30.10.2008

Der Tod und die Mädchen

Torpedo von Helene Hegemann
Torpedo von Helene Hegemann auf den 42. Hofer Filmtagen

Die 42. Hofer Filmtage blicken in die Zukunft des deutschen Kinos und belegen: Das deutsche Kino braucht mehr Torpedos

Von Rüdiger Suchsland

Es war ein schweres Geschütz, das in die beschau­liche Ruhe der Hofer Filmtage einschlug: Die Geschichte über ein Little Lost Girl, das seine Mutter verloren hat, erzählt mit beein­dru­ckender Unbe­irr­bar­keit im Niemands­land zwischen Genie und Wahn, mit viel Tempo, in frag­men­ta­ri­schen Szenen getreu dem bekannten Godard-Ausspruch, ein Film müsse einen Anfang, eine Mitte, und ein Ende haben – aber nicht unbedingt in dieser Reihen­folge. Torpedo heißt das Debüt der erst 16-jährigen Helene Hegemann. Alice Dwyer beein­druckte einmal mehr in der Haupt­rolle, mit dabei waren auch mehrere Volks­büh­ne­stars, allen voran Jule Böwe.
Nur 40 Minuten lang ist der Film, aber als man nach diesen 40 Minuten wieder den Himmel sah, blickte man auch anders auf das deutsche Kino. So könnte es sein: Wild, riskant, gefähr­lich. Mit Mut, dem Zuschauer etwas zuzumuten, aber auch der Lust, es zu bezaubern und zu verführen – so es sich denn verführen lässt, und einer Regis­seurin genug Vertrauen gibt, einfach mit ihr mitzu­gehen auf unbe­kanntes Terrain.

+ + +

So muss es gewesen sein, als vor 41 Jahren alles in Hof anfing: Der junge, neue deutsche Film, der sich selbst und seinem Publikum einen neuen Blick auf scheinbar Bekanntes entdeckte. Heute herrschen, auch nicht zuletzt in Hof, über­wie­gend Ruhe und Routine, manchmal nahe an der Selbst­genüg­sam­keit. Von Achtern­busch über Rosa von Praunheim, der den städ­ti­schen Filmpreis bekam, bis Wenders schauen die alten Helden immer wieder vorbei, und man regis­triert das gern, auch wenn sie dem Kino schon seit Jahren nichts Wesent­li­ches hinzu­ge­fügt haben. Nicht umsonst nennt man das Festival häufig ein Fami­li­en­treffen, und auch wenn man gern hinfährt, und schaut, was so aus der Verwandt­schaft geworden ist, und was es Neues gibt – echte Über­ra­schungen waren in den letzten Jahren selten.

+ + +

Trotzdem: Es hätte keine bessere Woche für die Hofer Filmtage geben können, als diese vergan­gene! Denn in der starteten mit Anonyma und Nordwand gleich zwei dieser typischen neuen deutschen Groß­pro­duk­tionen im Kino, mit denen die deutsche Film-Branche mal wieder nach den inter­na­tio­nalen Sternen greifen will. Der Flop beider Filme an der Kasse steht schon nach wenigen Tagen fest und war Gesprächs­thema Nummer eins rund um den legen­dären Hofer Brat­wurst­stand bei den dies­jäh­rigen Filmtagen. Ohne Gehäs­sig­keit, aber doch mit einiger Genug­tuung (und ein paar spitzen Kommen­taren über den gerade 80 gewor­denen Münchner Anonyma-Produ­zenten Günther Rohrbach, der seit Jahren mit der Behaup­tung hausieren geht, er wüsste, wie man gehobene Publi­kums­filme und Kassen­er­folge mit Anspruch dreht und jetzt vom Publikum ein verdientes Geburts­tags­prä­sent erhält) regis­trierten viele der anwe­senden Filme­ma­cher, dass man mit Geld allein jeden­falls im Kino keinen Erfolg kaufen kann.
Die Inter­na­tio­nalen Hofer Filmtage, seit ihren Anfängen in schöp­fe­ri­scher Unbe­irr­bar­keit von Festi­val­chef Heinz Badewitz gelenkt, haben sich schon immer als ein Gegen­ent­wurf zu allen Formen von Indus­trie­kino verstanden. Die Zukunft des deutschen Films, das regis­trierten in Hof hinter vorge­hal­tener Hand selbst einige der einfluss­rei­chen Fern­seh­re­dak­teure, liegt jeden­falls nicht bei den in manchen Produ­zenten und TV-Inten­dan­ten­kreisen so beliebten Histo­rien­ge­mälde und Heimat­film­schinken. Das bestä­tigte auch die dies­jäh­rige Auswahl in Hof, die neben manch' auslän­di­schem Werk 32 Spiel- und Doku­men­tar­filme aus Deutsch­land präsen­tierte, dazu viele Kurzfilme – eine Gele­gen­heit, dieje­nigen Filme­ma­cher kennen­zu­lernen, die das deutsche Kino in den nächsten Jahren prägen werden.

