27.09.2020
68. Festival de Cine de San Sebastián 2020

Der Anfang vom Ende

Beginning
Beginning: einer der prägnantesten Filme in einem der stärksten Wettbewerbe der letzten Jahre
(Foto: Press Service SSIFF 2020)

Ein georgisches Debüt gewinnt vier Preise an der Concha – Notizen aus San Sebastián, Folge 7

Von Rüdiger Suchsland

Ein seltener Triumph auf allen Ebenen: Das geor­gi­sche Spiel­film­debüt Beginning von der 1986 geborenen Regis­seurin Dea Kulum­be­gash­vili gewann zum Abschluss des Film­fes­ti­vals von San Sebastián gleich vier Preise: Bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch und den Preis für die beste Haupt­dar­stel­lerin für Ia Sulk­hi­tash­vili. Immerhin einen Schau­spiel­preis ließ die Jury dem vier­köp­figen dänischen Darstel­ler­en­semble von Thomas Vinter­bergs Männer­komödie Druk rund um Weltstar Mats Mikkelsen.

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Warum gleich vier Preise? Dieser Preis­regen ist mindes­tens in seiner Fülle überaus unge­wöhn­lich, im konkreten Fall mehr als über­ra­schend und sorgte nach seiner Bekannt­gabe am Sams­tag­abend keines­wegs für unge­teilten Beifall: Dies nicht allein, weil Beginning nicht gerade sehr publi­kums­affin ist, und dieser Film nicht wenige auch profes­sio­nelle Betrachter ratlos zurück­ließ, manche richtig erschreckte. Derglei­chen Erschüt­te­rung kann auch ein heilsamer Schock sein.
Zwar gibt es auch kunst­af­fine, keines­wegs main­stream-hörige Festi­val­gäste, von denen ich zu diesem Film die Begriffe »schlimm« und »reak­ti­onär« hörte. »Reak­ti­onär« ist in diesem Zusam­men­hang ein inter­es­santer Kommentar. Das hätte ich nicht so formu­liert, aber man kann es so finden, und ich finde es nach­den­kens­wert. »Schlimm« ist Beginning auch nicht, aber sehr anstren­gend und eine bestimmte Art von Kino, die relativ arrogant jede andere Form ausschließt.

Immerhin ist der Film über die Tage stark geblieben, trotz aller Einwände. Beginning spielt auf dem geor­gi­schen Land und erzählt von Yana, der Frau eines Priesters der Zeugen Jehovas, die von der Bevöl­ke­rung atta­ckiert wird. Zunehmend gerät die Welt der Frau aus den Fugen. Szenen von brutaler Härte wechseln sich mit Momenten poeti­scher Heiter­keit ab – am Ende kommt es zu einer Höllen­fahrt.
So ist dies eine Studie über das Leben einer Frau, über Religion und über sinnlose Gewalt. Gehalten in einem Stil der genau­esten Kontrolle, gemischt mit Manie­rismen – wie der compu­ter­ge­nerierten Auflösung eines Menschen im Sand – ist dies ein so beein­dru­ckend insze­nierter wie eiskalter Film, Kino der Grau­sam­keit.

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Was den Film (über den ich noch ausführ­li­cher schreiben will, bisher nur im Podcast gespro­chen habe) viel­leicht gut charak­te­ri­siert, ist, dass ich erst einen Tag nach dem ich ihn gesehen hatte durch den Freund und Kollegen Frederic Jaeger erfahren habe, dass der Regisseur, den ich für einen älteren Mann und typischen Groß­bürger gehalten habe, tatsäch­lich eine mitt­dreißig­jäh­rige Frau ist. Und wenn man sich die hammer­harte Verge­wal­ti­gungs­szene anschaut, auch wie sie gedreht ist, und so ein paar andere Dinge, dann kann man sich nicht vorstellen, dass es eine Frau gemacht hätte. Ich freue mich auch schon auf die entspre­chenden Diskus­sionen, bei denen es etwas schwerer fallen wird, mit dem Allge­mein­platz »Frau­en­feind­lich­keit« zu operieren und innig zu fragen: Muss man sowas zeigen?
Aber das wiederum ist ja inter­es­sant. Inter­es­sant, aber auch schräg.
Und es wirft mal wieder die Frage auf: Ist es eigent­lich besser, wenn man vorher in den Katalog guckt? Und dann erfährt, dass die Regis­seurin eine Frau ist? Ich glaube ja nicht.

