28.05.2020
Cinema Moralia – Folge 218

Die Norma­lität der neuen Absur­dität

Wolfram Siebeck
Ohne Mundschutz im Restaurant, mit Mundschutz im Kinosaal. Wir empfehlen: Stay at home & listen to Wolfram Siebeck
(Foto: Deutschlandfunk)

Einmal Corona mit Eiskonfekt, bitte: Der Kaltstart der Kinos und ein Vorbild für Filmkritiker – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 218. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Das hab ich mir irgendwie schöner gedacht
Ich glaub ich hab irgend 'nen Fehler gemacht
Ich hatte doch höhere Ziele/ Wollt Roederer trinken, Vermögen verdienen über Nacht
Statt­dessen sitz' ich hier den ganzen Tag
Trink zu viel Kaffee, den ich nicht vertrag
Kopiere Papiere, die ich eh nicht kapiere
Und später sortiere ich sie in ein Fach
Doch wo ist der Sinn, da wollt' ich nie hin
Was bitte glauben die bloß wer ich bin?«
Es könnt' alles so einfach sein, isses aber nicht
Es könnt' alles so einfach sein, isses aber nicht.
Die Fantas­ti­schen Vier

»ZEIT­ma­gazin: Herr Siebeck, wie kamen Sie eigent­lich zur ZEIT?«

Siebeck: Zunächst über meine Film­kri­tiken, die habe ich auch in der ZEIT veröf­fent­licht. Und irgend­wann habe ich eine Kolumne auf dieser Humor­seite gekriegt, habe häufig Parodien auf Märchen geschrieben. Das war immer ganz einfach. Ich habe mich ja nie abge­stram­pelt oder anti­cham­briert…

Jetzt ist genau das passiert was alle befürchtet haben: In jedem Bundes­land öffnen zu einem anderen Zeitpunkt die Kinos. Es sind geradezu absurde Verhält­nisse: In Meck­len­burg-Vorpom­mern am Montag, in Rheinland-Pfalz am Mittwoch, in Nordrhein-Westfalen am kommenden Samstag. Geöffnet haben sie schon in Hessen, in Sachsen und in Sachsen-Anhalt, sie werden noch öffnen in Bayern, am 15.6., Berlin bereits am 6.6., heißen die Gerüchte. Öffnungs­mel­dungen von Baden-Würt­tem­berg, wo das Sozi­al­mi­nis­te­rium zuständig ist, wurden demen­tiert. Rest der Republik: unbekannt.
Aber wer ist »sie«? Sie, das sind längst nicht alle Kinos, sondern nur einige, und was zeigen diese Kinos? Keines­wegs neue Filme, zumindest nicht in den ersten Wochen. Denn solche neuen Filme gibt es kaum. Einzelne sehr gute Werke werden in den nächsten Wochen ins Kino kommen, und viel­leicht haben sie sogar Glück und bekommen mehr Aufmerk­sam­keit, als unter normalen Umständen. Zum Beispiel der kolum­bia­ni­sche Film Monos, der schon ein Hit bei der Berlinale vor einem Jahr war und der in der kommenden Woche von dem Verleiher DCM gestartet wird. Aber die aller­meisten inter­na­tio­nalen Filme werden in den nächsten Wochen nicht laufen. Gezeigt werden fast nur Filme, die bereits vor Corona gezeigt wurden.

Macht ja auch Sinn. Denn Hollywood und andere US-ameri­ka­ni­sche Filme werden frühes­tens im Spät­sommer, eher im Herbst anlaufen. September plusminus.
Der Grund dafür ist ganz einfach: In China könnten diese Filme schon jetzt laufen, in Europa viel­leicht auch, aber in den USA herrschen nach wie vor strenge Ausgangs­sperren (nur Georgia und Texas haben die Kinos wieder geöffnet). Und ein Ende von Corona ist nicht absehbar.
Da aber Filme wie der neue James Bond, wie Wonder Woman 1984 oder wie Tenet, der neue Chris­to­pher-Nolan-Film – der wohl der meis­ter­war­tete des dies­jäh­rigen Film­jahres ist – weil diese Filme einen welt­weiten Start brauchen, schon damit sich die Piraterie in Grenzen hält, wird sich alles nach dem Lang­samsten und Aller­letzten richten – das heißt nach dem US-ameri­ka­ni­schen Markt oder viel­leicht sogar nach Latein­ame­rika.