+ + +

Zu ihnen gehört Matthias Luthardt. Sein Debüt Pingpong schaffte es in die »Semaine de la Critique« von Cannes und dann einen Über­ra­schungs­er­folg an den deutschen und fran­zö­si­schen Kino­kassen. In seinem neuen Film, einer SWR-Produk­tion mit dem arg umständ­li­chen Titel Der Tag, an dem ich meinen toten Mann traf hat Luthardt nun einen Roman verfilmt, in dessen Zentrum Helene steht, eine junge Frau, die mit dem Verschwinden ihres Mannes nicht fertig wird. Vermut­lich ist er tot, doch die Leiche wurde nie gefunden. Man könnte das ganze als sozi­al­psy­cho­lo­gi­sche Studie verstehen, über die Über­for­de­rung von Helene in ihren ganzen neuen Rollen, als Chefin, allein­er­zie­hende Mutter und plötzlich wieder von vielen Männern umworbene Frau. Und durchs Drehbuch schimmern manchmal ganz kurz die Klischees der Fern­seh­dra­ma­turgie. Doch der Regisseur hat seine Story fern von allen Frau­en­zeit­schrift­s­pro­blemen und Befind­lich­keits­stu­dien angelegt, als fast schon schwarz­ro­man­ti­sche Gefühls­reise einer Schlaf­wand­lerin auf der Grenze zwischen Traum und Wachen. Die Doppel­gänger- und Geis­ter­mo­tivik, die von Beginn an angelegt ist, wird offen­sicht­lich, als Helene einen Mann trifft, den sie für den Verschwun­denen hält – und der Zuschauer muss es wider bessere Einsicht zwischen­durch für möglich halten, dass sie recht hat. Der Film überzeugt vor allem in der Insze­nie­rung, zu der grund­sätz­liche Inten­sität ebenso gehört, wie immer wieder betörende Bilder (Kamera: Christian Marohl) und eine – bei diesem Märchen für Erwach­sene erstaun­liche – Stim­mig­keit des Milieus.

