23.04.2020
Cinema Moralia – Folge 215

Der sanfte Schwung der Kurven

Lanz
Hier wird noch versucht, etwas herauszubekommen, durch Reden: »Markus Lanz«
(Foto: ZDF / »Markus Lanz«)

Apokalyptiker und Infizierte: Zum aktuellen Verschwinden der Öffentlichkeit – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 215. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Die Nieder­lage akzep­tieren heißt den Sieg vorbe­reiten.«
Mao Tse-Tung

»Auf welcher Fakten­basis tun wir all das, was wir tun? Was, wenn wir uns geirrt haben?«
Markus Lanz

Wir lernen viel dieser Tage; wir wurden Virologen, dann Epide­mio­logen, wir machten einen Crashkurs in Volks­wirt­schaft, studieren inzwi­schen Statistik, Psycho­logie, Bildungs­so­zio­loge und Gesund­heits­wesen; als nächstes steht eine Ausbil­dung zum Hygie­niker an – denn: »Was fehlt, sind die Hygie­niker«, sagte Thea Dorn bei »Markus Lanz« – und meinte die Exper­ten­runden.

Ansonsten betrachten wir Kurven. Zunächst abge­flacht, gehen sie gerade nach unten. Das ist einer­seits schön, ande­rer­seits betrifft es auch die Kurven für Wirt­schafts­leis­tungen und Produk­tion, und wenn wir unsere Politiker hören, die erklären, die Kurve müsste die Nullebene treffen, dann wissen wir, dass das Kino da schon lange ange­kommen ist. Da die einzigen aufstei­genden Kurven einst­weilen gerade die der Arbeits­losen sowie der privaten und öffent­li­chen Schulden sind, darf man wohl fest­stellen, dass es an der Politik liegt und an der Gesell­schaft, die sie trägt, alle Kurven allmäh­lich in ein ange­mes­senes Verhältnis zu setzen.
Und sei es auch nur, um das Volk bei Laune zu halten und um das viel­ge­lobte deutsche Gesund­heits­system weiterhin bezahlen zu können.

Schließen ist leichter als öffnen, und dass viel­leicht ein bisschen schnell ein bisschen viel geschlossen wurde, dämmert allmäh­lich auch dem Letzten.

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Ein Hauch von Todes­trieb liegt über allem. Was gerade zerstört wird und dauerhaft zu verschwinden droht, ist Öffent­lich­keit. Weite Teile der Öffent­lich­keit – neben dem Elemen­taren wie den Begeg­nungen der Körper, die unter dem euphe­mis­tisch zum »social distancing« vernied­lichten Berüh­rungs­verbot erstarren, wie den Begeg­nungen der Blicke, die allein­ge­lassen von den Gesten des Gesichts, die hinter der grotesken Sach­lich­keit der Masken verschwinden, etwas ratlos wirken –, sind es vor allem die Plätze, die Bänke und Gärten, wo Menschen sich einfach arglos aufhalten und begegnen können, sich dem Zufall und dem Driften über­lassen können, ohne von Drohnen und Hubschrau­ber­ka­meras beob­achtet zu werden, ohne von Poli­zisten und ihren unge­be­tenen privaten Hilfs­she­riffs ange­spro­chen, aufge­scheucht und verwarnt zu werden. Dazu die Angst und Unsi­cher­heit, die vieles durch­zieht, weil sie politisch gewollt und unter­s­tützt wird, weil nicht auf Vertrauen, Selbst­be­wusst­sein und Sorg­lo­sig­keit (arglosen Freimut) gesetzt wird. Sondern auf Verbote, Vorschriften und eine frag­wür­dige Diszi­pli­nie­rung.
Der Staat wird zur Obrigkeit, der Bürger zum Untertan. Nur Öffent­lich­keit, also unkon­trol­lierter offener Austausch, unge­re­gelte Gesel­lig­keit und produk­tive Irri­ta­tionen durch Uner­war­tetes könnten das verhin­dern.

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Ein wesent­li­cher Bestand­teil solcher Öffent­lich­keit ist das Kino.

Auch das Kino ist gerade verschwunden, und droht, dauerhaft Schaden zu nehmen. Zwar gibt es opti­mis­ti­sche Stimmen: Der Produzent und Funk­ti­onär Martin Hagemann zitiert Umfragen, nach denen viele Menschen Lust haben, nach Ende des Shutdowns bald­mög­lichst ins Kino zu gehen. Hoffent­lich erinnern sie sich daran, falls es tatsäch­lich bis Ende August dauert, bevor Kinos wieder öffnen dürfen. Und hoffent­lich stehen dann noch irgendwo Kinos.

