11.09.2020
77. Filmfestspiele von Venedig 2020

Keine Gewalt ist auch keine Lösung

Und morgen die ganze Welt
Immer wieder bleibt es nur beim Bebildern der Ereignisse...
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service)

Der Antifa bei der Arbeit zusehen: Julia von Heinz' Und morgen die ganze Welt im Wettbewerb von Venedig – Notizen aus Venedig, Folge 9

Von Rüdiger Suchsland

»Die Bundes­re­pu­blik Deutsch­land ist ein demo­kra­ti­scher und sozialer Bundes­staat. ... Gegen jeden, der es unter­nimmt, diese Ordnung zu besei­tigen, haben alle Deutschen das Recht zum Wider­stand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.«
Grund­ge­setz, Art 20

»Wer lange genug mit dem Rücken zur Wand steht, kann irgend­wann ohne Wand nicht mehr stehen. Das deutsche Kino stand lange Zeit mit dem Rücken zur Wand, hat sich vor dem Angriff der Gegenwart in die übrige Zeit geflüchtet und mit Vorliebe solche Geschichten erzählt, die sich schon vorab damit begnügten, ihre Existenz zu recht­fer­tigen. Die wenigsten Filme zeigten mehr als das, was sich für die Gremien schwarz auf weiß zu Papier bringen ließ. Daran hat sich zwar nichts geändert, aber manchmal gibt es doch etwas zu sehen, wovon das deutsche Kino bislang nicht zu träumen wagte. Es gibt Filme, die sich mehr für die Vergan­gen­heit ihrer Regis­seure als für die ihrer Förderer inter­es­sieren. Das spürt man sogar an den Stellen, wo das Interesse noch keine rechte Form findet.«
Michael Althen, SZ 30.10.1990

Es gibt eine offen­sicht­liche Vorliebe des Film­fes­ti­vals von Venedig für die deutsche Aris­to­kratie. Dies ist natürlich zuerst eine ironische Beob­ach­tung, die ich nicht zu ernst nehmen möchte. Aber sie hat die Fakten für sich. Allemal ist es schon lustig: Julia von Heinz, Florian Henckel von Donners­marck, und dann noch auf Empfeh­lung von Marga­rethe von Trotta.

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Und morgen die ganze Welt, mit dem von Heinz im dies­jäh­rigen Wett­be­werb um den Goldenen Löwen vertreten ist, ist schon mal eine Klasse besser als Werk ohne Autor. Inhalt­lich ist er inter­es­santer, zudem ist der Film an keiner Stelle jemals so geschmacklos wie dies Werk ohne Autor an vielen Stellen war. Er ist mit Anstand und Enga­ge­ment insze­niert, und Julia von Heinz will etwas über sich selbst, aber auch zur heutigen Gene­ra­tion der 20-Jährigen und Fridays-for-Future-Kids sagen und nicht zuletzt zu den poli­ti­schen Verhält­nissen in Deutsch­land und in Europa. Sie macht enga­giertes Kino.

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Wenn es irgendein Beispiel für das gibt im deutschen Kino, was früher einmal »mittlerer Realismus« genannt wurde, dann ist es dieser Film. Wie aus dem richtigen Leben gegriffen, hat sie in einem Interview gesagt. Viel­leicht ist es aber doch auch ein Film, der sogar direkt aus dem Leben von Julia von Heinz gegriffen ist.

Das erste Bild zeigt die Haupt­figur. Sie wirft ein Gewehr weg. Schon jetzt ist klar: diese Szene werden wir noch einmal sehen. Und wenn wir sie sehen, wissen wir, wie sie dorthin gekommen ist und wohin sie nun geht.

Luisa studiert Jura im ersten Semester. Eine höhere Tochter aus land-adeliger Familie. Es gibt viel Platz in dem großen alten Haus mit pracht­vollem Garten, am Wochen­ende geht man auf die Jagd, trägt ein schilf­lei­nenes Jankerl oder Barbour-Jacket und dazu Trach­tenhut, das Haus birgt einen Golf-Schrank, einen Waffen­schrank und viele alte Bücher.
Luisas Eltern sind freund­lich, nach­sichtig, tolerant, auch dann, als die Tochter in eine linke Kommune zieht: Antifa. Schließ­lich sind wir doch alle gegen Faschismus, nicht wahr? Und auch der altvä­ter­lich-gönner­hafte Spruch: »Wer mit 20 nicht Kommunist ist, hat kein Herz...« darf hier nicht fehlen. Ihr Milieu tut das alles lächelnd ab: »Freie Liebe und so und abends Grup­pen­dis­kus­sion.« Luisa selbst ist nicht zum Lächeln zumute.

Von den ersten Minuten des Films an ist Luisa einer­seits »die Neue« in der Antifa-Gruppe und im besetzten Haus, mit deren Augen man alles kennen­lernt; ande­rer­seits gehört sie hier irgendwie doch nie ganz dazu. Denn die Verhält­nisse, aus denen sie kommt, sind allzu gesichert – ihr zumindest kann nicht wirklich etwas passieren. Das merkt man, sobald es in diesem Film ans Einge­machte geht, sobald sich Luisa politisch radi­ka­li­siert.

