21.05.2020
Cinema Moralia – Folge 217

Eleganz und Barbarei

Franju
Michel Piccoli, »totalement, tendrement, tragiquement«
(Foto: Michel Piccoli / Les Choses de la vie / Unifrance)

Gewalt unter dem Smoking, alte weiße Herren und 5G in jeder Kokusnuss – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 217. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Jeden Abend ein bisschen Nichts ist eine ausge­zeich­nete Medizin.«
Michel Piccoli (1925-2020)

Der schönste aller Filme von Michel Piccoli? Dann wohl doch Claude Sautets Die Dinge des Lebens. Auch wegen Piccoli. Noch mehr wegen Romy Schneider. Vor allem aber wegen Claude Sautet selbst, seiner unver­gess­li­chen Hand­schrift, seines unnach­ahm­li­chen Tons. Also viel­leicht doch eher Die Verach­tung von Godard. Aber jeder Godard-Film ist ein Godard-Film, dieser erst recht, denn es ist ein Schlüs­sel­film über das Autoren­kino an sich. Und muss es hier wirklich Piccoli sein? Nein, so wenig wie Bardot, wie Palance. Fritz Lang muss es sein. Curzio Mala­partes Villa auf Capri muss es sein. Ansonsten?
Aber welcher Film dann? Milou en mai, Eine Komödie im Mai von Louis Malle war ein Film, den ich seiner­zeit zweimal im Kino sah, und einer der Filme, die mir als erstes einfielen, als ich am Montag die Nachricht von Piccolis Tod hörte. Da war Piccoli schon alt, sah älter aus, als er war, wirkte grei­sen­hafter als er war, und doch ist er es, an den man sich erinnert. Viel­leicht noch ein bisschen Miou-Miou, ein bisschen ‘68, das Staunen über diesen Ausnah­me­zu­stand, der möglich war. Der Rest? Vergessen.

Der Film, der von Piccoli zumindest für mich mehr als jeder andere bleibt, ist mögli­cher­weise gar nicht mal ein guter Film. Sein Regisseur ist vergessen. Und Piccoli spricht kein einziges Wort in ihm. Er ist wohl am ehesten »ein Produkt seiner Zeit«. Und doch... Und doch kann man ihn sich gar nicht anders vorstellen, als mit diesem Mann im Zentrum: Themroc von Claude Faraldo aus dem Jahr 1971 habe ich irgend­wann in den frühen 90er Jahren gesehen, da war das auch schon 20 Jahre her, und »innerlich«, »geistig« unvor­stellbar weit entfernt, noch nicht zu histo­ri­schem Material geronnen wie heute. Piccoli spielt einen Mann, einen Ange­stellten, dem es irgend­wann reicht. Der angekotzt ist von sich selber, von allem bürger­li­chen Gehabe. Und der auf seine Art, mitten in Paris, zum Hippie wird. Was macht er?
Er mauert die Tür zu seiner Wohnung von innen zu. Und mit einem riesigen Hammer haut er die Wand seines Appar­te­ments zur Straße hin auf. Gespro­chen wurde vorher nicht, nun aber grunzt, stöhnt krakeelt auch Piccoli wie im Affenhaus, oder einer Schau­spieler-Übung. Seine Figur wäscht sich nicht mehr, rasiert sich nicht mehr, wirft alle Möbel auf die Straße. Zu essen gibt es Poli­zisten am Spieß. Trieb und Anarchie. Ein Traum von Flower-Power – und ein Film, der so anstren­gend ist, wie absolut unver­gess­lich.

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In »Themroc«, glaube ich, wird die oft gut gehütete barba­ri­sche Seite des Michel Piccoli nach außen gestülpt. Ohne sie zu würdigen, nicht als ein »Trotzdem«-Beiwerk zu betrachten, kann man diesen Schau­spieler und diesen Mann nicht verstehen. Wenn man den Film aber gesehen hat, vergisst man sie nie mehr. In all den sanften Alters­rollen, dem guten Opa Piccolis, im melan­cho­li­schen Papst bei Nanni Moretti zum Beispiel, lugt der Barbar, der Affe im Menschen­ge­wand jederzeit hervor.