+ + +

Die Retro­spek­tive 2008 galt der US-Regis­seurin Allison Anders, die hier­zu­lande vor allem mit Gas Food Lodging (1992) bekannt wurde. Anders ist eine Vertre­terin des Inde­pen­dent-Kinos, das in Amerika auch schon in die Jahre gekommen ist. Eine gute und mutige Entschei­dung von Festi­val­chef Heinz Badewitz, denn im Kontrast warfen diese Filme unwill­kür­lich die Frage auf, ob und wo es jenseits von über­fi­nan­zierten Reprä­sen­ta­tiv­filmen der Industrie à la Anonyma und dem überall spürbaren Einfluss der Fern­seh­dra­ma­turgen eigent­lich noch ein unab­hän­giges deutsches Kino gibt?
Tangerine von Irene von Alberti gehört gewiss dazu. Die Regis­seurin erzählt von einem Cultural Clash in Tanger, Marokko, von der unmö­g­li­chen Freund­schaft zwischen einer deutschen Musikerin und höheren Tochter und einem Mädchen, das als Tänzerin arbeitet. Grenzen zur Prosti­tu­tion sind fließend. Ein flanie­render, flir­render, mit Hand­ka­mera gedrehter Film über die Verschrän­kung von Geld und Gefühl, über Ausbeu­tungs-verhält­nisse, mit zwei sehr über­zeu­genden Haupt­dar­stel­le­rinnen (Nora von Wald­stetten und Sabrina Ouazani), dem man einen deutschen Kinostart wünscht – nicht zuletzt auch, weil die Regis­seurin sich im Gegensatz zu vielen Kollegen dafür inter­es­siert, aus den üblichen deutschen Mittel­stands­ver­hält­nissen wegzu­kommen und andere Lebens-wirk­lich­keiten einzu­fangen.
Wie deutsches Inde­pen­dent-Kino produk­ti­ons­tech­nisch gehen könnte, das machte in Hof unter anderem Hans Christoph Blumen­berg vor: Warten auf Angelina entstand ohne Fern­seh­be­tei­li­gung und Förderung in nur zehn Drehtagen, zwei Monate nachdem Blumen­berg die erste Idee hatte, »einen Film über diesen Celebrity-Wahnsinn« zu drehen. Der Film besitzt alle Mängel wie Vorzüge seiner Produk­ti­ons­be­din­gungen, es überwiegt aber die Lust aller Betei­ligten an der Möglich­keit, auf der Leinwand Spon­ta­n­eität zu zeigen. So verschafft Blumen­berg unter anderem Barbara Auer und Gudrun Landgrebe die über­fäl­lige Rückkehr auf die Leinwand – allein dafür muss man den Film schon mögen. Zudem ist diese anspie­lungs­reiche Odd-Couple-Geschichte über einen naiven Fanboy und einen abge­brühten Promi-Paparazzo, die beide in Berlin Mitte auf Angelina Jolie und Brad Pitt warten, die dort angeblich ihr neues Appar­te­ment beziehen sollen, über­ra­schend witzig. Und Komödien, zumal für Erwach­sene, sind selten im deutschen Kino.

+ + +

Unter den 32 deutschen Spiel- und Doku­men­tar­filmen der Auswahl überwogen sehr private und eher traurig-melan­cho­li­sche Stoffe. Vieles kreiste um den Tod, auch etwa Caroline Links Eröff­nungs­film Im Winter ein Jahr. Link gehört längst zu den festen Größen des deutschen Kinos. Einziges Manko: Dass sie so wenige Filme macht, sich sehr viel Zeit lässt zwischen ihren Produk­tionen. Der neue Film – Links erster, seit ihrem Oscar­ge­winn 2003 für Nirgendwo in Afrika – dreht sich wieder um eine Familie. Corinna Harfouch spielt eine Mutter, die ihren Sohn durch Selbst­mord verloren hat, und mit diesem Tod nicht fertig wird. Bei einem Maler gibt sie ein Bild in Auftrag, das den Toten gemeinsam mit seiner Schwester (Karoline Herfurth) zeigen soll. Der Film kreist zu einem großen Teil um die Beziehung der jungen Frau zu dem Maler, der wie ein Psycho­ana­ly­tiker versteckte Wunden zutage fördert – ein Hauch von der »schönen Queru­lantin« in einem Film über Trau­er­ar­beit und »die heilsame Kraft von Kunst« (Link).
Den Maler spielt Josef Bier­bichler, der auch hier wieder einmal bestä­tigte, dass das deutsche Kino da, wo es am besten ist, immer noch in erster Linie ein Schau­spiel­er­kino ist, und weit mehr, als das in anderen Ländern der Fall ist, dem Theater verdankt. Bier­bichler war in gleich vier Filmen zu sehen, unter anderem einer Doku­men­ta­tion über Herbert Achtern­busch und einem witzigen Kurz­film­auf­tritt, in dem er fast sich selbst spielt: einen Schau­spieler, der eine Film­pre­miere heimlich verlassen will, weil er seinen Auftritt in der Haupt­rolle nicht erträgt.