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Viel­leicht ist das auch gar nicht so schlecht. Denn in die Kinos können unter den derzei­tigen Umständen maximal 25 bis 30% der üblichen Zuschauer gehen; man könnte unter solchen Bedin­gungen gar keine neuen Filme starten. Wenn man nämlich Massen­an­samm­lungen im Kino vermeidet, hätte man doch bei neuen Filmen die Schlangen ohne Abstand eben draußen. Plötzlich würde das Wort vom »Block­buster« wieder seinem ursprüng­li­chen Begriff alle Ehre machen: Plötzlich würden sich Schlangen von Zuschauern um einen ganzen Straßen­block um die Kinos herum winden.

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Den Kino­be­trei­bern geht also »der Arsch auf Grundeis«. Gleich­zeitig geht es ihnen besser als den Verlei­hern. Beide Gruppen wurden vom Kaltstart der Kinos kalt erwischt. Aber die Kinos bekommen von den Förderern Hilfen, die Verleiher einst­weilen nicht.

Kinos können öffnen. Mit Abstand, mit und ohne Mund­schutz, mit und ohne Popcorn. Aber die konkreten Regeln sind kaum prak­ti­kabel, sie gleichen einer Perfor­mance des absurden Theaters.

Die Kinos bitten ihre Kunden darum, die Karten online zu kaufen. In den Kinos selbst soll es möglichst wenige Inter­ak­tionen geben. Cinemaxx-Geschäfts­führer Frank Thomsen erklärt: »Beim Einlass erfolgt eine kontakt­lose Ticket­prü­fung. An allen Kassen – Kinokasse und Gastro­no­mie­theken – kann mit Karte oder kontaktlos gezahlt werden.« Paare und Freunde dürfen bei gemein­samer Buchung zwar neben­ein­an­der­sitzen, aller­dings müssen dann nach derzei­tigen Regeln 1,5 Meter Abstand zu den nächsten Besuchern einge­halten werden. Das bedeutet, dass mehrere Plätze neben, vor und hinter einem frei bleiben und nicht von anderen Gästen belegt werden dürfen. Sitz­plätze sind fest zuge­wiesen.

Nach Angaben von Christine Berg vom Vorstand HDF Kino könnten Karten­sys­teme mögli­cher­weise auch so verändert werden, dass das System bei einer Buchung auto­ma­tisch die umlie­genden Plätze blockt.

Die Kinos hoffen aller­dings, dass sich diese Abstands­re­geln noch einmal verändern werden. Denn wenn es bei 1,5 Metern Abstand bleibt, kann ein Saal nach Angaben der Verbände HDF Kino und AG Kino maximal zu 20 oder 25 Prozent ausge­lastet werden. Die Mehrzahl der Plätze bleibt leer: »Wenn zwei Plätze belegt sind, müssen 12 frei bleiben«, sagt Berg. Laut Christian Bräuer von der AG Kino wäre schon ein Meter Abstand – wie in Öster­reich – eine Verbes­se­rung, weil dann immerhin jede Reihe besetzt werden könnte. »Dann wäre ein Schach­brett­system denkbar, bei dem zwar jede Reihe, die Plätze aber versetzt und nicht direkt hinter­ein­ander belegt werden.«

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In der Praxis wird das nicht funk­tio­nieren. Denn Kino ist das Gegenteil aller Abstands­re­ge­lungen. So wie die Filme anste­ckend sein müssen, so sollte auch die Kino­si­tua­tion selbst den Zuschauer infi­zieren.

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Es könnte alles ganz anders sein. Das zeigt die »Konzept­vor­lage der Gemein­schaft der Kinos von München und Umgebung« zu einer »plan­vollen Wiede­r­eröff­nung der Arthouse- und inha­ber­ge­führten Kinos in Bayern«

Sie reagiert auch auf die jüngste Ankün­di­gung, den Spiel­be­trieb der baye­ri­schen Kinos bereits ab dem 15. Juni wieder zuzu­lassen. Wie bereits im Offenen Brief der Münchner Kinos und von den großen Kino­ver­bänden HDF und AG Kino dargelegt, wird dieser frühe Termin von den Kino­be­trei­bern gar nicht begrüßt, da für eine planvolle Wiede­r­eröff­nung mehr Zeit benötigt wird. Es haben bereits Kino­be­treiber angekün­digt, dass für sie der frühe Öffnungs­termin nicht in Frage kommt.
Es wurde daher ein Zwei­stu­fen­mo­dell erar­beitet, der einen erwei­terten Spiel­be­trieb ab dem 2. Juli vorsieht.

