Psychopharmaka von Jana Kalms, Piet Stolz und Sebastian Winkels das soziale Umfeld. Der Film bildet eine Art Therapierunde, in der Menschen von ihren Erfahrungen mit Krisen und der Einnahme von Psychopharmaka berichten. Der Zuschauer wird fast zum Teilnehmer der Runde. Der Film bietet keine Lösungen und fällt auch keine definitive Aussage darüber, ob etwas richtig oder falsch ist. Auch Staatsdiener von Marie Wilke bezieht keine konkrete Position. Zusammen mit jungen Polizisten durchläuft man ihre Ausbildung und ihre ersten Einsätze. Man sieht praktische Übungen, von Befragungen, zum gemeinsamen Marschieren, bis hin zu Einsätzen in einer durchschnittlichen deutschen Modellwohnung. Das erzeugt manchmal surreale, fast witzige Momente, die aber immer wieder kippen, bei den abendlichen Runden am Tisch, in denen über Moralvorstellungen gesprochen wird und natürlich in dem Moment, in dem es wirklich nach draußen geht, die Theorie in die Praxis umgesetzt wird. Fußballspiel, Sicherung einer Demo, Ruhestörung oder Besuch bei einem einsamen Trinker. Bei der anschließenden Diskussion kam ein Polizist zu Wort. Der Einbruch des Realen zwischen den Theoretikern oder den Teilzeit-Praktikern.
Mit Democracy – Im Rausch der Daten und Above and Below liefen zwei Filme, die den Purismusliebhabern im Publikum sicher nicht gut gefallen haben dürften, denn sie trauten sich an Pathos, an Pomp, an theatralische und schöne Bilder. Aber das ist es eben auch, was Duisburg ausmacht, das breite Spektrum, die Gesichter, die der Dokumentarfilm haben kann. Die Aussage in Democracy – Im Rausch der Daten von David Bernet: »Daten sind das Öl von heute«. Klar, das sieht man im neuen James Bond auch gerade. Und so beginnt dieser Film etwas zu cool mit kreisenden Hubschraubern und dunklen Limousinen, ändert dann aber seine Richtung, je mehr der Regisseur sich darauf einlässt, seinem Protagonisten zu vertrauen und dessen Heldenreise begleitet. Anhand des Datenschutzgesetzes in der EU lernt der Zuschauer, wie das Parlament, die Ausschüsse, die Berichterstatter und auch die Lobbyisten an einem Gesetzesentwurf arbeiten. Das ist ein bisschen didaktisch, aber gut, und wenn Edward Snowden und Wikileaks gerade zum rechten Moment auftauchen, dann denkt man doch kurz an einen dramaturgischen Plan des Lebens. Above and Below von Nicolas Steiner, ebenfalls in super 1:2,35-Breitbildformat, erzählt von zwei Menschen, die in der Kanalisation unter Las Vegas leben, einem Mann in der Wüste und einer Frau, die dafür trainiert, auf den Mars zu fliegen. Wo lebt man und wie lebt man? Grandiose Bilder und ein fast schon zu poppiger Sound, was zugegebenermaßen irgendwie nicht recht zu den Geschichten passen will, aber doch hineinzieht.
Zurück zu Thomas Hirschhorn und seiner Hybris. Nichts wird also verändert für den Film?! Dabei kann man sich sicher sein, dass dieser Mensch, der doch weniger an der Verbesserung der Welt, als viel stärker auf seinen Nachruhm aus ist, sehr gut weiß, weshalb er das Filmteam mit dabei hat. Sie dokumentieren, was anderenfalls vergänglich ist, Zwischenmenschliches, Performances, den Prozess des Bauens, das Ereignis.
Zu sehen war in Duisburg Vieles: Leute, die das System von außen betrachten oder selbst Teil des Systems sind. Leute, die das System verändern oder nehmen, was sie vorfinden. Es gibt aber noch eine Möglichkeit: Die Autopoiesis. Bedeutet, dass durch das Zusammenwirken der Elemente innerhalb eines Systems neue Elemente erzeugt werden. Das gelingt in Duisburg mit den Filmgesprächen. Der Film wird damit wieder zu einem gesellschaftlichen Wesen: Der Akt des zusammen in einem Raum Seins, des gemeinsamen Sehens und das im Anschluss darüber Sprechen – nicht als Bonbon, sondern als untrennbares und fast gleichberechtigtes Ritual – führt zu neuen Gedanken über den Film und über die Wirklichkeit.
39. DUISBURGER FILMWOCHE 2015 – das Festival des deutschsprachigen Dokumentarfilms
02. – 08.11.2015