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Es gibt Studien, wie die der Kino­mar­ke­ting-Agentur »S&L«, die mit dem schönen Titel »Sehnsucht Kino« die Loyalität der Kino­gänger nach der Corona-Krise nach­weisen will.
Die Präambel macht schon klar, wohin es geht: »In früheren wirt­schaft­li­chen Krisen­zeiten konnte das Kino als Ort der Ablenkung und Reali­täts­flucht oft von den schweren Zeiten profi­tieren.« Eine (relative) Norma­li­sie­rung sollte sich laut der Umfra­ge­er­geb­nisse innerhalb von zwei Monaten nach Wiede­r­eröff­nung herstellen.

Befragt wurden 865 deutsche »Kino­gänger«. Man wüsste natürlich gern, wie oft diese ins Kino gehen, wieviel Prozent sie an der Gesamt­be­völ­ke­rung ausmachen.

Weitere Infor­ma­tionen hier.

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Thomas Negele, Kino­be­treiber und Chef der SPIO, des Dach­ver­bands der Film­wirt­schaft, rechnete jetzt vor, dass die Film­wirt­schaft kurz­fristig 563,5 Millionen Euro braucht, um die Corona-Krise zu über­stehen.

Zur Begrün­dung gab er der FAZ ein Interview. Dort erhebt er die sehr einleuch­tende Forderung nach einer Bestands­ga­rantie der Film­kultur der Vor-Corona-Zeit: »Die Regierung muss dafür Sorge tragen, dass dieser Corona-Blackout für die Film­wirt­schaft kosten­neu­tral verläuft. Denn wenn viele Betriebe schließen müssen, nützt auch das beste Konjunk­tur­pro­gramm nichts mehr.«

Zugleich erweckt er zumindest den Eindruck, vor allem eine sehr bestimmte Film­kultur im Blick zu haben: »Eine weitere wichtige Voraus­set­zung für die Restart-Phase sind aber attrak­tive Kinofilme. Solche Filme wie Die Känguru-Chroniken, der gerade dabei war, eine Million Zuschauer zu erreichen und noch nicht abge­spielt ist, benötigen wir dann unbedingt. Deshalb erwarten die Kinos von den Verlei­hern schnell einen Überblick, welche Filme zur Verfügung stehen. Kinos benötigen jeden Monat zwei Block­buster, damit sie die anderen Filme mitziehen.«

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Vom Autokino wird keine Rettung kommen, auch wenn es derzeit eine Renais­sance erlebt. Davon gibt es aller­dings nur ein gutes Dutzend. In der Süddeut­schen Zeitung gibt sich der Essener Kino­be­treiber Ansgar Esch opti­mis­tisch: »Viel­leicht schadet Corona dem Kino insgesamt gar nicht, weil die Leute am Ende mögli­cher­weise eine gewisse Sättigung empfinden, was Streaming innerhalb der eigenen vier Wände angeht.«

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Die Kostenlos-Menta­lität mancher (!) in allen (!) Bereichen der Gesell­schaft ist ein großes Problem. Leider wird sie mitunter auch noch durch öffent­liche Insti­tu­tionen gefördert, im Bereich der Kinos zur Zeit beispiels­weise durch das Berliner Arsenal. Dieses Kino, das neben zwei Sälen auch einen eigenen Verleih hat, ist komplett öffent­lich finan­ziert und hat das Glück, im Gegensatz zu vielen anderen schönen Insti­tu­tionen in seinem Bestand vorerst unge­fährdet zu sein.

Jetzt stellen sie unter dem Namen »Arsenal 3«, der den Eindruck erweckt, es handle sich um eine Art drittes Kino, auch jede Woche kosten­lose Film-Kunst in Netz. So schön das auf den ersten Blick wirkt, so sehr wird es innerhalb der Branche, von mir bekannten Programm­kinos, Verlei­hern und Filme­ma­chern, scharf kriti­siert. Denn das Angebot kosten­loser Filme sugge­riert, dass Kino keine Arbeit macht und nichts kostet. Das bedient die ohnehin gras­sie­rende, in Corona-Zeiten zuneh­mende Kostenlos-Menta­lität. Außerdem werden hier Kunst und Rechte einfach verschenkt. Und wir wissen ja: Was man verschenkt, ist nichts wert.

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Die Aktion des Arsenal ist aber ein größeres, auch kultur­po­li­ti­sches Problem: Es macht allen anderen Angeboten, die es gerade haufen­weise gibt, und die direkt den weniger geför­derten Kinos und Verlei­hern zugute kommen, unnötig Konkur­renz. Denn das Arsenal könnte es sich am ehesten leisten, einfach mal dicht zu haben.