Bei dieser ersten Demons­tra­tion, an der Luisa teilnimmt, kommt es gleich zu einem beson­deren Moment: Das Werfen von Farb­beu­teln und Torten eskaliert, als ein Neonazi an seinem kahlen Kopf getroffen wird. Er durch­bricht die Poli­zei­reihen und stürzt sich auf linke Demons­tranten, beginnt sie zusam­men­zu­schlagen, dann bemerkt Luisa, dass ihm sein Handy aus der Tasche gefallen ist. Sie greift es sich. Der Neonazi sieht das, rennt ihr hinterher, stürzt sich auf sie – und erst im letzten Moment, wenn er sich an ihr zu schaffen macht und sie entweder kran­ken­haus­reif schlägt oder sogar verge­wal­tigt, rettet sie ein anderer aus der Antifa-Gruppe. Es ist Alpha, der hübsche junge Mann, der ihr schon bei der ersten Begegnung bedeu­tungs­volle Blicke zuwarf.

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Am Anfang ist aber alles ganz harmlos. Im Jura-Seminar geht es um Artikel 20 des Grund­ge­setzes. Das darin fest­ge­schrie­bene Recht auf Wider­stand – »Gegen jeden, der es unter­nimmt, diese Ordnung zu besei­tigen« – gehört zum Jura-Stan­dard­wissen; den Zuschauern wird es gleich dreimal sehr deutlich gesagt. Und dies ist ein wichtiger Punkt: Denn heute berufen sich Neonazis und Rechts­extre­misten auf jenes Wider­stands­recht – gegen die demo­kra­ti­sche Ordnung.

Überhaupt sind die Anspie­lungen auf die aktuelle Wirk­lich­keit in diesem Film mit Händen zu greifen. Und morgen die ganze Welt ist enga­giertes, poli­ti­sches Kino, das einer­seits versucht, die gängige Mora­li­sie­rung des Poli­ti­schen möglichst zu vermeiden, ande­rer­seits vor direkten Verweisen auf aktuelle Gescheh­nisse und Akteure nicht zurück­schreckt, auch wenn diese bestimmt nicht allen gefallen werden: So sieht man, wie Luisas Gruppe gegen eine poli­ti­sche Kund­ge­bung demons­triert. Deren Plakate und Polit-Design ist absolut unver­kennbar in Anspie­lung auf die AfD gestaltet. Sogar das Aussehen der Rednerin ist dem öffent­li­chen Aussehen einer Alice Weidel zum Verwech­seln ähnlich.

Nicht weniger klar streitet dieser Film auch gegen die verlogene, abwie­gelnde Formu­lie­rung vom Rechts­po­pu­lismus, und zeigt bewusst unmiss­ver­s­tänd­lich, dass es sich um Extre­misten handelt, und dass die Übergänge vom parla­men­ta­ri­schen Rechts­extre­misten zur gewalt­be­reiten und gewalt­tä­tigen Neo-Nazi-Szene in Praxis fließend sind.

Die Zuschauer werden Zeugen dieser Vernet­zung, weil sie hier gewis­ser­maßen der Antifa bei der Arbeit zusehen. Weil der Film zeigt, was weniger bekannt ist: Was diese geschlos­senen Gesell­schaften der radikalen Linken eigent­lich den ganzen Tag machen: Es beschränkt sich nämlich nicht auf Musik hören, gemeinsam abhängen, Fitness-Training für die nächste Demo, Plakate malen, Contai­nern, und Klamotten für Flücht­linge sammeln. Oft genug über­nehmen die Antifa-Mitglieder jene tagtäg­liche Arbeit, die man sich von den Behörden erwarten würde: Dichte Beob­ach­tung der Neonazi-Szene, Beob­ach­tung jener vielen Übergänge zwischen offenem Faschismus und gewalt­tä­tigem Spießertum, die Erkundung jener Garagen, in denen Mitglie­der­listen der Orga­ni­sa­tion lagern, aber auch all der Keller, in denen schon Spreng­stoff und die Munition für den nächsten Terror­an­schlag bereit­ge­halten werden.

Nachdem die erste Hälfte des Films ein Panorama des Antifa-Alltags ausbreitet, spitzt die Regis­seurin die Erzählung in der zweiten Hälfte auf die Entde­ckung einer solchen Garage zu. Damit wird aus der Coming-of-Age-Milieu­studie eine Polit-Thriller-Handlung, deren Grun­die­rung die entschei­dende Frage bildet: Wann ist gegen Gewalt auch Gegen­ge­walt erlaubt, wo greift das Wider­stands­recht des normalen Bürgers?

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Die Stärken von Julia von Heinz' Film liegen in dieser Geschichte, und in einer Menge spre­chender Details, sie liegen darin, mit der Stadt Mannheim einen facet­ten­rei­chen, hoch­in­ter­es­santen Schau­platz gewählt zu haben, der vom deutschen Kino bislang fast komplett übersehen wurde.
Sie liegen auch in einer Schau­spieler-Riege mit vielen unbe­kannten Gesich­tern, die durchweg sehr gut spielen. Neben der Haupt­dar­stel­lerin Mala Emde als Luisa sind hier Noah Saavedra und Tonio Schneider hervor­zu­heben. Außerdem der Öster­rei­cher Andreas Lust, der einen desil­lu­sio­nierten Veteranen der Antifa spielt.