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Es könnte alles ganz anders sein. Die SPIO (»Spit­zen­or­ga­ni­sa­tion der Film­wirt­schaft«) hat ausge­rechnet, dass eine Kino­film­pro­duk­tion trotz hoher Inves­ti­tionen im Bran­chen­ver­gleich ein besonders starker Umsatz­mul­ti­pli­kator ist. Für Kino­film­pro­duk­tionen sei dieser Effekt mit 2,4 höher als beispiels­weise der Effekt der Pharma- oder Chemie­branche. Eine »besonders effektive Kaskade an Folge­inves­ti­tionen« werde ausgelöst, die auch andere Branchen schnell in Schwung bringe. »Dieses Potenzial sollte bei der angekün­digten Inves­ti­ti­ons­of­fen­sive von Bund und Ländern genutzt werden.«

Die SPIO hat Vorschläge für die Anlauf­phase vorgelegt.

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Eine Reise in eine verlorene Zeit ist derzeit gerade beim Deutsch­land­funk zu hören. In der »Langen Nacht zu Wolfram Siebeck« kann man dem Leben von diesem berühm­testen Essens- und Gastro­kri­tiker der Deutschen nach dem Krieg folgen. Wolfram Siebeck (1928-2016) reprä­sen­tiert in seiner Lust am Exzes­siven nicht nur das Gegenteil der Coro­na­wo­chen und unseres eher aske­ti­schen Zeital­ters; von ihm können wir alle eine Menge lernen: Dass Essen nicht zum Satt­ma­chen da ist, was Stil bedeutet, wie man gut schreibt, und warum Frank­reich am Ende nicht nur im Hinblick aufs Kino das liebens­wer­teste Land der Welt ist. Seinen Werdegang als Autor hatte Siebeck als Film­kri­tiker begonnen – keine schlechte Voraus­set­zung. Dann kam er zu »Twen«, der vermut­lich stil­prä­gendsten (Design: Willy Fleckhaus), allemal aber lässigsten Zeit­schrift der alten Bundes­re­pu­blik, die natürlich in München gemacht wurde. Es spricht nicht gegen Siebeck, dass er 1969 auch noch Will McBride, dem ameri­ka­ni­schen Haus­pho­to­gra­phen von »Twen«, die Frau ausspannte – mit Barbara McBride blieb er bis zu seinem Tod verhei­ratet.
Über Jahre hat Siebeck seine Eindrücke von Restau­rants auf Tonkas­setten gespro­chen. Auf der Basis dieser Bänder entstanden dann Siebecks Texte. Und nun auch diese Radio­sen­dung – in der es auch um die Ess-(Un-)Kultur­ge­schichte der Deutschen geht.

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Das ZEIT­ma­gazin hat zu Siebecks 80 Geburtstag mit ihm ein Interview geführt, aus dem wir umfang­reich zitieren möchten.
Denn nicht nur Menschen, die sich für Essen und Kultur inter­es­sieren, auch Filme­ma­cher und nicht zuletzt Film­kri­tiker können viel aus Siebecks Heran­ge­hens­weise und seiner Haltung lernen.

ZEIT­ma­gazin: Und dann hat Sie Jochen Steinmayr, der damalige ZEIT­ma­gazin-Chef, mit einer Kolumne ausge­stattet?

Siebeck: Ja, und der war sehr großzügig, was die Spesen betraf! Ich durfte gleich nach Moskau und über­allhin. Da waren die Zeitungen noch nicht so geizig wie heute.
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ZEIT­ma­gazin: Herr Siebeck, wenn Sie zurück­bli­cken auf Ihre Karriere als Restau­rant­kri­tiker – gibt es Artikel oder Urteile, die Sie bereuen?

Siebeck: Nein, überhaupt nicht. Das liegt natürlich auch daran, dass ich gar nicht weiß, was ich alles geschrieben habe. Ich mache diesen Job ja regel­mäßig seit 1970, das sind…

ZEIT­ma­gazin: …fast vierzig Jahre.

Siebeck: Was man da so zusam­men­schreibt, das kann man nicht behalten. Und ich bin auch niemand, der seine Artikel archi­viert.