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Beginning ist ein voll­kommen legitimer Sieger. Ich mag den Film nicht, ich finde ihn menschen­ver­ach­tend und grausam, und finde ihn auch eitel, aber er ist technisch gesehen sehr gut gemacht und auch in seiner Konse­quenz beein­dru­ckend. Jeder, der den Stil von Carlos Reygadas für den best­mög­li­chen Stil des Kinos und der Filmkunst hält, wird mit diesem Preis glücklich sein.
Beginning verkör­pert zumindest eine Möglich­keit des Kinos. Was an diesem vier­fa­chen Preis schlecht ist, ist, dass der Film selbst ausstrahlt, dass er alle anderen möglichen Weisen des Kinos verachtet, und dass die Jury-Entschei­dung dies nun repro­du­ziert und ebenfalls eine Verach­tung für alle anderen möglichen Kinostile ausdrückt. Sie belegt das fehlende Vermögen der Jury, zu unter­scheiden.

Dem Film gleich vier Preise zu geben, und damit alle anderen Filme wegzu­lassen, ist für mich ein arro­gantes Statement, Wich­tig­tuerei der Jury. Vier Preise sind ein Statement. Für die Eitelkeit der Jury. Man möchte sich selbst in irgend­einer Weise produ­zieren und ganz offen die Menschen erziehen. Denn auch wenn Beginning nur die Goldene Muschel bekommen hätte, wäre klar gewesen, dass die Jury findet, dass dies der beste Film des Wett­be­werbs war; dazu viel­leicht noch ein Preis für die Schau­spie­lerin – und es wäre klar gewesen: Sie finden diesen Film heraus­ra­gend.

Hier hat man nun den Eindruck, dass vor allem zwei eitle Machos entschieden haben, der Welt mal richtig zu erklären, was Sache ist. Und dass sie auch entscheiden wollten, dass ein Cannes-Zögling den Preis bekommen würde. Finden die Jury­mit­glieder, dass dieser Film eigent­lich die Goldene Palme hätte gewinnen müssen?

In alldem liegt auch ein unan­ge­mes­sener Affront gegen den übrigen Wett­be­werb – so als hätten alle anderen Filme gar keinen Preis verdient.

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Diese arrogante, auch ein bisschen ignorante Entschei­dung zeigt einmal mehr, dass die Film­fes­ti­vals in der Gegenwart und insgesamt die ganze Filmszene ein Problem hat, das immer größer wird. Wir sollten nicht übersehen, dass auch Luca Guad­a­gnino ganz andere Filme macht, als das, was er hier ausge­zeichnet hat, und dass sein neuestes Werk eine Serie ist. Eine Serie, die weitaus harmloser, weitaus publi­kums­freund­li­cher ist, als das, was hier prämiert wurde.

Das Problem ist die sich verfes­ti­gende Spaltung der Szene zwischen Kunst und Unter­hal­tung, zwischen Zugäng­li­chem und Unzu­gäng­li­chem, zwischen Heraus­for­de­rung und Entspan­nung. Diese Kluft wird immer größer. Es hat sie immer gegeben, aber wir brauchen Filme, die beides verbinden.

Diese Filme fehlen, und auch auf Festivals findet man sie immer weniger.

Ohne sie aber wird das Kino sterben, und zwar schneller als man denkt, denn genau die Verbin­dung von Tiefe und Unter­hal­tung findet sich zunehmend – leider begleitet von großen anderen ästhe­ti­schen Schwächen – im Streaming-Angebot des neuen Fern­se­hens.

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So oder so lässt sich aber nicht bestreiten: Beginning war einer der prägnan­testen Filme in einem der stärksten Wett­be­werbe der letzten Jahre, der bekannte Filme­ma­cher mit neuen Namen der Filmwelt verband.

(to be continued)