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Erst als er über 40 war, kam er zu seinen großen Rollen. Und als ob er etwas nach­zu­holen hätte, wollte er spielen, spielen, spielen bis ans Ende seines Lebens.
Es gibt keine wirk­li­chen Piccoli-Filme, und das nicht, weil er nicht vielem seinen Stempel aufge­drückt hätte, oder es hätte können. Sondern weil er sich mehr in deren Dienst gestellt hat. Ein viriler Typ und doch sensibel.

Seine Figuren haben etwas Zwin­gendes. In Piccolis Figuren gibt es immer mindes­tens zwei Piccolis. Ein expres­sives Selbst, das seine Umgebung erobert, sie sich unter­ordnet, eine Gewalt­sam­keit und Bruta­lität, die uner­träg­lich wäre, würde sie nicht gebrochen durch seine zweite verwund­bare Seite.

Diese zweite Seite scheint diejenige zu sein, die uns näher steht: empfindsam, enttäuscht, gebrochen, aber stark dabei und immer resistent.

Piccoli war in vieler Hinsicht eine Ausnahme. Über 70 Jahre über­spannt seine Karriere, über 170 Filme. Das fran­zö­si­sche Kino, so wie wir es kennen, ist auch ein Piccoli-Kino.

Geboren 1925, erlebte er schon als nicht mehr ganz junger Mensch die deutsche Besatzung, die in diesen Wochen vor genau 80 Jahren begann; er verbrachte seine Jugend, die Zeit der ersten Lieben, der ersten Rebel­lionen zwischen Flie­ger­an­griffen und Verfol­gung, zwischen Kolla­bo­ra­tion und Résis­tance. Gleich nach der Befreiung, 1945, der erste Film. 20 Jahre fast ohne große Folgen.
Die Helden waren andere.

Viel­leicht übersieht man bei den vielen Großen, mit denen er zusam­men­ar­bei­tete, bei Namen wie Jean-Luc Godard, Claude Sautet und Louis Malle, Alfred Hitchock nicht zu vergessen, aber, dass Michel Piccoli vor allem ein Buñuel-Schau­spieler ist, und das schon früh war. 1956 in Pesthauch des Dschun­gels und dann noch weitere vier Male. So viel hat er sonst nur noch mit Sautet gedreht, ausge­rechnet diesem ganz anderen.
Piccolis einmalige Mischung aus Eleganz und Barbarei passte extrem gut zu Buñuel. Die Gewalt­tä­tig­keit, die unter dem Smoking schlum­mert.

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Als poli­ti­scher Mensch war Piccoli viel­leicht ein bisschen naiv, also fanatisch an den falschen Stellen und zur falschen Zeit, als es alle waren. Viele verges­sene cheesy State­ments. Schau­spieler-Politik. Auch für die DEFA hat Piccoli gedreht: Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse.

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Milou en mai lehrte einen über Piccoli immerhin, dass jeder Mensch sein Alter hat. Manche brauchen lange, um es zu erreichen, andere leben lange über es hinaus. Piccoli ist darin schon auf lang­wei­lige Weise alt. Ein Zentrum der Passi­vität.
Danach drehte er keinen rele­vanten Film mehr, aber viele schöne Auftritte: Für Oliveira, für Ange­lo­poulos. Und ist Rivettes Die schöne Queru­lantin eigent­lich ein guter Film? Ich habe da so meine Zweifel. Könnte aber am Buch liegen.
Jetzt ist Piccoli mit 94 gestorben. Wir werden uns an einen erinnern, der spielen wollte bis zum Schluss. Und der letztlich immer hinter den Rollen, die er spielte, zurück­trat. Man könnte über Schau­spieler Schlech­teres sagen.

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Ein deutscher Film­re­gis­seur hat sich jetzt als erster Filme­ma­cher in Sachen Corona zu Wort gemeldet. Klarer­weise der schnellste und jüngste von allen, der gerade mal 88 Jahre junge Alexander Kluge.
Im Deutsch­land­funk sprach er über sein gemein­sames Buch, das er mit Ferdinand von Schirach in den letzten Wochen geschrieben hat. Neben der Frage nach der Verhält­nis­mäßig­keit von Einschrän­kungen und Opfern geht es darum, ob nach der Krise die Dinge überhaupt anders werden sollen. »In der Krise gibt es so etwas wie eine Sehnsucht, dass es doch eine bessere Welt gebe«, sagt Kluge.