Defizite gibt es aller­dings im Ästhe­ti­schen: Nicht so sehr in der Insze­nie­rung des Einzelnen, als im grund­sätz­li­chen Fehlen einer durch­gän­gigen Film­sprache und einer erkenn­baren Regie-Haltung. Immer wieder bleibt es beim Bebildern der Ereig­nisse, und es gibt eher wenige Momente, in denen alles über nackten Realismus hinaus­reicht.

Was hat dieser Film eigent­lich für eine Film­sprache? Hat er überhaupt eine? Oder ist dies letzt­end­lich ein Bebildern der Ereig­nisse. Tatsäch­lich gibt es ziemlich wenige Momente, in denen der Film »bigger than life« wird. Ande­rer­seits ist dies auch nicht der gestal­tete Realismus eines Ken Loach. Ganz klar ist, dass der Film formal gewisse Defizite aufweist. Mindes­tens ist er sehr unent­schieden.

In manchen Momenten hat dieser Film die Quali­täten der besseren Werke von Fatih Akin: In der unmit­tel­baren Sinn­lich­keit, der Bereit­schaft, direkt in Emotionen hinein­zu­gehen, Blut, Schweiß, Tränen und andere Körper­flüs­sig­keiten nicht auszu­sparen, sondern zu zeigen. In der Fähigkeit, nicht zu glätten, sondern »gritty« zu sein. Auf eine gewisse Weise ist dieser Film ein Kino, das man, wenn man es nicht besser wüsste, als »Macho« skiz­zieren würde – was nebenbei gesagt nur die Grenzen solcher Charak­te­ris­tika aufzeigt.
Zugleich läuft der Film manchmal auch Gefahr, in ähnliche Fallen zu tappen: Dass nämlich die Emotion schon für die Sache selbst genommen wird, dass es in erster Linie um ein Ausstellen von Leiden­schaft und Passion geht, es aber manchmal unklar werden kann, wofür ein Aktio­nismus agiert. Ein Pathos der Tat ist nicht etwas, was man der Antifa vorwerfen muss – der Regis­seurin könnte man es an einigen Stellen vorhalten.
Zudem nehmen am Ende nicht nur die Wider­sprüche der Figuren und ihrer Situation zu, sondern auch die des Films. Man glaubt zu spüren, dass die Regis­seurin so hin und herge­rissen war, wie ihre Haupt­figur, man glaubt zu erkennen, dass ein anderes Ende möglich gewesen wäre: Viel­leicht weniger unent­schieden, viel­leicht mit dem Mut, mit den mora­li­schen Konven­tionen des deutschen Films und der ihn stüt­zenden Fernseh-Redak­tionen zu brechen.

Ausge­gli­chen wird die Unent­schie­den­heit, die diesen Film durch­zieht, nicht allein durch die hoch­sym­pa­thi­sche Haltung, sondern vor allem durch den Mut der Regis­seurin, inhalt­lich, moralisch wie politisch dahin zu gehen, wo es weh tut: zu den Debatten um Gewalt und der Frage, wann diese gerecht­fer­tigt sein könnte.

Zwar zeigt der Film eine Haupt­figur, die der Gewalt – so scheint es am Ende – abschwört. Aber einiges macht dieser Film ange­sichts der alltäg­li­chen Gewalt der Rechts­extre­misten sehr klar: Keine Gewalt ist auch keine Lösung.

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Es ist halt gerade die Botschaft des Films, der offen lässt, für welche Seite Luisa sich entscheidet. Ich mag es nicht, auf einer billigen Eiapo­pei­alö­sung zu landen, à la: Oh ja, wir sind Deutsche, also immer gegen Gewalt, selbst wenn Nazis uns verdre­schen.

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Die Neonazis sind im Film alle dumm, und haben gar kein Profil. Primitive Schläger mit Glatzen.

In Venedig hörte ich am Neben­tisch einen Satz, der mir auch schon selber einge­fallen war: »Ein bisschen ist der Film wie 'Die fetten Jahre sind vorbei'.« Ich glaube das nicht. Denn jener war viel mehr an den Haaren herbei­ge­zogen, viel weniger aus dem Leben gegriffen. Und hatte Zuschau­er­zahlen, von denen man 16 Jahre später nur träumen kann.

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Partys gibt es in Venedig ja keine – wg. Corona. Aber immerhin gesetztes Abend­essen, mit einer sehr begrenzten Anzahl von Gästen. Ich war nicht einge­laden. Ist auch in Ordnung, denn ich gucke ja auch Filme, schreibe, bezahle mein Essen gern selbst – und ein bisschen Distanz zwischen Filme­ma­chern und Kritik schadet nicht.
Außerdem hat die »Bunte« das Essen co-gesponsort – so viel Antifa ist dann wieder auch nicht.

(to be continued)