Der inhalt­liche Punkt ist glasklar: Eine öffent­lich geför­derte Insti­tu­tion macht mit kosten­losen Angeboten den prekären, privaten Insti­tu­tionen und ihren Geld kostenden Angeboten Konkur­renz. Für öffent­lich durch­ge­för­derte Einrich­tungen mit sicheren Stellen ist es leicht, Inhalte Dritter zu verschenken, für private Unter­nehmer aber unmöglich.
Wir wollen mal hoffen, dass das Arsenal immerhin alle Streaming-Rechte abgeklärt und zu Markt­preisen ange­messen bezahlt hat.

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Vor dem Virus habe ich überhaupt keine Angst. Wovor ich Angst habe, ist die Angst der Leute. Davor, wie eine Gesell­schaft sich verrückt macht.

Dass öffent­lich-recht­liche Sender in den Panik-Modus umschalten und selbst einen Programm-Ausnah­me­zu­stand aus perma­nenten Sonder­sen­dungen etablieren, anstatt wenigs­tens in ihrem Programm Norma­lität, und das heißt dann auch Vielfalt und Diver­sität, weiter­zu­führen, ist traurig. Es ist auch erschüt­ternd, weil es den Ausnah­me­fall in einen Normal­fall überführt und auf Dauer stellt.

Unsere Aufgabe als Jour­na­listen, erst recht Kultur­jour­na­listen, besteht darin, Orien­tie­rung zu liefern, einzu­ordnen, zu bewerten, die Hysterie, den Dampf, die Anspan­nung heraus­zu­nehmen. Gelas­sen­heit, skep­ti­sche Vernunft muss unsere Haltung sein.
Die Aufgabe ist nicht, die fünfte Variante einer Merkel-Rede zu publi­zieren, sondern da nach­zu­fragen, wo Nach­fragen nötig sind. Und da zu kriti­sieren, wo es viel­leicht Gründe gibt, zu kriti­sieren. Die Aufgabe ist die, das Haar in der Suppe zu finden, und nicht die, der Bevöl­ke­rung zu erklären, warum die längst miss­glückte Suppe es doch viel­leicht wert ist, getrunken zu werden.

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Medi­en­ex­perten üben scharfe Kritik an ARD und ZDF. Es wurde auch Zeit! In einem Beitrag für epd-Medien übt der renom­mierte Medi­en­wis­sen­schaftler Otfried Jarren Kritik an der Bericht­erstat­tung der Öffent­lich-Recht­li­chen: »Im Krisen­modus« heißt sein überaus lesens­werter Artikel über das öffent­lich-recht­liche Fernsehen in Zeiten von Corona.
Es ist ein ausge­zeich­neter Text, einer der aller­besten, die seit Beginn der Corona-Zeiten über das Virus, seine Bekämp­fung und die Wirkung von beidem auf die Gesell­schaft geschrieben wurden.

Jarren warnt vor »System­jour­na­lismus« und einer beson­deren Form der »Hofbe­richt­erstat­tung«. Er will Aufklärung, Kritik, ein besseres Fernsehen.

»Das Fernsehen macht … die Krisen­ma­nager, jeden Abend aufs Neue. Der Fern­seh­jour­na­lismus dringt sichtlich darauf, fordert Führung wie Klarheit ein, bewertet die Perfor­mance.«

Alles werde sofort und sogleich zur Chefsache erklärt oder gemacht. Damit unter­s­tütze der Rundfunk die Regie­renden zu Lasten der Oppo­si­tion. Die Regie­renden sähen in der Krise ihre Chance. »Deshalb wird auf die Karte Krise gesetzt, Entschlos­sen­heit im Kampf gegen den Feind insze­niert, um Wahlen zu gewinnen. Die Pandemie wird sogar zum Krieg stili­siert oder als Kampf bezeichnet, es wird Rettung verspro­chen, so mit der großen Geld­ka­none. Vor allem sollen andere Regeln gelten. Es geht um Deutungs­macht, Führungs­an­spruch, um die zukünf­tigen Macht­po­si­tionen.«

Der Kreis der Experten sei zu klein, die immer­glei­chen Politiker wanderten von einer Talkrunde zur nächsten. Wem geht es wie mir? Ich möchte andere Gesichter sehen, wenn sie schon dieselben Sachen sagen, und die Talk­mas­te­rinnen plus Master Markus Lanz immer die ähnlichen Fragen stellen. Ist schon ok, gerade Lanz, den immer noch zu viele für ein Leicht­ge­wicht halten, ist der beste, ernst­haf­teste Nach­frager des deutschen Fern­se­hens. Allen­falls Maybrit Illner kommt da gele­gent­lich ran. Die ARD? Kann man vergessen!
Nur State­ments, aber keine Debatte zwischen Exper­tinnen und Experten. Kein Streit. In der Krise werden die Reihen fest geschlossen.