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Warum kommt der substan­ti­ellste Grund­satz­bei­trag von einem 88-jährigen? Warum ist kein anderer aus der Film­branche bisher darauf gekommen, dass man die System­re­le­vanz des eigenen Schaffens am Besten dadurch belegen könnte, dass man etwas System­re­le­vantes tut? Ich meine jetzt nicht, im Kran­ken­haus aushelfen, oder Masken basteln, das können andere besser. Sondern denken, schreiben, filmen...
Was man vor allem jeden Morgen mit der Zeitung zum Frühstück bekommt, das ist irgend­eine Wort­mel­dung, in der es darum geht, dass man die Kultur bei den Rettungs­pa­keten doch nicht vergessen sollte. Geschenkt! Stimmt ja. Aber wie lang­weilig. Wie über­ra­schungslos – ausge­rechnet von Leuten, die die Kunst des Über­ra­schens wie keine zweite Gruppe beherr­schen sollten.

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Um ehrlich zu sein, habe ich den Verdacht, dass dieses Defizit vor allem daran liegt, dass die meisten Künstler dem eigenen Tun nicht trauen, sich selber nicht vertrauen, und an ihr eigenes Tun nicht mit dem notwen­digen Selbst­ver­trauen und der ange­mes­senen Hybris glauben, und sich selbst daher nicht für system­re­le­vant halten. Dass sie selber glauben: Ja, stimmt ja eigent­lich … Wer braucht schon Theater? Wer braucht schon Film? Wer liest schon Romane, will meine Bilder sehen, meine Musik hören?

Zum Beispiel bin ich mir auch nicht ganz sicher, ob es eigent­lich ein richtiges Signal ist, all diese ganzen Dinge kostenlos im Netz zu tun, so wie es zurzeit getan wird: Denn Kunst ist ja trotz allem, und ob relevant oder nicht, infla­ti­onär da. Aber kostenlos im Netz. Und was nichts kostet, was infla­ti­onär da ist, das ist eben nichts wert. Kunst-Verknap­pung wäre mögli­cher­weise die einzig ange­mes­sene Antwort auf die Ausgangs­be­schrän­kungen und den kultu­rellen Shutdown. Wenn die Menschen in ihren Wohnungen einge­sperrt sind, und das öffent­liche Leben fast auf Null herun­ter­ge­fahren wird – warum soll man den Menschen die Kunst dann hinter­her­tragen? Warum lässt man sie dann nicht mal in dieser Hinsicht hungern und darben?
Warum begnügt man sich mit der Rolle des Hofkünst­lers und Hofnarren, der das Volk unterhält und die schlimme Wirk­lich­keit in bunte Farben tunkt?
Wir degra­dieren uns damit selber. Und bekommen womöglich gerade das, was wir verdienen.
Weil wir zu anderem, besserem nicht in der Lage sind.

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Adorno schrieb mal: »Ernst ist das Leben und heiter die Kunst, sagte man. Besser wär’s umgekehrt!«

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Klar es geht auch ganz einfach darum, dass Künstler irgendwie Geld verdienen müssen. Und das kann man dann viel mehr schlecht als recht online. Aber man entwertet damit gleich­zeitig das eigene Tun. Und lässt bei den Menschen, bei den vielen, die nicht Kunst machen, die besten­falls unser Publikum sind, das Gefühl entstehen: Es geht ja auch so.. Wir brauchen die Kinos nicht, brauchen das Theater nicht, denn irgendwie kommt ja alles per Stream zu uns. Auch wenn Amazon keine Bücher mehr trans­por­tiert, dann kauft man sie eben als eBook. Filme gibt’s bei Netflix, Amazon, Mubi, Sky und allen anderen – wozu muss man da ins Kino? So gewöhnen wir uns an die Einsam­keit; so gewöhnen wir uns daran, wie Robinson Crusoe auf seiner Insel uns selbst genug zu sein, allein und verlassen auf Corona-Island, aber mit 5G in jeder Kokusnuss. Viel­leicht kommt Freitag und erlöst uns.

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Protest wäre auch nötig und eine ange­mes­sene Antwort. Aber nicht Protest für sich selber, und den eigenen Schre­ber­garten, und schon gar nicht Betteln für das eigene Säckel. Sondern Protest für das Allge­meine; für Schönheit und Freiheit. Für alles, was fehlt. Stell­ver­tre­tend für alle anderen. Für die ganze Gesell­schaft.

Alles leichter hinge­su­delt als getan, klar.

Trotzdem.

(to be continued)