ZEIT­ma­gazin: Sie erinnern sich an kein einziges Fehl­ur­teil?

Siebeck: Ja, Gott, irgendwo werde ich schon mal ungerecht gewesen sein. Viel­leicht aber nicht immer da, wo sich die Köche beschwert haben.

ZEIT­ma­gazin: Schätzen Sie sich eigent­lich eher als strenger oder als milder Kritiker ein?

Siebeck: Als milde kann man sich doch gar nicht einschätzen. Dann macht man sich gemein mit diesen ganzen affir­ma­tiven Schrei­bern. Sie glauben nicht, wie viele Bestechungs­ver­suche es gibt.
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Ich bin elitär! Manche sagen ja auch, ich sei arrogant. Ich bin arrogant!

ZEIT­ma­gazin: Können Sie denn nach­voll­ziehen, dass Leute sagen: Der Siebeck, der kann sich gar nicht mehr vorstellen, wie normale Leute essen, der sitzt immer nur in Sterne-Restau­rants…

Siebeck: …Hartz IV.

ZEIT­ma­gazin: Bitte?

Siebeck: Das ist wieder der Hartz-IV-Vorwurf. Ich schreibe doch nicht für diese Leute. Für die bin ich ein Unfall. Wenn ich die Sport­seite aufschlage, verstehe ich auch nichts.

ZEIT­ma­gazin: Wir meinten eher Menschen, die gerne essen gehen, aber nicht ausschließ­lich Sterne-Restau­rants besuchen. Wenn man über eine so lange Zeit ein erst­klas­siges Leben führt wie Sie, droht man dann nicht betriebs­blind zu werden?

Siebeck: Ja.

ZEIT­ma­gazin: Und wie beugt man dem vor?

Siebeck: Gar nicht. Ich bin doch nicht verrückt, wieso sollte ich dagegen ankämpfen?

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ZEIT­ma­gazin: Ihre Frau Barbara hat Sie ja all die Jahre begleitet bei Ihren Restau­rant­be­su­chen. Inwiefern hat sie Einfluss auf Ihr Urteil?

Siebeck: Sie hat einen riesigen Einfluss. Schon deshalb, weil ich immer viel mehr trinke als sie und mich auch aus diesem Grund darauf verlassen muss, dass auch sie was vom Essen mitbe­kommt.

ZEIT­ma­gazin: Sie sagt Ihnen dann am nächsten Tag: »Na, die Vorspeise ist nicht so gut gewesen«?

Siebeck: Nein, nein, über das Essen reden wir schon im Auto auf dem Heimweg. Meistens schreibe ich gleich nachts. Am nächsten Tag habe ich oft vieles schon vergessen. Eigent­lich ist das ja nicht so gut. Eigent­lich dürfte ich ja nicht so viel trinken. Um richtig objektiv zu sein.

ZEIT­ma­gazin: Aber Sie haben irgend­wann beschlossen: Jetzt ist es auch zu spät.

Siebeck: Nein, ich habe beschlossen, dieser Scheiß­beruf muss mir Spaß machen. Und ich trinke nun mal sehr gerne Wein.

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ZEIT­ma­gazin: Sie sind beinahe vierzig Jahre mit Ihrer Frau zusammen. Bitte verraten Sie uns: Was ist das Geheimnis Ihrer Beziehung?

Siebeck: Getrennte Schlaf­zimmer, das muss sein. Auch weil ich schnarche. Hier in diesem kleinen Anwesen gibt es auch zwei abge­trennte Wohn­be­reiche, auch in Hotels buchen wir oft zwei Einzel­zimmer. Es geht in Bezie­hungen immer auch um die innere Freiheit.

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ZEIT­ma­gazin: Was würden Sie sich wünschen, das man später einmal über Sie sagen soll?

Siebeck: Viel­leicht: »Er war ein unbarm­her­ziger Nörgler!« Ich nörgel ja nicht nur am Essen herum. Nicht dass Sie mich falsch verstehen: Ich meine nörgeln, nicht jammern. Jammern ist wehleidig, im Nörgeln liegt eine kritische Aggres­si­vität drin. Wenn man nicht kritisch lebt, lässt man sich den größten Mist aufschwätzen, von der Politik ange­fangen bis zu den Brat­kar­tof­feln.

(to be continued)