Oft zeigen die Medien einen ähnlichen wohl­mei­nenden Pater­na­lismus wie die Regierung, einen Pater­na­lismus, der es im Zwei­fels­fall besser weiß als die Bürger und sie deshalb gern ein bisschen mani­pu­liert – zu ihrem Besten natürlich. Ähnlich wie Kinder­er­zie­hung.

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»Ignoranz«, »lernun­fähig«, »die Akteure lern­un­willig« – so beschreibt es Jarren. Darum »müssen die Signale, die nötigen Irri­ta­tionen von außen kommen. Von außen, dort sind Medien und der Jour­na­lismus verortet. Der Jour­na­lismus muss aufbre­chen – und nicht neue (Fernseh-)Stars aufbauen.«

Zugleich dege­ne­riert die Form des Fern­se­hens: »Alles ist deshalb jetzt, nun, sofort, wir unter­bre­chen. Ständige Sonder­sen­dungen – ab jetzt für Monate?«

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Zu alldem gehört auch die Ästhetik. Etwa die albernen Cello­phan­hüllen über den Mikro­fonen und die staats­tra­genden Nach­rich­ten­spre­cher, die verkünden, wir müssen alle dies und das tun.
Es ist Ideologie, wenn die »Kultur­zeit«-Mode­ra­torin sagt: »Wie wird er aussehen, unser neuer Alltag?« Dabei ist es kein Alltag, es ist Ausnah­me­zu­stand, den man auch nicht als Alltag verkaufen muss.

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Was sollen Medien tun? In Zeiten der Pandemie dominiere die Exekutive. Diese Dominanz einer einzigen Gewalt des demo­kra­ti­schen Staates sei in Ausnah­me­zeiten wohl unver­meid­lich. »Das erfordert von den Medien und vom Jour­na­lismus ein Höchstmaß an Acht­sam­keit, Vorsicht, Zurück­hal­tung – und Distanz.«
In einer unklaren, offenen Situation gehe es mehr denn je um »Weitsicht …, Analyse, Kritik und Kontrolle. Es geht um Aufklärung, um die Prüfung von behaup­teten Sach­ver­halten, Annahmen, Prämissen wie die eigen­s­tän­dige Abschät­zung der Folgen poli­ti­scher Maßnahmen. Exekutiv- und Exper­ten­voten bedürfen der inten­siven Prüfung und Diskus­sion.«

»Der öffent­liche Rundfunk ist eine unab­hän­gige gesell­schaft­liche Insti­tu­tion. Unab­hän­gig­keit und Kompetenz sind entschei­dende Faktoren, wenn er nach diesen turbu­lenten Phasen als relevant erachtet werden möchte. Er hat das Potenzial, dies nun zu zeigen.«

»Erst am Ende der Pande­mie­zeit wird Bilanz gezogen.«

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Jarren steht mit seiner Kritik nicht allein da. Auch andere Fachleute üben Kritik. Die Medi­en­jour­na­listin Vera Linß forderte im DLF, die Themen Über­wa­chung und Daten­schutz im Zusam­men­hang mit den Maßnahmen der Regierung stärker in den Fokus zu nehmen. Viele Jour­na­listen, so Linß, trans­por­tieren die Krisen­stra­tegie der Bundes­re­gie­rung weit­ge­hend kritiklos. Diese »Art Service-Jour­na­lismus« sei auch in Krisen­zeiten nicht die Aufgabe der Medien.

In einem Beitrag für das Portal »Über­me­dien«, auf den wir gesondert zu sprechen kommen, beschreibt Andrej Reisin den öffent­li­chen Rundfunk der Corona-Gegenwart als verlän­gerten Arm der Regierung. Man insze­niere Kampagnen à la »Wir vs. Virus«. Reisin kriti­siert vor allem das Ausbleiben einer kriti­schen Bericht­erstat­tung und einer Debatte über die Maßnahmen der Regierung.

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Wie soll es weiter­gehen in diesem Selbst­zer­störungs­taumel unserer Gesell­schaft? Ist das alles realis­tisch ange­sichts der Tatsache, dass ein Prozent der Bevöl­ke­rung vom Corona-Virus infiziert ist, dass also einer­seits 99 der 100 Menschen, die uns öffent­lich begegnen, grund­sätz­lich unge­fähr­lich sind, und der Hundertste auch, wenn wir uns ein bisschen vernünftig verhalten und nicht gerade Pech haben? Und ange­sichts der Tatsache, dass es in diesem Tempo noch drei Jahre dauert, bis wir uns alle infiziert haben, was ja das letzte Ziel aller Maßnahmen ist – wie gern vergessen wird, auch weil es nicht opportun scheint, das jetzt zu kommu­ni­zieren.

(to be continued)