+ + +

Stärker am Entfalten einer Situation inter­es­siert, als an dem, was in den Augen der finan­zie­renden TV-Redak­teure als »strin­gente Geschichte« gilt, ist seit jeher Michael Klier, auch einer der wenigen Inde­pendents und subver­siven Geister im deutschen Film: Alter und Schönheit heißt sein neuer Film. Im Zentrum steht mit Henry Hübchen, Burghart Klaussner, Armin Rohde und Peter Lohmeyer eine beein­dru­ckende Schau­spiel­er­riege. Sie spielen eine Gruppe von Freunden, die in die Jahre gekommen sind. Mit Jahrgang 49 sind sie so alt wie die Bundes­re­pu­blik und gehören genau der goldenen Genera­tion an, der es immer gut und für die es zumindest lange Jahre aufwärts ging. Klier zeigt sie aber als emotional geschei­tert. Als einer von ihnen, Lohmeyer, im Sterben liegt, werden die anderen auch mit der eigenen Vergäng­lich­keit konfron­tiert, zur Zwischen­bi­lanz gezwungen. Aber das Ende des einen könnte für die anderen immerhin zum neuen Anfang führen.
Fern von aller Melo­dra­matik regis­triert Klier wie ein Seis­mo­graph minimale Erschüt­te­rungen, zumal mit Sybille Canonica eine souverän Wider­spens­tige hinzu­kommt, die das Trio aufmischt. Oft und vor allem gegen Ende hat das eine unheim­liche Leich­tig­keit, nur manchmal nimmt schwere deutsche Tiefe überhand. Schön an diesem Film ist neben dem ausge­zeich­neten Klaussner und einem souver­änen Hübchen, dass dieser Film nicht auf die neue Modewelle der Grei­sen­komö­dien über »fröhliche Alte« aufspringt, sondern den Mut hat, sich auch der Tristesse des Alterns zu stellen, und nichts verklärt.

+ + +

Auf eine andere Weise vom Sterben handelt Andrea Thieles souverän insze­nierter Doku­men­tar­film Wanted, der mit der Suche nach einem Mörder beginnt, und dann vor allem das Talent der Regis­seurin belegt, aus dem Scheitern der Ausgangs­idee noch etwas Sehens­wertes zu machen.
Unter den Doku­men­ta­tionen stach Aysun Bademsoys Ich gehe jetzt rein heraus. 1995 hatte Bademsoy mit Mädchen am Ball als erste Regis­seurin einen Film über Frau­en­fuß­ball gemacht, über die erste türkische Mädchen­fuß­ball­mann­schaft Europas, die in Kreuzberg trai­nierte. 13 Jahre später suchte die Regis­seurin die Mädchen von damals wieder auf, und fragte, was aus ihnen geworden ist. Sie sind jetzt Ende 20, eine ist Trainerin, andere sind verhei­ratet oder schon geschieden. Eine präzise, aber auch berüh­rende Studie über Identität, Heimat und Ausgren­zung in unserer Gesell­schaft.
In dem phäno­me­nalen Das Verschwinden der Zeit (auf den wir noch einmal zurück­kommen werden) spürt die Regis­seurin Ina Bormann ihrer Jugend­zeit nach. Das ist vor allem in der Verwen­dung unter­schied­lichster Film­spra­chen und Techniken beein­dru­ckend, ebenso aber auch in der Scho­nungs­lo­sig­keit der Selbst­be­fra­gung und ihrem Humor.

+ + +

Ein wenig litt die dies­jäh­rige Hof-Auswahl unter der Überfülle deutscher Film­fes­ti­vals und dem derzei­tigen Fehlen neuer Produk­tionen: Alles Neue wartet auf die Berlinale. So waren viele Fern­seh­pro­duk­tionen im Programm, und neben zuviel TV-Drama­turgie kenn­zeich­nete auch eine gewisse Bilder­be­lie­big­keit und schwer­fäl­lige Dialoge viele Produk­tionen. Inhalt­liche Trends: Ein Rückzug ins Private, in kleine Fami­li­en­ge­schichten, und eine gewisse Vorliebe für Hand­lungen, die um Tod und Sterben kreisen. Wenige Komödien. Es kann nach dieser Woche keine Frage sein: Der deutsche Film braucht mehr »Torpedos«!